Man sollte Texte schreiben, solange sie noch warm sind, solange sie unter den Nägeln brennen und im Hirn herumtaumeln. Man sollte nichts anderes tun, bevor man sie nicht vom Hirn auf den Tisch gekotzt hat. Man sollte Texten den Raum geben, den sie brauchen, wie Pflanzen, und sie nicht stutzen. Keine Textbonsais (außer das gehöre zum Textkonzept und sei Absicht, natürlich). Aber bitte nicht diese doofe Reduktion auf notierte Stichwörter und in aller Schnelle beim Autofahren aufgenommene Nuschelsätze, die nachher kaum mehr Sinn ergeben oder bestenfalls noch eine Art Gerüst für die dahinter- und darunterliegenden Ideen sind. Man sollte immer aus dem Vollen schöpfen, wenn man einen Brunnen gefunden hat, und nie und nimmer an ihm vorbeilaufen. Man sollte innehalten, wo immer man von der Muse geküsst wird. Und jeden Kuss auskosten.
Ich habs verbummelt. Gestern. Auf der Autobahn wars. Irgendwo zwischen Colmar und Strasbourg auf dem Weg zum Liebsten. Angefangen hatte es mit dem Gedanken, wie unterschiedlich doch die Fahrstile sind. So unterschiedlich wie die Menschen. Ein Blogentwurf, mindestens drei Jahre als, fiel mir ein. Übertitelt mit Sag mir wie du fährst und ich sage dir wer du bist. Darunter seit Jahren ein leeres Feld. Vielleicht ein Stichwort oder zwei. Ein ungeschriebener Blogentwuf sozusagen. Einer von vielen. Gescheitert am Alltag, am schwarzen Loch in der Zeit, am Fluch verdampfter Motivation und an der Verflüchtigung einst konkreter Ideen. Nicht, dass ich solchen Eintagsfliegen allzu viel Gewicht beimessen würde, dennoch wurmt es mich zuweilen, anderen Dingen größere Prioritäten gegeben zu haben als der Muse. Ich will sie schließlich nicht vergraulen. Ich will sie locken und zum küssen einladen.
Gestern also, auf der Autobahn wars, hatte ich meinem iPhone einen einzigen Satz ins digitale Ohr geflüstert. Der perfekte Mensch. Ein Titel eher. Mehr nicht.
Heute erinnere ich mich knapp, dass ich die Idee hatte eine Kurzgeschichte über die Klonung des perfekten Menschen zu schreiben. Dachte nach, welche Schaften ihm eigen sein sollten, diesem Perfektling. Konkrete Sätze waren es. Witzig. Frech. Originell. Und heute? Knapp erinnere ich mich an ein paar Gedanken – ausgelöst durch rücksichtvolle und weniger rücksichtvolle Autofahrerinnen und -fahrer.
Das Profil des perfekten Menschen würde ich erstellen und dieses als Anforderungsprofil in einem Stelleninserat veröffentlichen, wer sich da wohl melden würde?
Rücksichtvoll sollte unser perfekter Mensch sein, aber um Gotteswillen nicht anbiedernd.
Gewissenhaft, aber um Gotteswillen nicht kleinlich.
Ehrlich, aber kein Moralapostel.
Gutherzig, aber nicht jemand, der sich von allen um den Finger wickeln lässt.
Sensibel, aber kein Mimöschen.
Klug, aber bitte kein Fachidiot.
Gefühlsintensiv, aber bitte nicht himmelhochjauchzendzutodebetrübt.
Umweltbewusst, aber bitte ohne Wollsocken und Birkenstocksandalen.
Humorvoll, aber keine Ulknudel.
Ironisch, aber nicht zynisch.
Etc.
Etc.
Etc.
Gibt es sie, die Frau? GIbt es ihn, diesen Mann? Und: möchte ich so sein, so „perfekt“?
So leben wir alle umgeben von Klischees und Vorurteilen (wer unter euch ohne Vorurteile sei, werfe den ersten Stein. Aber bitte auf deinen Bildschirm, nicht auf meinen!).
Wie oft ertappe ich mich, wie ich grinse, wenn ich meine läppischen Vorurteile bestätigt sehe. Ha, ich wusste es, murmle ich, wenn ich ein Auto überholen, dessen Fahrerin sich, wie gedacht, als eher älter herausstellt. Ich dachte es mir. So zögerlich, wie die den Lastwagen überholt und gleich wieder zurück auf die rechte Spur gewechselt ist.
Dabei weiß ich gar nichts. Wir alle sind nicht nur schwarz-weiß, nicht nur so oder so. Wie sind alle sowohl-als auch-als-eh-noch-viel-mehr.
Man kann, wie ich feststelle, abgekühlte Ideen auch aufwärmen. Bratpfanne, Holzofen, Mikrowelle ist der Muse zum Glück manchmal egal. Hauptsache wir tun es.