Ausgelesen #42 | Die Wahrheiten meiner Mutter von Vigdis Hjorth

Sie hat damals ihren Mann, die Schwester und die Eltern von einem Tag auf den anderen verlassen und ist ihrer neuen Liebe von Norwegen in die USA gefolgt. Inzwischen ist Johanna erfolgreiche Künstlerin, Witwe und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Nach dreißig Jahren kehrt sie – anlässlich einer Retrospektive ihres Kunstschaffens – in die Stadt ihrer Kindheit zurück, wo sie wieder Fuss fassen will. Dass sie feststeckt, begreift sie erst allmählich.

Das Buchcover zeigt in grafischen, mehrfarbigen Elementen und Schrift den Titel, Autorin- und Verlagsnamen. Dominant sind Blau- und Rottöne.
Das Buchcover zeigt in grafischen, mehrfarbigen Elementen und Schrift den Titel, Autorin- und Verlagsnamen. Dominant sind Blau- und Rottöne.

In kurzen Kapiteln spricht die Ich-Erzählerin davon, wie damals die Beziehung zu ihrer Familie kaputt gegangen ist. Sie erinnert sich an versteckte seelische Schmerzen der Mutter und begreift diese im Rückblick als Ausgangspunkt für die späteren Spannungen zwischen ihnen. Spontan wählt sie Mutters Telefonnummer. Trotz der räumlichen Nähe bleiben Mutter und Schwester jedoch unerreichbar. Verwundet und verwundert spielt Johanna mit Was-wäre-wenn-Szenarien, versucht den neuen Zurückweisungen eine Gestalt zu geben und zu verstehen, warum die Mutter das Telefongespräch nicht annimmt und die Schwester Nachrichten nicht beantwortet. «Vielleicht will Mutter mich nicht sehen, um nicht zu erfahren, was sie verloren hat? […] Ich zeichne mich als Mutter im Spiegel und entdecke, dass Mutters Mund spricht, er sagt, dass sie meinetewegen viel gelitten hat.»

Mir ging es beim Lesen ähnlich wie der Mützenfalterin, die mich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Vigdis Hjorth erzählt eine Geschichte, die erschüttert und unter die Haut geht.

Roman, S. Fischer 2023
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs

Wie wir Ziele erreichen können | Pläne machen #ADHS

Letzte Woche, in meiner zweiten Coaching-Sitzung, sprachen wir über die kurz- und mittelfristige Planung meiner Lebenszeit. Dieses Coaching soll mir dabei helfen, mit ADHS – dank Verhaltensanpassung und Medikamenten – stressfreier und gelassener zu leben.

Zuerst reden wir kurz über meine Selbstbeobachtungen mit der Selbststeuerung – dem Thema und der Aufgabe aus der letzten Sitzung – und ich sage, dass ich für mich einen anderen ersten Fragesatz gefunden habe. (Statt wie geht es mir JETZT? lautet meine erste Frage: Welches Gefühl ist JETZT am stärksten? Das passt bei mir besser.)

Ich erzähle auch von meiner Erkenntnis, dass ich letztlich tatsächlich mehrheitlich impulsiv oder aber rituell handle. Wenn alles in meinem Alltag den vertrauten Abläufen folgt, ist es gut für mich. Da aber, wo es keine solchen gibt, entscheide und handle ich spontan, impulsiv eben, ohne mir groß Gedanken über Folgen, Zeitaufwand und Zusammenhänge zu machen. Rückblickend frage ich mich, ob ich es anders hätte hinbekommen sollen oder können, na ja, besser halt irgendwie.

Meine Ärztin meint dazu, dass ich mein Verhalten nicht rückblickend bewerten und beurteilen solle. Es sei allerdings durchaus sinnvoll, aus der aktuellen Perspektive zu schauen, ob der vertraute Ablauf und/oder das Ritual jetzt noch gültig und sinnvoll seien oder ob es eine Anpassung brauche. Doch Rituale seien gerade für ADHS-Betroffene sehr sinnvoll, da sie uns Strukturen geben. Wir haben sie uns ja genau darum einst ausgedacht. (Ich nenne übrigens ritualisierte Abläufe, insbesonder wenn es Arbeitsdinge betrifft, auch gern Arbeitsoptimierungen, denn ich suche bei Arbeiten, die sich wiederholen, immer auch nach Wegen, die Arbeit mit möglichst wenig Kraft- und Energieaufwand und wenig Anstrengung erledigen zu können.)

Schließlich sprechen wir über Planung. Ich erzähle, wo meine Schwierigkeiten liegen, mich an exakte Zeitpläne zu halten. Hirnbedingt handle ich, wie gesagt, situativ und spontan, was dem Plänemachen grundsätzlich zuwider läuft. Also reden wir über hilfreiche Techniken.

Eine Wochenplanung sei das Sinnvollste, sagt meine Therapeutin aus langjähriger Erfahrung. Dabei wichtig: Keine Puffer einplanen. Pausen ja, Puffer nein, denn bei Puffern fallen ADHS-Menschen aus der besten Planung raus. Ebenso seien stundengenaue, zeitlich definierte Planungen nicht zielführend, denn sie bewirken das Gegenteil von dem, was wir anstreben, sie machen Stress statt Gelassenheit. Es gehe beim Planen immer darum, mehr Ruhe reinzubringen und das gute Gefühle zu erleben, dass wir das erreichen können, das wir wollen.

Ich solle mir alle Aufgaben und Will-ich-tun-Dinge der nächsten Woche aufschreiben und auf die Wochentage realistisch verteilen. Und daraufhin wirklich versuchen, sie einzuhalten. Es geht, das mache ich mir immer wieder bewusst, nicht primär um den Leistungsgedanken, sondern entspannter zu tun, was getan werden soll und will.

Idealerweise geht der Plan, ohne Störungen von außen, auf. Ist das der Fall, habe ich gut geplant. Störungen durch Unvorhergesehenes kommen aber natürlich immer vor. Werden wir gestört, können wir entscheiden, wie wir mit dem Störfall umgehen. Ein längerer Anruf oder zum Beispiel ein technisches Problem, das sofort gelöst werden muss, können wichtiger sei als die ungewaschene Wäsche, die auf dem Wochenplan steht etc.. Solche Entscheidungen müssen wir situativ treffen.

Als ersten Schritt soll ich mir von Woche zu Woche einen Plan machen und schauen, wie es mir damit geht.

»Ich könnte einen physischen Wochenplan machen«, sage ich, »und mit Post-it die Aufgaben draufpappen, so dass ich sie verschieben kann.«

»Genau das!«, sagt meine Ärztin, »so habe ich es gemeint.« Es sollen alle Sachen drauf. Einkaufen. Duschen. Solche Dinge. Am Abend solle ich gucken, ob es geklappt hat.

Das ist jetzt der Adlerblick, über welchen wir in der letzten (der ersten) Coaching-Sitzung gesprochen haben. In einem späteren Schritt werden wir uns anschauen, wie es mit den einzelnen Aufgaben aussieht. Dabei werden wir wieder mehr ins Detail gehen.

Ich erwähne, dass ich mir für unser Coaching auch das Ding mit der »neuen Vergesslichkeit« anschauen möchte. Sie hört zu und meint, dass das Problem vermutlich aufgetaucht sei, weil ich eben nicht mehr immer alles gleich wie früher erledige, wenn es sich mir in den Weg stellt, sondern im Kopf auf später vertage. (Was ja an sich ein Fortschritt ist, da ich besser filtern kann und nicht mehr alles prioritär erkläre). Nun besteht jedoch die Gefahr, dass ich Dinge vergesse, weil ich mich ja nun auf das konzentriere, was ich jetzt mache. Damit verschwindet das andere Zu-Tun aus meinem Fokus. Für Nicht-ADHS-Menschen ist es vermutlich normal, die Dinge nicht sofort zu tun und sie sich für später zu merken, für mich ist das neu. Ich muss also jetzt eine Strategie entwickeln, wie ich mir Dinge, die ich nicht jetzt machen will und kann, merken kann. »Das üben wir später!«, verspricht mir mein kluges Gegenüber.

Eine Strategie, die ich mir selbst ausgedacht habe, geht so, dass ich mir das zu erledigende Ding ein paar Mal aufsage und mir gleichsam inwendig eine Art Post-it aufklebe und dazu den kleinen Zauberspruch denke: »Wenn es wichtig ist, wird es mir später wieder einfallen«. Das funktioniert tatsächlich manchmal. Vielleicht sogar immer öfter.

Auch der Wochenplan hilft tatsächlich, dachte ich gestern Abend, als ich die zwei vollbrachten Tage betrachtete. Ich hatte zwar noch zu viele Will-und-sollte-ich-tun-Dinge auf dem Plan, doch die Tatsache, dass die Dinge da stehen und ihren Platz haben, ließ mich gestern und vorgestern tatsächlich konzentrierter und entspannter arbeiten. Ich switchte weniger hin und her und es gelang mir, das, was ich wirklich machen wollte, auch wirklich zu tun.

Leute, die von Natur aus genug Dopamin im Hirn haben, können sich vermutlich gar nicht vorstellen, wie schwierig es für uns ADHSys ist, nur schon direkt von A nach B zu gehen. Denn zwischen A und B gibt es ja sooo viele spannende Dinge, die gesehen und ausprobiert werden wollen.

 

Drei Stuten

Stutenbissig ist sie, die eine der drei Stuten. Wiki sagt, das sei ein deutscher Ausdruck, der salopp abwertend ein Verhalten von Frauen als Akteurinnen in offenen Konflikten mit Hilfe einer Tiermetapher benenne. Es handele sich um einen Geschlechterrollen-Stereotyp. Damit werde ein empfindliches, oftmals intrigantes und hinterhältiges, aggressiv streitbares und hitziges Verhalten gegenüber anderen Frauen, die als mögliche Konkurrenz empfunden werden, beschrieben. (Quelle) Aha, Geschlechter-Stereotypen also. Wie es wohl bei Männern heißt, dieses Verhalten, Konkurrenz wegzubeißen?

Ich weiß nicht, ob die drei Stuten auf dieser Koppel am Ende der Welt davon schon einmal gehört haben, aber sie illustrieren menschliches Verhalten – ganz ohne Geschlechterzuweisung – leider bestens.

Die Koppel ist, es tut weh, ein einziges Schlammfeld. Ganz hinten, wo der Zaun des vielleicht 200 x 80 Meter großen Platzes aufhört, ist ein waldiger Bach. Irgendwo, mittendrin im baumlosen Pferch, steht eine einsame, überdachte Futterkrippe mit ein bisschen labrigem Heu. Sonst nichts. Kein Obst. Kein Getreide. Kein Unterstand. Kein Strauch. Nichts. Nur Schlamm. Das Gras ist abgegrast, auch das vorne, wo wir auf dem Wanderweg vorbeigehen.

Zwei elektrisch geladene Bänder umgeben das Gelände. Ich frage mich, was die drei Stuten tun würden, wenn ich den Zaun öffnen würde. Sie könnten ausbüxen. Ob mit oder ohne uns: ein Sprung würde genügen. Das Gras jenseits des Zauns ist tatsächlich grüner. Wir pflücken ein paar Büschel und locken die drei Stuten an. Die Dunkelbraune ist die Leitstute. Sie holt sich hungrig ihren Anteil an Gras. Die zwei anderen, Hellbrau und Schwarz, beißt sie buchstäblich weg, wenn wir sie füttern wollen. Zu zweit schaffen wir es schließlich, dass auch Hellbraun ein paar Büschel bekommt. Schwarz traut sich nicht an den Zaun.

Schlammige Wiese mit drei Pferden. Im Hintergrund, außerhalb des Zaunes Wald. Davor, auf der Wiese, ein mobiles Gebäude aus grauem Kunststoff. Das eine Pferd kommt auf die Betrachtenden zu, die zwei anderen sind noch abgewandt.

Auf dem Rückweg von unserer Runde kommen wir wieder an der Koppel vorbei. Diesmal haben wir einen ganzen Stoffsack mit Gras gefüllt und die Pferde kommen uns bereits entgegen, als sie uns sehen. Die Leitstute ist noch dreister geworden, aber diesmal lasse ich nicht locker. Der Liebste lenkt die Fiese Tante, wie ich die Leitstute nenne, ab, damit ich Hellbraun und Schwarz auch ein bisschen füttern kann.

Hellbraun ist unglaublich ängstlich. Sie legt die Ohren an, macht nur kleine, blitzschnelle Schnappbewegungen mit dem Mund, um das gereichte Gras zu schnappen und zieht ihren Kopf rasch wieder zurück, um von der Fiesen Tante nicht gebissen zu werden. Schwarz ist die, die aufgegeben hat. Sie nimmt, was sie bekommt. Die Fiese Tante beißt Schwarz weniger als Hellbraun, vermutlich weil Schwarz längst resigniert hat.

Ist es die Not oder sind es Hunger und Verzweiflung, die von diesen drei Pferden Besitz ergriffen haben? Was macht Not, was machen Hunger und Verzweiflung mit einem Pferd, einem Menschen, wenn die Lebensbedingungen nicht mehr artgerecht sind?

Artgerechte Haltung ist das nämlich nicht, doch selbst wenn ich den Zaun aufschneiden würde, ich glaube nicht, dass die drei Pferde abhauen würden. Wohin auch? Sie kennen es nicht anders.

Innen ist außen. Außen ist innen. Grenzen sind im Kopf. Im menschlichen ebenso wie im tierischen. Außerdem verschleiern und verharmlosen Gewohnheiten Leid und Schmerz.