Zürich mal wieder

Aus medizinischen Gründen war ich gestern wieder einmal in Zürich. Nach meinem Termin bin ich noch ein wenig rumgebummelt. Es zog mich an den See, wo es dann aber sehr laut war, Verkehr und Menschen …

Am Bürkliplatz esse ich mein Müesli fertig und spaziere anschließend zur Nationalbank. Ha. Ja, ich! Nationalbank! Das ‘Zentrum der Macht’. Meine alte Hundertfranken-Note, die ich neulich beim Aufräumen gefunden hatte, lässt sich eben nur in einer Nationalbank gegen heute gültiges Geld tauschen. Man muss sich jetzt diese eh schon reiche Stadt vorstellen. Und jetzt noch Region Bahnhofstraße. Kreis 1. Die Börsenstraße mit ihren alten, palastähnlichen Gebäuden. An der Bank hängt außen nirgends ein Schild. Nichts deutet von außen daraufhin, dass das jetzt die Nationalbank ist. Und nirgends ein Hinweis auf den Eingang, außer du stehst direkt vor der Tür. Ohne Navi hätte ich den Eingang nicht gefunden. Stehst du allerdings vor der Tür, geht sie von alleine auf. Im Entrée ein Butler (oder ein Security-Mensch?) der sich nach deinem Anliegen erkundigt und dir sagt, wann du das Allerheiligste betreten darfst. Am Schalter ziehe ich mein Portemonnaie hervor und kurz darauf bekomme ich als Tauschmittel ein paar neue bunte Scheine. Juhu, mein Überleben ist für diesen Monat wieder einmal gesichert.

Ich spaziere der Limmat entlang zur Münsterbrücke, wo ich die Limmatseite wechsle und so erleichtert das ‘Zentrum der Macht’ verlasse. Beim Frauenbad bin ich, da ich das Badezeug dabei habe, kurz versucht, mir ein Limmatbad zu gönnen, doch dann fällt mir ein, dass ich ja in Zürich bin, wo alles kostet. Geld kostet. Viel Geld kostet. In Bern sind – oder waren jedenfalls damals, als ich dort lebte – alle öffentlichen Freibäder kostenlos. Drüben, im Niederdorf, im Dörfli, spaziere ich einfach rum und lasse mich treiben und Erinnerungen auftauchen. Da haben wir damals und dort haben wir. Und hier war doch! Erinnerungen an Gespräche mit M., M. und H. und wie sie alle hießen … Gedanken an eine Lebensphase, in der ich, verglichen mit heute, doch ganz schön unbeschwert war. Nicht immer einfach war mein damaliges Leben, aber leichter war manches damals schon.

Es wuselt ganz schön in Zürichs Lieblingstouriquartier und nach einer Weile suche und finde ich eine stille Ecke, oder eine stille Runde, nämlich eine runde Bank, um einen Baum herum gebaut, wo ich eine längere Pause mache. meine neuen Broschüren lese und picknicke.

Und jetzt? Weiter Richtung See und baden? Oder zurück, nach Hause? Ich bin müde, es wird immer heißer und mich zieht es nach Hause. Auf dem Rückweg ist es noch wuseliger. Mittagspause-Zeit. Es ist laut, aber es geht. Ich gucke, ich fühle, ich denke und lasse das alles auf mich wirken. Da der Mann, der im Brunnen sitzt. Dort dies. Hier das. Viele Eindrücke. Fast alle so flüchtig, dass ich sie bereits wieder vergessen habe, wenn ich eine Häuserzeile weiterspaziert bin.

Am Bahnhof wähle ich den Weg durch die Bahnhofshalle, denn ich will den Nikki de Saint Phalle-Engel mal wieder besuchen.

Hier ein paar Impressionen, einfach so für mich als kleine Erinnerung daran, dass ich wieder einmal dort war, wo ich einst gelebt habe.

Was wäre wenn?

An einem Sonntagmorgen früh aufwachen – na ja, immerhin ist es schon nach acht Uhr, aber ich bin erst um halb zwei ins Bett – und von der Dringlichkeit beseelt und bedrängt sein, zu schreiben. Das hatte ich schon lange nicht mehr. Schreiben, drauflosschreiben, schreiben, was mir gerade alles durch den Kopf geht, Tagebuchschreiben.

Ich will weiterschlafen, gehe nur kurz aufs WC, wieder ins Bett, aber irgendwie ist es zu warm im Zimmer. Ich schließe das Fenster, von draußen drückt Sommerwärme durch die Holzläden. Es ist sonntagsruhig draußen. Unten, auf der Hauptstraße, ab und zu ein Auto, das als einzelnes Geräusch, nicht als Teil eines diffusen Rauschens wahrnehmbar ist. Auf der Quartierstraße, an der unser Haus steht, ist es still. Keine Stimmen, keine Motoren. Dennoch stopfe ich mir prophylaktisch ein Ohropax ins linke, bessere Ohr. Das rechte, schlechte Ohr braucht meistens keins, außer es ist ganz laut.

Nach zehn vergeblichen Wiedereinschlafversuch-Minuten drückt der Darm, außerdem ist mir zu warm. Sogar ohne Decke. Ich stehe auf, öffne die Holzläden, schließe die Fenster, leere den Darm, hole iPad und externe Tastatur und mache es mir wieder, diesmal sitzend, im Bett bequem. Here I am.

Aufschreiben also. Gedanken zum eben zu Ende gelesenen Buch. Die Unvollendete. Von Kate Atkinson. Noch in meinen allerersten eBook-Lesezeiten – auf dem mir vom Liebsten geschenkten Tolino – hatte ich eine Phase, in welcher ich einige Bücher dieser wunderbaren britischen Autorin verschlungen habe. Das muss sieben oder acht Jahre her sein. Jedenfalls kam mir damals jene kostenlose XXL-Leseprobe von Die Unvollendete genau richtig. Dieser außergewöhnliche Roman dreht sich um eine junge Frau, Ursula Todd, die die Gabe hat, immer wieder geboren zu werden, wenn sie im Laufe ihres Lebens gescheitert und gestorben ist. Leider war es eben nur eine Leseprobe und so konnte ich die Geschichte nicht zu Ende lesen. Doch irgendwann kaufte ich das eBook, das ich dann aber doch nicht weiterlas. Und irgendwann später, als ich vergessen hatte, dass ich mir das eBook ja gekauft habe, stolperte ich antiquarisch über Die Unvollendete in Papierform (fand ich es in einem Bücherschrank?). Doch auch das blieb bisher ungelesen. Bis vor kurzem. Als ich auf so gar nichts Lesbares, das bei mir stapelweise rumliegt, Lust hatte, fing ich damit an, Die Unvollendete endlich zu vollenden.

Ursulas Leben und Sterben. Das erste Mal starb sie gleich nach der Geburt. Doch dann fängt alles nochmals von vorne an. Da capo al fine. Beim zweiten Mal stirbt sie nicht. Das nächste Mal stirbt sie als kleines Mädchen bei einem Sturz aus dem Fenster. Da capo al fine. Geboren 1910 erlebt sie als kleines Mädchen den ersten Weltkrieg, überlebt – allerdings erst beim zweiten und dritten Anlauf – die spanische Grippe, erlebt die Zwischenkriegsjahre, den zweiten Weltkrieg, erschießt Hitler oder auch nicht … Kurz: Was wäre wenn? Das ist das Thema, das mich nicht eben nur ein bisschen berührt, sondern sehr nachhaltig. Es ist ja auch immer wieder mein Thema gewesen.

Ein philosophisches Buch, das Fragen nach Krieg und Frieden, nach Gründen, nach Ursachen und Wirkungen stellt. Carpe diem oder Langfristigkeit? Angesichts der Schrecklichkeit von Kriegen verliert alles Gewohnte seine Bedeutung und anderes bekommt dafür einen Wert, das bis dahin unbeachtet war.

Vieles, was Ursula erlebt, fühlt sich auch aus heutiger Sicht sehr real, sehr aktuell an, so als würden wir gerade in einer ähnlichen Zeit leben wie Ursula in jener Zeit zwischen den Kriegen.

Ursula schließt sich in einer Version ihres Lebens während des zweiten Weltkrieges einer Gruppe von Luftschutzhelfer*innen an, die nach Bombeneinschlägen nach Toten und Verwundeten sucht und vor Ort hilft. Tagsüber arbeitet sie im Innenministerium, wo sie verantwortlich für Statistiken ist und die Schäden des Krieges dokumentiert. Sie ist sehr nahe dran am Kriegsgeschehen, sie packt mit an.

Was würde ich tun? Der Krieg, so wird an einer Stelle – ich glaube von Hugh, Ursulas Vater – gesagt, bringt in den Menschen das Schrecklichste und das Schönste zum Vorschein. Kameradschaft. Freundschaft. Aber eben auch Verrat. Rohe Gewalt. Überleben auf Kosten anderer.

Gestern Nachmittag vollendete ich Die Unvollendete endlich. Wie bei eBooks oft, gibt es am Ende des Buches einige Links. Zum Beispiel einen zur Webseite der Autorin.

Ich scrolle mich durch die englischen Bücher und überlege, welche davon ich – allerdings auf Deutsch – damals wohl gelesen habe und wie der Roman, den ich eben gelesen habe, wohl im Original heißt. Life after life. Ja, das passt.

Ich lese mich ein wenig fest und entdecke, dass das Buch verfilmt wurde. Die vierteilige Miniserie ist letztes Jahr auf Englisch, dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Ha. Wenn ich das Buch vor fünf Jahren schon gelesen hätte, hätte ich das mit dem Film bestimmt nicht mitbekommen, zumal die Serie nur im Bezahlfernsehen zu sehen ist. Und zwar ausgerechnet bei Magenta-TV, das ich eh abonniert habe. Ha. Was für ein Glück! Ich habe gestern Abend also vier Stunden das eben zu Ende gelesene Buch gleich nochmals erlebt, diesmal in Farbe.

Eine wie ich finde sehr gut gemachte Literaturverfilmung. Mit ein paar Schwächen, wie immer, aber unterm Strich wirklich sehr gut gemacht.


Link zur Verfilmung: Magenta-TV

Nachgedacht: Über Angst und Mut

Ich denke ja über mich immer mal wieder, dass ich eine Schisserin bin. Und ja, ich habe Angst, vor ziemlich vielen Dingen sogar, rationalen ebenso wie irrationalen. Mehr als vor dem eigene Tod fürchte ich mich allerdings vor dem Verlust von Menschen. Die Aussicht liebe, liebste Menschen zu verlieren, ängstigt mich mehr als der eigene Tod. Auch langes Kranksein ohne Autonomie ängstigt mich mehr als zu sterben.

Heute allerdings will ich nicht über Angst schreiben, sondern über Mut, diesem vermeintlichen Gegenteil von Angst. Inzwischen vermute ich, dass Mut nicht der Gegenpol sondern eine Nachbarin von Angst ist. Denn Angst und Mut sichern zusammen unser Überleben. Vermutlich ist nämlich alldas, was die Welt ausmacht und das wir uns mit Polaritäten erklären, gar nicht so einfach, so monochrom, wie wir es uns vorstellen. Vermutlich ist alles viel vielschichtiger als wir gemeinhin annehmen.

Mut also. Die Erkenntnis kam gestern mitten in einer Geschichte, die ich mir auf dem Bildschirm angesehen habe: Da braucht einer verdammt viel Mut, hinzuschauen, zu reflektieren, sich selbst Rechenschaft abzulegen über das eigene Leben, über Vergangenes, Erlebtes, Erfahrenes und Gegenwärtiges.

So gesehen bin ich also vielleicht ein ziemlich mutiger Mensch.

All die Menschen, die sagen: Ach, das ist doch vergangen. Ach, darüber musst du nicht nachdenken. Ach, vergiss das besser. Ach, ich habe keine Lust, mich mit diesem unangenehmen Thema auseinanderzusetzen oder mit dieser Eigenschaft an mir oder mit diesem Problem oder mit der eigenen Herkunft oder Vergangenheit oder Familie … all diese Menschen, die weggucken, sind nicht eigentlich sie die wahren Schisser und Schisserinnen?

Probiere es aus, bevor du sagst, ich kann das nicht oder ich will das nicht!, hatte sie zu mir gesagt. Ich hatte genau das genau in diesem Moment gebraucht: ihre Ermutigung. Was passiert wäre, wenn ich es nicht ausprobiert hätte, weiß ich nicht. Manchmal sind es große Dinge, die wir ausprobieren sollten, manchmal reicht schon ein kleiner Standortwechsel, und schon sehen wir die Welt aus anderen Blickwinkeln. Wenn wir es denn wagen. Wenn wir etwas Neues ausprobieren. Wenn wir die Ermutigung annehmen. (Nicht immer, denn manchmal werden wir auch über unsere Grenzen hinausgedrängt und dann hilft nur ein klares Nein!)

Es braucht also – wie gesagt – Mut genau hinzuschauen, doch es braucht ebenfalls viel Mut, über die eine oder andere lange gepflegte Gewohnheit oder das eine oder andere Verhaltensmuster nachzudenken. Noch mehr Mut braucht es, uns einzugestehen, dass manche Gewohnheiten und Verhaltensmuster nicht mehr zu uns passen und aus dieser Erkenntnis heraus etwas in unserem Leben zu verändern.

Aber widerspricht
der Mut, mich verändern zu wollen
denn nicht
dem Mut, mich selbst so zu akzeptieren wie ich bin?

Nein, das ist kein Widerspruch, das eine schließt das andere nicht aus. Außerdem kann ich mich ja eh nicht gänzlich verändern und ein*e gänzlich andere*r werden (also hilft da nur Selbstakzeptanz). Trotzdem verändere ich mich stetig, da sich meine Perspektiven auf das Leben und auf die Welt ja stetig verändern, ganz im Sinne eines Reifeprozesses, einer Weiterentwicklung.

Außer ich stagniere und verharre in meinen Gewohnheiten. Was für mich allerdings keine Alternative ist.

Wir selbst sind unsere wichtigsten Baustellen. Hier können wir am meisten verändern und mit uns die Welt.