Eigentlich könnte alles so einfach, denkt Marlene Beckmann. Sie ist jung, klug, hübsch und beliebt. Und seit ein paar Jahren ist sie mit Jakob zusammen, der sie über alles liebt. Und sie ihn. Ja, wirklich, es geht ihr super. Jedenfalls könnte sie glücklich sein. Sollte sie sogar, denn vor einem knappen Jahr hat sie ihre Traumstelle gefunden. In einem jungem Traditionsunternehmen arbeitet sie siebzig Stunden die Woche und hofft darauf, nach ihrem einjährigen Volontariat eine Feststelle angeboten zu bekommen. Sie hätte es verdient, denn sie gibt alles. Sie lächelt. Sie nickt. Sie schuftet. Und in ihrer knappen Freizeit geht sie ins Fitnesszentrum, das mit ihrer Firma kooperiert. Und Yoga macht sie auch. Sie optimiert sich selbst. Und sie lächelt immer und sie sagt allen, die es hören wollen, wie toll es doch ist in dieser Firma zu arbeiten. Ja, endlich hat sie es geschafft. Schließlich hat sie ja damals auch die traumatische Trennung ihrer Eltern überlebt. Und den anschließenden schlimmen Absturz ihrer Mutter in dem Alkoholismus.
Um dem wachsenden Druck standhalten zu können, ruft sie ab und zu ihren Kumpel Ronny an. Er hat das eine oder andere Mittel, das hilft. Speed zum Wachwerden zum Beispiel, Kokain und anderes. Nein, kein Heroin. Natürlich nicht, sie ist schließlich kein Junkie. Sie hat ja alles im Griff, hat die volle Kontrolle. Sie funktioniert ganz wunderbar und lächelt auch dann noch, als ihr Chef Stefan ihr auch nach zehn Monaten noch immer nicht sagen kann, ob ihre Firma, die im Grunde völlig sinnlose Produkte vermarktet, eher Marlene oder doch besser Maya übernehmen wird, wenn das Volontariatsjahr der beiden um ist. Nach dem Gespräch ist ihr zum Heulen, doch sie knipst ein lächelndes Selfie im Fahrstuhl und schreibt dazu einen klugen Spruch. Hauptsache deep.
Marlene lächelt sogar noch, als ihre gemeinsam geplanten Ferien ins Wasser fallen und ihr Freund Jakob schließlich allein nach Teneriffa fliegt. Marlene wird in der Firma gebraucht. Marlene kann jetzt nicht weg. Marlene ist gefangen im Hamsterrad von Arbeit und Leistungsdruck.
Das ist an sich nichts Neues. Eher neu sind aber wohl die Methoden, mit denen heute die Ressourcen junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt auf Stromlinie gebracht werden. Anders als früher werden jetzt nicht mehr von außen Disziplin und Ordnung aufgedrückt; von außen wird heute nur noch die zu erreichende Form vorgegeben. Stichwort Selbstoptimierung. Den ganzen Rest erledigen die jungen Menschen heute selbst. Nein, auch Konkurrenzkampf ist nichts Neues. Und Ehrgeiz wird heute direkt aufs Handy geliefert. Du brauchst nur die richtige App, die dir täglich sagt, wie gut das Fitnesstraining und wie entspannend die Yogaübung wirkt. Also los! Bloß nicht schlappmachen, weiter, immer weiter, schließlich wolltest du es doch genau so.
Doch eines Morgens sagt Marlene einfach Nein. Zum Wecker. Zum Telefon. Bleibt im Bett liegen. Dröhnt sich zu. Genug. Erst einunddreißig Jahre alt hat sie sich bereits kaputtgeschuftet. Menschen wie Marlene erscheinen nicht auf Drogenstatistiken, Menschen wie Marlene bleiben kurz liegen, dann stehen sie wieder auf, dann machen sie weiter. Irgendwie. Als Marlenes Hausarzt, dem sie ihre Drogenabhängigkeit beichtet, ihr ein Rezept für ein Antidepressivum in die Hand drückt und ihre Krise mit banalen Worten kleinredet, weiß Marlene nicht, ob sie lachen oder weinen soll.
Kathrin Weßling schreibt in ihrem dritten Roman mit ihrer gnadenlosen Beobachtungsgabe und messerscharfen Sprache über eine Arbeitswelt, die durch fehlende Perspektiven glänzt, Menschen mit schönen Worten einlullt und jede, die rausfällt, sofort ersetzt. Weßling schreibt, wie dieser Zwang zur Arbeit ans sich selbst, diese sogenannten Selbstoptimierung, Druck auf eine ganze Generation junger Menschen ausübt und im Grunde weniger mit Selbstoptimierung als mit Manipulierbarkeit und Machbarkeit zu tun hat.
Weßling schreibt auch diesmal nicht über große Dramen, sondern darüber, wie jene Dinge, die die Menschen kaputt- und krankmachen, meist ganz klein und unscheinbar anfangen, fast unsichtbar sind und scheinbar banal. Ein Buch, das mich in seiner Alltäglichkeit fast umhaut und beim Lesen wehtut.
Das erste Buch von Kathrin Weßling habe ich damals hier vorgestellt: KLICK.