Melinda im Gulliverland

Große Kopfhörer über die Ohren gestülpt, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen und einen großen Einkaufskarren vor sich her schiebend, spaziert ein Mann, bekleidet mit schwarzen Gummistiefeln, Shorts und gelber Outdoorjacke, durch die Regale eines Baumarktes und lädt seinen Wagen voll und voller. Die Ansage, dass der Laden in fünf Minuten geschlossen werde, hört er nicht. Er hört Musik. Als er bezahlen will – nachdem er unter fürchterlichen Verrenkungen in der unerlaubten, weil schon inventarisierten Zone eine Klobürste geholt hat –, wird er auf einmal zum Betreuer eines kleinen, nur arabisch sprechenden Mädchens. Er sei von der Polizei. Der Versuch, das Mädchen zu seinem vermeintlichen Vater ins Hotel jenseits des Parkplatzes zurückzubringen, mündet nach einer Schlägerei in eine dramatische Flucht. Mann und Mädchen finden sich in einer Hütte im Gulliversland, einem alten Spielplatz im Wald wieder. Drei schwarz gekleideten Araber mit Pistolen und einem Geländewagen auf den Fersen. Natürlich trifft irgendwann Hilfe ein, die Verfolger flüchten und Jens und das Mädchen sind in Sicherheit. Melinda hat sofort Vertrauen zu Jens gefasst. Er ist der einzige, den sie mit einem Lächeln belohnt, für alle anderen ist sie unnahbar und bewahrt ihr Geheimnis für sich.
So also gerät Jens, noch bevor er seinen Dienst antreten kann, eines harmlosen Samstagnachmittags mitten in einen äußerst dramatischen Fall, bei dem es um Drogenschmuggel in den Bäuchen afrikanischer Kinder geht. Die arabisch sprechenden Drahtzieher aus einem Phantasieland verstecken sich hinter diplomatischen Ämtern und sind, bis auf den Dolmetscher, dank ihrer Ämter unangreifbar. Die Mordermittlungen – das Opfer ist die angebliche Mutter Melindas – laufen beinahe nebenher. Zu sehr sind alle, vor allem die tussige Staatsanwältin, mit den diplomatischen Problemen beschäftigt.
Jens ist also der Neue. Der Neue, für den Lisa am Freitagabend versucht, das Büro, das sie ab nächster Woche mit ihm teilen wird, ein bisschen wohnlicher einzurichten. Wir sehen sie in einer der ersten Szenen des gestrigen Saarbrücker Tatortes Melinda, wie sie den Schreibtisch hin- und herschiebt und so die beste Arbeitsposition sucht. Kollege Horst schaut zu und rät zu einer Position mit Blickkontakt. Fast identisch wiederholt sich die Szene Tage später. Doch diesmal ist es Jens, der den Tisch hin- und herschiebt, kaum dass er das neue Büro betreten hat. Zwar trägt er nun weder Shorts noch Gummistiefel, doch seine indischen Wickelhosen sind auch nicht ohne. Er bringt eine Topfpflanze für den Schreibtisch und eine Klangharfe mit, die ihren Platz später über der Türe findet und Besuche ankündigt. Wie Lisa schiebt Jens nun den Tisch von da nach dort. Erneut fällt der Tipp: Wie wäre es mit Blickkontakt?
Es ist weniger der Plot dieser Geschichte an sich, der diesen Tatort zu einem Highlight am Tatort-Himmel macht, sondern die Besetzung. Und die Umsetzung. Ein bisschen muss ich an die Münster-Tatorte denken, doch Jens ist besser. Er ist zwar zum einen eine Lachnummer – was ihm am Arsch vorbeigeht, denn er weiß genau, was er kann und was er will –, zum andern aber ein messerscharf denkender, unkonventionell handelnder und sich auf seine Intuition verlassender Kriminalist. Einmalig die Szene im Pausenraum, wo er die Yogaübung Baum praktiziert, die beim Zentrieren hilft und auf einmal – mit einem lauten Aufschrei die Übung auflösend – das Kennzeichen des Verfolgerwagens herunterleiert. Alles toppt jedoch jene Szene, wo er mit seinem roten Roller an einer roten Ampel das Diplomatenauto einholt, worin Melinda sitzt. Er jagt sie ihrem angeblichen Vater ab und setzt sich mit ihr in das nebenan stehende Auto einer älteren Dame. Schon bald hat Jens diese von seiner Rettungsmission überzeugt und so versteckt sie die beiden in ihrem Haus. Margot Müller ist definitiv eine Seelenverwandte von Jens. Sie hat ihr Leben lang darauf gewartet, mal live in einem Krimi mitzuwirken. Mit viel Gespür schaffen es die beiden, Melina ihre Geschichte zu entlocken. Nicht zuletzt, weil Melinda von Anfang an Vertrauen zu Jens gefasst hat und eine begnadete Zeichnerin ist.
Einfach nur schräg ist die Beinahe-Schlussszene, das Showdown an der deutsch-französischen Grenze, wo der Dolmetscher wegen Mordes verhaftet wird. Wie Jens den einen der Araber, jenen der deutsch spricht, in die Zange nimmt, geht unter die Haut und zieht mir zugleich die Mundwinkel hoch.
Wenn du Melinda nicht wohlbehalten zurückbringt, komme ich zu dir. Ich weiß, wo du wohnst. Ich weiß, wo deine Familie wohnt. Ich werde kommen.
Dann übergibt er Melinda sein Handy. Nach langen Reisestunden ruft sie ihn schließlich an. Happy End. Schluss. Punkt.
Zugegeben, die Puristinnen und Traditionalisten werden aufschreien. Dieser Tatort ist anders. Dieser Tatort ist schräg. Aber dieser Tatort, trotz der dramatischen Ereignisse, die er transportiert, hat offensichtlich Spaß gemacht hat. Jedenfalls den Schauspielerinnen, Schauspielern und mir. Ich stelle mir vor, wie der eine oder andere Gag erst beim Spielen entstanden ist. Jens’ Bürokollegin Lisa Marx, die am Anfang als coole Superwoman drauf war, schüttelt zwar auch am Schluss noch über Jens, der sich ein paar Disziplinarverfahren aufgehalst hat (und das noch bevor er offiziell angefangen hat), ein klein bisschen den Kopf, doch sie hat verstanden, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Ob bis zur Pension, wird sich allerdings zeigen.
Ich freue mich bereits auf die Fortsetzung aus Saarbrücken!
(Rezension des Fernsehkrimis Tatort vom 27. Januar 2013, Melinda, Drehort: Saarbrücken)
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10 Gedanken zu „Melinda im Gulliverland“

  1. Puh, endlich mal eine, die diesen Tatort auch gut fand! Danke, soso. Ich habe fast ausnahmslos vernichtende Kritiken darüber gelesen, die Zuschauer waren gelangweilt und genervt, sprachen von unterirdischem Niveau, schlimmer als Dschungelcamp… Ich dagegen war die ganze Zeit hellwach und gespannt (obwohl ich den Dolmetscher auch schon länger in Verdacht hatte, egal). Richtig gut unterhalten fühlte ich mich. Aber so ein Tatort ist natürlich nur etwas für Menschen, die das Schräg-Skurrile lieben (wie den Münsteraner Tatort oder früher den österreichischen Kottan). Jens und Margot Müller – einfach genial, sowohl Rolle als auch schauspielerische Leistung, köstlich!
    Ich habe aber doch eine kritische Anmerkung: Diese Lisa Marx empfand ich als zu überzeichnet cool (müssen Gegenparts so krass ausfallen?) und die Staatsanwältin ging gar nicht – unmögliche Figur, jenseits des Schrägen, einfach nur vollkommen abwegig, während man Jens die Figur und Rolle durchaus abnehmen konnte.

  2. PS: Klar, einige inhaltliche Unstimmigkeiten gab es schon, aber die gibt es bei den Münsteranern ja auch… (DIE Staatsanwältin aus Münster ist natürlich auch überzeichnet, aber noch “vorstellbar”, die find ich klasse, aber für die aus Saarbrücken sollten sie bitte das Drehbuch umschreiben)… Mir macht das nicht soooviel, kommt immer auf das Gesamtergebnis an. Und das gefiel mir hier trotz der Mängel.

    1. liebe rotewelt, diesmal habe ich ganz absichtlich keine rezi gelesen. irgendwie war ich mir fast sicher, dass die mehrheit den film nicht so toll fand. und natürlich gibt es platte stellen und zu sehr überzeichnete (die staatsanwältin, du sagst es!). auch lisa fand ich am anfang doof, doch die figuren haben entwicklungspotential. bei der staatsanwältin weiß ich zwar nicht welches, aber wer weiß?
      vermutlich muss man für solche filme das bizzare, schräge, nicht mainstreamige mögen …
      ich frag mich manchmal, was die mehrheit will.
      irgendlink und ich smsten während des filmes. ich zitiere ihn: “so schön langsam!”
      auch das mag ich. ein krimi muss nicht actiongeballer sein (je weniger desto lieber), sondern auf eine andere art thrillen. eben durch die charktere! hoffentlich machen die saarbrückerInnen weiter, trotz der kritiken!
      liebe grüße, soso

  3. Ja, klasse wars. Spannend ist der Sternchenknopf in der Mediathek. Dort kriegt der Tatort eine relativ schlechte Bewertung ABER: Es sind über zweitausend Stimmen, die sich da zu Wort melden. Das Zehnfache vom Herkömmlichen. Ein knallharter Aufreger (die Rechnung könnte so sein: von zweitausend Stimmen sind tausend Fünftserne gegen tausend Einstern; von zweihundert Stimmen bei Fünfsternbewertung wären es nur zweihundert Fünfsterne – eine Kunstbübchenrechnung?)
    Ich hätte übrigens die Chance, Frau Müller am Freitagabend persönlich kennen zu lernen, aber der werte Monsieur begibt sich nicht über Los, sondern direkt zur Liebsten, hach, seuftz 🙂

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