Hier nun ein weiterer Teil meiner Serie Mein ABC des Schreibens. Es ist dies eine Sammlung persönlicher Schreiberfahrungen. Im Menü werden die einzelnen Beiträge alphabetisch geordnet angezeigt, so kann ich beim Erstellen der Texte quer durch die Liste springen. 😉
Heute hüpfe ich zum R.
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R wie Rohtext
Ein Rohtext heißt so, weil er tatsächlich noch roh ist wie ein ungekochtes Ei, ungekocht, schwer verdaulich.
Das Schreiben des Rohtextes ist immer(!) der erste Schritt zu einem fertigen Text. Selten können wir einen Text, den wir uns ausgedacht und in die Tasten oder aufs Papier gebracht haben, genauso für eine Artikel, eine Geschichte, deine Dokumentation oder einen Roman verwenden (von absoluten Geistesblitz-Sequenzen und von einzelnen Sätzen, die einfach so sitzen, einmal abgesehen). Ich spreche hier natürlich nicht von kurzen Texten, die wir auf die Schnelle für einen Tweet oder einen kurzen Blogpost raushauen, ich spreche von längeren, komplexeren Texten, die mehr als nur Tagesfliegen sein sollen. Ich spreche von Texten, die publiziert und gelesen werden wollen.
Das Schreiben eines Rohtextes fordert uns viel ab. Dieses Schreiben ist wie die Phase erster Verliebtheit zum Text, den wir in uns tragen, ein Feuer, das in uns brennt, und in diesem Moment, wenn wir ihn niederschreiben, gebären wir unseren Text. Somit ist dieser Schreibprozess eine große kreative und sehr herausfordernde Arbeit. Eine Arbeit, die ohne jegliche Zensur geschehen sollte. Ohne Schere im Kopf. Ohne jemanden, der die einzelnen Kapitel oder Absätze anschaut und dazwischen ruft, das da was fehlt und dort ein Stück zu viel herausragt. Ohne Stimme, die kritisiert.
Mit diesem Rohtext schaffen wir das Skelett eines jeden fertigen Textes. Seine Urform. Er ist der Tonklumpen auf dem Tisch. Bis zur fertigen Geschichte wird dieser Klumpen in aller Regel noch mindestens dreimal überarbeitet.
Das erste (zweite, dritte …) Mal überarbeitet ihn die Autorin* (mit oder ohne Hilfe) selbst – und das heißt nicht in erster Linie nach neuen Synonymen suchen, Fehler finden und Sätze umstellen, das heißt das Skelett mit Fleisch unterfüttern. Nach diesem ersten Überarbeitungsprozess sollte eine Fachperson dazugezogen werden, eine Lektorin*. Auch diese Person sollte sich definitiv nicht nur auf Fehler, sondern auch auf den Erzählstrom und auf mögliche Unstimmigkeiten in der Geschichte einlassen.
Vorhin habe ich folgendes getwittert: »Ich bin übrigens die, die merkt, wenn der Protagonist, der angeblich am Morgen danach wegen der Putzaktion des Tatortreinigungsteams keinen Kaffee mehr im Haus hat, am Abend vorher welchen getrunken hatte.«
Es sind diese kleinen Unstimmigkeiten, die wir im Rohtext getrost übersehen dürfen, die uns aber bei der Überarbeitung, also wenn wir den Text das erste Mal als Ganzes vor uns haben und am Stück lesen, auffallen sollten, uns selbst oder dann spätestens unserer Lektorin*.
Falls das Bisherige noch nicht deutlich genug war: Rohtexte gehören nicht veröffentlicht. Sie sind privat und sollten wirklich nur jenen Menschen gezeigt werden, die mit ihnen umzugehen wissen. Rohtexte sind Sandburgen, rohe Eier, Glashäuser und darum sehr empfindlich gegen Erschütterung und Bruch. Der rohe Schreibprozess ist so gesehen der sensibelste Teil des Schreibens, der auf Störungen und Verunsicherungen anfälligste. Im Rohtext spielt es keine Rolle, ob eine Geschichte genießbar oder zumutbar ist. Das sollte sowieso nie Hauptkriterium fürs Schreiben sein, nicht im Rohtext jedenfalls.
Wichtiger in diesem Schreibstadium ist die Authentizität. Denk beim Schreiben möglichst wenig ans Lesepublikum. Denk daran, die Geschichte so zu erzählen, wie sie erzählt werden will, denn jede Geschichte hat eine ihr eigene Dynamik.
Und vergiss nicht: Eine Geburt muss nicht genießbar sein, eine Geburt ist eine blutige Sache … und Rohtextschreiben ist gebären.
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R wie Rückblende
Alle, die Bücher lesen und/oder Filme schauen, kennen Rückblenden. Sie sind ein sogenanntes Stilmittel, das es den Lesenden ermöglicht, rasch die Zeitebenen zu wechseln. In Filmen wird zuweilen – je nachdem wie weit in der Zeit zurückgeblendet wird – ein Grunge-Filter über die Szene gelegt, damit sichtbar wird, dass wir uns in einer vergangenen Zeit befinden. In Büchern gibt es solche Filter nicht, weshalb wir neben der schlichten Konjugation der Verben auch mit Erzählperspektiven und anderem arbeiten sollten.
Erzählen wir beispielsweise den Hauptstrang unserer Geschichte im Präsens, der Gegenwartsform, wird die Rückblende – je nachdem, wo auf der Zeitachse sie sich ereignet hat – in einer der drei uns zur Verfügung stehenden Vergangenheitsformen erzählt.
Ich verwende in der Regel die ’vollendete Vergangenheit’ (Präteritum) für vollendete Tatsachen. Vorvergangenheit (Plusquamperfekt) und Vorgegenwart (Perfekt) bieten sich je nach Zeitebene als Zwischenetagen an. Nicht ganz einfach, das hier in aller Kürze zu theoretisieren. Außerdem können andere solcherlei Theorie besser erklären (hier zum Beispiel).
Was ich sagen will? Die Erzählebenen sind Stilmittel, die wir gezielt einsetzen können, um unserer Geschichte mehr Dimension zu geben.
Ein weiteres für Rückblenden oft genutztes Stilmittel sind Überschriften mit Orten und/oder Jahreszahlen, die in Titeln vorkommen und den Lesenden zeigen, wo genau wir uns gerade jetzt befinden.
Auch ein veränderter Blickwinkel, aus welchem wir eine bestimmte Stelle erzählen, sagt etwas darüber aus, dass wir uns gerade jetzt in einer vergangenen Zeit befinden, und eignet sich darum als Arbeitsmittel für Rückblenden ausgezeichnet: Wird also normalerweise die Geschichte aus der Perspektive von Figur X und Figur Y im Jetzt erzählt, kommt mit dem Rückblende-Stilmittel namens Blickwinkelwechsel eine weitere Perspektive und/oder Figur ins Spiel. Beispielsweise eine nicht namentlich definierte Figur, die wir nur ’er’ oder ’sie’ nennen. So kann bewusst Spannung aufgebaut werden, da die Lesenden nicht wissen, wer diese Person ist.
In Rückblenden können zudem auch eher faktische Informationen zum Hintergrund, welche die Lesenden auf der Hauptstraße der Geschichte noch nicht erfahren haben, die aber für den Verlauf der Geschichte gut oder gar notwendig zu wissen sind, eingewoben werden.
Kurz gesagt: Rückblenden verleihen einer Geschichte Tiefgang und können – mit Stilmitteln wie Zeitebenen, Perspektive und Zusatz-Informationen – einen Kontext, eine Erzählumgebung schaffen.
*Männer sind natürlich mitgemeint.