Von der ersten Seite des Buches an ringe ich darum zu verstehen. Aber ist, so frage ich mich, Verstehen überhaupt möglich oder ist dieser Wunsch vielleicht – hier und allgemein – eine Anmaßung? Geht es denn für mich als Leserin überhaupt darum, zu verstehen, was Hannah C. Rosenblatt in ihrem Buch ’aufgeschrieben’ aufgeschrieben hat?

Hannah C. Rosenblatt ist eine junge nicht binäre Person mit Kindheitserfahrungen im Bereich organisierter sexualisierter Gewalt. Nachdem sie_r diesen Alltag aus Bedrohung und Ausbeutung endlich verlassen hatte, war sie_r in ein Hilfesystem geraten, das nicht nur half, sondern auch behinderte. Zu dieser Zeit war sie_r bereits viele, eine Traumafolge. Ihnen wurde eine DIS, also eine dissoziative Identitätsstörung, diagnostiziert, eine dissoziative Identitätsstruktur. Wie genau das aussieht und wie es sich anfühlt, kann nicht mir nicht wirklich vorstellen. Darum zweifelte ich schon sehr bald an meinem Anspruch, Hannah C. Rosenblatts Buch mit einer Besprechung auch nur annähernd gerecht werden zu können. Als Leserin fühlte ich mich immer wieder als Voyeurin. Und war zugleich eben so oft von der Schönheit der Texte tief berührt. Verwirrt auch und immer wieder neben mir, atemlos, erschüttert.
Obwohl der kleine Band nur 96 Seiten dick ist, brauchte ich lange, um ihn zu Ende zu lesen. Manches Lesen tut weh. Dieses Lesen hier, weil in den Texten die erlebte Gewalt thematisiert wird. Mal subtil mal konkret. Obwohl das Wort Gewalt nicht oft vorkommt, wird sicht- und fühlbar, was Gewalt an einem Kind bewirkt. Bewirkt? Ob dies das richtige Wort ist für das, was ich meine?
Auch das macht dieser Text mit mir. Ich schaue genauer hin. Ich betrachte Wörter, ich betrachte Begriffe aus einer anderen Perspektive. Sie haben neue Farben, neue Gewichte bekommen.
Hannah Rosenblatts Texte läsen sich, würde ich nur die Oberfläche betrachten, wie Momentaufnahmen aus zusammenhangslos scheinenden Dialogen und Monologen. Doch der erste Blick täuscht. Jedes Gespräch erinnert mich an ein Ringen um Klarheit, an ein Balancieren auf einem dünnen Seil.
Sind es die unterschiedlichen Ichs der Autorin, die da miteinander sprechen oder sind es Personen aus Fleisch und Blut, die da mit der Autorin am Küchentisch sitzen? In der Buchwerbung steht: ’Hannah C. Rosenblatt konnte nur aufschreiben, was sie ihren Eltern zu sagen hat.’
Ich nenne es für mich ein Kammerspiel, wobei sich der Wortteil ’-spiel’ ganz und gar falsch anfühlt. Wie begrenzt wir doch mit unseren Ausdrücken sind. Bestenfalls die Lücken taugen. Womöglich sind auch sie so etwas wie Protagonistinnen in Rosenblatts Texten?
Ich springe beim Lesen in meinen eigenen Innenräumen hin und her und kaue an einzelnen Brocken herum. Schwer verdauliche Kost. Aber weggucken zählt nicht. Und ich will das lesen.
Es geht um Vertrauen, es »geht um Vertrauen in eine Welt, der ich maximal entfremdet bin«, lese ich auf Seite 51. Ich nicke, denn manches verstehe ich. Verstehe ich jedenfalls irgendwie, auf meine Weise. Die gleichen Wörter, die in das eine bedeuten, bedeuten für die Rosenblatts womöglich etwas ganz anderes, vielleicht ähnlich, niemals gleich. Manchmal maximal entfremdet. Ja, das resoniert in mir. Wie Echokammern, geht es mir durch den Kopf. Wie Echos aus der Vergangenheit klingen Rosenblatts Gespräche in mir nach und hallen weiter. Und machen etwas mit mir.
Ist das hier Lyrik, Poesie, Essay?, frage ich mich zuweilen. Novelle, wie es auf dem Buch steht, passt aus meiner Sicht nur bedingt. So oder so: Hannah C. Rosenblatts Texte passen in keine Schublade.
Jeder Satz wie ein fließender Bach, ein Fluss, ein Turm. Etwas Geschaffenes, etwas Geschafftes, etwas Abgetrotztes – nicht künstlich, umso künstlerischer. Immer so, als wäre jedes Wort dort, wo es steht, genauso gewachsen. Wie ein Baum, der zu wenig Wasser bekommen oder nicht genug Platz hatte, und kaum Erde um die Wurzeln. Und dennoch ist er gewachsen. Allem zum Trotz ist er sogar schön gewachsen.
Glitzer auf Scheiße? Wären diese Texte und die Gründe, sie zu schreiben, nicht so scheiße, wäre das alles hier buchstäblich und wortwörtlich wunderschön. Ja, dieses Buch hier in meiner Hand ist wunderschön. Leinengebunden, ein haptisches Hach-Erlebnis. Schön und scheiße – so nahe beieinander. Auf die Hinterseite des Buches ist folgender Text tätowiert:
»Jede Gewalt trifft einen Körper.
Jeder Körper ist ein Raum.
Jeder Raum kann Versteck
und Gefängnis gleichzeitig sein.
Jeder Raum ist Zeuge.
Dieses Buch öffnet eine Tür.«
Die Alltäglichkeit, die Üblichkeit bildet den Rahmen der oft sehr kurzen Kapitel. Doch kurz ist nur das, was wir im ersten Moment sehen. Fangen wir zu lesen an, stellen wir fest: Das hier ist hochkonzentriert, das hier ist eine Essenz, das hier sind eingekochte Gedanken, die sich nicht einfach hurtig überlesen lassen.
Als Figuren in Rosenblatts Erzählungen treten neben den verschiedenen Innens unter anderem Kaffeetasse, Teller, Tiefkühltruhe, Spüle, Sofa, Wanderschuhe und Tresen auf. Sie alle nehme ich sowohl gegenständlich als auch metaphorisch wahr. Absicht oder nicht? Oder sie kommen einfach vor, weil sie da sind. Weil sie die Welt der autistischen Autorin bevölkern.
Da ist die Erinnerung an eine Beratungsperson, die über das Kind Hannah gesagt hatte, dass es das Gras wachsen höre. Und wie das Kind Hannah danach versucht hatte, dieses Wachsen zu erlauschen, zu unterscheiden, und wie es daran scheiterte, sich wegen seines Unvermögens schämte und erst viele Jahre später als Leserin diese Redensart endlich verstehen konnte.
»So viele Ichs, da kann kein Selbst mehr sein.« Darum springt die Erzählperspektive oft von ich zu sie zu er zu wir. Ich bin die Betrachterin, ich stehe außen und ich habe letztlich keine Ahnung, wie es innendrin ist, wenn man viele ist.
Hannah Rosenblatt handhabt die Wörter wie Plastilin, formt sie um, gestaltet sie neu. Ich sehe Wörter, die sich neu gebärden, neu geborene Aussagen entwerfen und ich ahne die Notwenigkeit dahinter. Da sind schließlich immer wieder andere Du, andere Gegenüber, wie sollte da die Sprache sich nicht mitwandeln dürfen?
Damals, als die Rosenblatts noch ein Kind waren, haben es alle gewusst. Und alle haben geschwiegen, auch die pädagogischen Erwachsenen. Obwohl es doch nicht zu übersehen war. Und doch ist da keine Anklage im ganzen Buch. Es war so. Es gab nichts anderes.
»’Ich hasse euch nicht.’
Sie stehen im Rahmen der Küchentür und schauen sie ein letztes Mal an.
’Nicht einmal das.’
Das Ende dehnt sich aus und berührt meine Füße.«
Die Texte lassen ahnen, wie schwierig es ist, ein Leben ohne die gewohnte strukturelle organisierte sexuelle Gewalt leben zu lernen. Ein normales Leben eben – ohne zu wissen, wie das gehen könnte. Ein Leben, das in die Leben der anderen hineinpassieren kann.
Im Nachwort nimmt mich Mai-Anh Boger in die Pflicht. Ich bin als Lesende zur Zeugin geworden, sagt sie. Ich kann nicht mehr wegrennen, nicht mehr weggucken. Nein, das will ich auch nicht. Immerhin entbindet mich die Nachwort-Autorin aber vom Versuch, verstehen zu müssen. Denn das, bei aller Liebe, kann ich nicht. Nicht wirklich.
Die Autorin selbst schreibt in ihrem Nachwort darüber, dass Schreiben ihr Tor zu sich selbst ist. Wie sie die Grenzen der Stille abschreitet und die abgebrochene Steine und Steinchen aufhebt und aufschreibt.
Ich wünsche ihr, dass sie nicht aufhört, diesen Weg zu sich selbst zu erforschen. Und weiter aufzuschreiben, was gut tut.
Wer über das Buch hinaus mehr von Hannah C. Rosenblatt lesen will, ist herzlich eingeladen, ihr Blog zu besuchen: Ein Blog von Vielen.
Ich bedanke mich bei der Edition Assemblage herzlich für das Rezensionsexemplar.
Hardcover
120x180mm
96 Seiten
15.00€
978-3-96042-053-8
Edition Assemblage
März 2019
Ein Gedanke zu „Ausgelesen #28 | aufgeschrieben von Hannah C. Rosenblatt“
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