Am Anfang von Jon Cohens Märchenroman sterben zwei Menschen. Doch keine Angst, trotz des traurigen Auftaktes ist Die wundersame Mission des Harry Crane keine traurige Geschichte. Märchen, Heldenepos, Weisheitsgeschichte? Auf alle Fälle lesenswert!
Wie schon oft finde ich persönlich den deutschen Titel übrigens ziemlich schlecht gewählt, zumal ich diesen Bandwurm-Titel-Trend eh nicht mag. Im Original heißt dieser Roman schlicht Harry’s Trees, was der Sache schon näher kommt. Harrys Bäume. Als Titel hätte mir auch Orianas Wald gut gefallen.
Was wäre, wenn über Nacht Wunder geschähen und die Probleme, die uns am meisten belasten, sich von selbst oder durch Zauberfeenhand gelöst hätten und unsere Welt beim Aufstehen eine andere wäre? Was wäre am Morgen anders?
Harry Cranes Antwort wäre vermutlich ziemlich einfach: Seine Zauberfee hätte über Nacht die Uhr zurückgedreht. So hätte er dieses eine Los nicht gekauft und seine Frau nicht an dieser gefährlichen Straßenecke warten lassen. Stattdessen wäre er mit Beth, seiner großen Liebe, wie geplant schnurstracks ins Kino gegangen. Der tödliche Unfall wäre nicht geschehen und Beth noch am Leben. Auch die zehnjährige Oriana müsste vermutlich nicht lange überlegen: Ihr wunderbarer Vater Dean wäre nicht gestorben.
So aber ist geschehen, was geschehen ist. Kurzum: wir brauchen ein neues Wunder. Harrys Wunder geschieht, als er einen Anruf von seinem Anwalt bekommt. Die Baufirma, die Beths Tod zu verantworten hat, zahlt sieben Millionen Schadenersatz. Geld allerdings, das Harry gar nicht will. Nur seinem großen Bruder Wolf zuliebe ist er mit zum Anwalt, der schließlich eine Schadenersatzklage angeleiert hatte. Harry will nicht das Geld, Harry will Beth. Die Schuld, die er sich an Beths Tod gibt, ist im Laufe des seither vergangenen Jahres nicht kleiner geworden. Nach dem anwältlichen Anruf setzt er sich darum in sein Auto und fährt los. Mitten in die Wälder Pennsylvanias, die erbisher tagtäglich von Berufs wegen verwaltet hat. Harry will nicht mehr leben. Mit Blutgeld schon gar nicht.
Derweilen ist Oriana davon überzeugt, dass ihr Vater Dean nicht tot ist, sondern sich in ein geflügeltes Tier verwandelt hat. Darum legt sie ihm im Wald seine Lieblingsleckereien hin. Überhaupt ist sie ganz oft im Wald. Mit oder ohne Bücher, die sie sich bei der betagten Bibliothekarin Olive in der Stadtbibliothek holt. Von ihr hat sie auch das handgeschriebene Märchenbuch des alten Grum, eine Geschichte, die sie schon viele Male gelesen hat. Ausgerechnet dieses Buch aber hat sie verloren. Vermutlich im Wald, an einem ihrer vielen schöne Leseplätze.
Oriana, die mit ihrer Mutter Amanda nach dem verlorenen Buch sucht, findet Harry, der beim Versuch, sich das Leben zu nehmen, von einer maroden Mauer gestürzt ist. Drei Menschen, die um einen geliebten Menschen trauern, lernen sich kennen – der Beginn einer großen Seelenfreundschaft. Amanda bietet Harry an, seine Beule zu verarzten, ist sie doch von Beruf Krankenschwester und von Natur aus sehr pragmatisch, ganz anders als ihre belesene und von Märchen besessene Tochter.
So kommt es, dass Harry für drei Wochen ins Baumhaus der Familie einzieht, um die Bäume zu zählen. Als Forstbeamter kommt ihm diese Ausrede gerade recht. Vielleicht kann er in dieser Zeit ja ein bisschen Frieden finden? Waren Wälder, waren Bäume denn nicht schon immer – schon als er ein Kind war –, seine große Leidenschaft gewesen? Auf ihren Ästen und in ihrem Blätterwerk hatte er sich versteckt, wenn ihn sein großer Bruder Wolf piesacken wollte oder die Eltern sich einmal mehr in die Haare geraten waren.
Schließlich beginnt er, den Wald und dessen Bäume zu erkunden und zu erklettern. Immer ein bisschen höhere. Immer ein bisschen mehr kommt Harry wieder zu Kräften. Die sich entwickelnde Freundschaft zwischen ihm und Oriana weicht allmählich Orianas Fixierung auf die Rückkehr ihres Vaters als geflügeltes Wesen auf. Gemeinsam wollen die beiden jetzt die Geschichte des alten Grum in die Wirklichkeit holen, der sein Glück gefunden hat, nachdem er all seine Schätze verschenkt hat. Harry fühlt sich in den Wäldern Pennsylvanias je länger je sicherer. Auch vor seinem Bruder Wolf, der einen Anteil von Harrys Schatz für sich beansprucht. Derweilen schlägt sich Amanda mit ihren Verehrern herum, die nach ihrem Trauerjahr anfangen, mit den Hufen zu scharren. Doch dann geschehen Dinge, mit denen niemand gerechnet hat.
Die Geschichte entwickelt nach und nach eine ihr eigene Dynamik, die sowohl märchenhaft als auch lebensnah ist. Jon Cohen webt eine weise und phantasievolle Geschichte, von der ich am Schluss nicht weiß, ob sie Märchen, Heldenepos, Weisheitsgeschichte, Liebesroman, Coming of Age-Geschichte oder Feelgood-Roman ist. Nun – sie ist all das. Und noch viel mehr. Liebevoll und warmherzig geschrieben ist sie pure Medizin für Menschen, die Bäume lieben, gerne teilen, gerne träumen und die Hoffnung auf ein menschlicheres Miteinander nicht aufgeben wollen.
Herzlichen Dank an den Suhrkamp-Verlag für das Rezensionsexemplar.
Jon Cohen | Die wundersame Mission des Harry Crane – Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Kranefeld
Erschienen: 02.10.2018
insel taschenbuch 4662 | Klappenbroschur, 536 Seiten
ISBN: 978-3-458-36362-0
Auch als eBook erhältlich
D: 15,95 € | A: 16,50 € | CH: 22,90 sFr