Seit Tagen will ich über meine Schmerzen schreiben, doch ist darüber nicht längst alles gesagt? Vielleicht sollte ich es also einfach tun – im Wissen darum, dass ich mehr bin als der Schmerz, wie mir Freundin U. vor einigen Tagen in Erinnerung gerufen hat.
Als meine Rückenschmerzen, die vor etwa zehn Tagen über mich gekommen sind, noch schier unerträglich waren, standen mir genau sie, über die ich ja eigentlich schreiben wollte, im Weg. Ich habe die letzten Tage meine Laptopzeiten auf das absolut Notwendige reduziert, auf Bürokram, Organisatorisches, zuweilen Tagebuchnotizen, Chats manchmal. Doch so schnell wie möglich klappte ich den Deckel des Rechnern wieder zu. Und litt weiter vor mich hin.
Weiterleidend, ja, mit stetem Blick auf den Schmerz. Den Schmerz dermaßen im Fokus, weil er so dominant, so laut, so schrill war, dass ich nirgendwo anders hingucken konnte. Einfach nicht in der Lage war, wegzugucken. Mich nach Erholung und Schlaf sehnend. Liegen und Sitzen, die einzigen Möglichkeiten der Ruhe und Entspannung, die ich kenne, wenn ich an Schlafenwollen denke, waren jedoch beide mit nur noch stärkeren Schmerzen verbunden.
Tagsüber, stehend, gehend oder sitzend, ordnete ich die Schmerzen so zwischen 8-10 von 10 Schmerzskala-Punkten ein. Liegend kam ich locker auf 11-12. Also in den Bereich des für mich nicht mehr Erträglichen. Wie sagte Frau R. doch? Schmerz sieht man nicht auf dem Röntgenbild.
Der Schmerz besetzte alle meine Gedanken, meine Muskeln, meine Nervenzellen – und auch alle meine anderen Zellen. Überall leuchtete er herum. Er blockierte mein Denken, meine Hoffnung, meine Zukunftsgedanken. Alles war Schmerz.
Die von den Notfallärztys beim sonntagnächtlichen Besuch in der Notfallpraxis verschriebenen Medikamente – drei hochdosierte Mittel samt Magenschoner –, halfen zwar schon, aber eben nicht so sehr, dass ich länger als vielleicht mal eine halbe Stunde schmerzfrei gewesen wäre. Dass ich Übungen zur Mobilisierung des Iliosacralgelenks aus dem Internet machte, war sicher einerseits gut, oder zumindest gut gemeint, doch in meinem Fall leider auch weiteres Öl auf die Mühlen. Denn mein Körper, meine untere Rückenmuskulatur, brauchte eigentlich gerade keine weiteren Aktionen, sondern nur Ruhe und Entspannung. Und die fand sie nicht, die fand ich nicht.
Die Nächte waren besonders schlimm. Wenn der Schmerz zu unerträglich zum Liegen wurde – und das wurde er oft –, ging ich umher. Ich tigerte durch die Wohnung. Stundenlang. Dann wieder neues Medikament, neue Bettflasche, neue Wärmesalbe, neuer Einschlafversuch. Meistens konnte ich so zwei- bis dreimal ein- bis drei Stunden schlafen. Die Übermüdung wurde neben dem Schmerz und der Benommenheit durch die Medikamente zur weiteren großen Belastung. Ich taumelte durch die Tage.
Die Physiotherapiesitzung am Donnerstagnachmittag, den ich mir zum Glück hatte ergattern können, brachte die Wende. Frau K. wies mich darauf hin, wie dringend nötig Ruhe für mein muskuläres System sei. Meine Übungen solle ich eher auf sehr feine Mobilisierungsbewegungen reduzieren, kleine Bewegungen seien hier und jetzt hilfreicher. (Dass ich aber auch immer übertreiben muss!)
Nach ihrer sehr feinen, sehr tiefgehenden und beruhigenden Massage war ich einige Stunden praktisch schmerzfrei. Dafür wurde es nachts wieder umso schlimmer und meine Angst, dass es nun immer so weitergehen würde, wuchs. Dass ich in diesen Stunden oft darüber nachgedacht habe, wie sich Menschen mit chronischen Schmerzen wohl fühlen müssen, verwundert sicher nicht. Ich wurde mir meiner bisherigen Privilegien bewusst. Meine körperlichen Schmerzen waren immer nur temporärer Natur gewesen und solche derart dominanten Rückenschmerzen, die mich am Liegen gehindert hätten, hatte ich bisher noch nie gehabt. Was habe ich doch bisher für ein Glück gehabt. Ja, solche Erfahrungen machen demütig.
Was mir leider nur schlecht gelingt, obwohl es oft empfohlen wird ist, mich mit dem Schmerz zu verbinden. Na ja, willkommen heißen war schon mal gar nicht, aber ein bisschen mehr Akzeptanz wäre sicher gut gewesen. Zu Schmerzen, von denen ich wusste oder weiß, dass sie temporär sind (Spritzen, Massageschmerz, etc.) konnte und kann ich durchaus ja sagen, doch bei Schmerzen, deren Ende nicht absehbar ist, finde ich das eine Meisterinnenleistung, eine, die ich noch nicht kann. Ich bin noch ganz am Anfang, was den Umgang mit Schmerz betrifft.
Dabei ist Schmerz so ein zentrales menschliches Thema. Das Leben fängt ja schon mit Schmerzen an, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Geburt ohne Schmerz geht. Über das Sterben können wir nur mutmaßen.
Alles Mögliche kann schmerzen. Zu viel Licht. Durst. Ein Stoß gegen den Bauch. Sich den Fuß vertreten. Zu viel Reiz. Wenn jemand unfreundlich ist. Die Hitze. Die Stirnhöhle. Eine Freundin, die leidet. Depression. Der Hals. Mitgefühl. Aufregung. Rückweisung. Trauer. Der Kopf. Ein Zahn. Ein Juckreiz. Ein Fremdkörper im Auge. Husten. Verlust. Die Lunge. Der Darm. Die Speiseröhre. Alle Organe. Das Herz. Die Seele. Alles. Alles kann weh tun. Nichts ist vor Schmerzen gefeit. Nichts. Nichts ist wirklich unkaputtbar. Das Meiste ist eh schon beschädigt. Von Anfang an. Und alles ist dem Verschleiß ausgesetzt. Alles. Nichts bleibt.
Gestern Morgen, um meine Geschichte weiterzuerzählen, beschloss ich, doch nochmals bei meiner Hausärztin-Praxis anzurufen und den erstmöglichen Termin nach der Ferienrückkehr meiner Ärztin zu bekommen. Der wäre, sagt die MPA, am Dienstagnachmittag. Oke, denke ich, so lange musst du noch durchhalten. Ist denn heute, frage ich plötzlich und bin selbst überrascht von mir, eine der anderen Ärztinnen im Haus? Ja. Und hat sie Zeit für mich? Ja. Um 16 Uhr. Als ich aufgelegt habe, frage ich mich, warum ich das nicht schon beim letzten Anruf, am Dienstag, als ich um eine Physio-Verordnung gebeten hatte, gefragt habe. Wow. Ich habe einen Termin und muss nicht mit dem Auto in die Notfallpraxis. Juhu!
Obwohl die Nacht auf Freitag schlimm gewesen war, sind die Schmerzen bald wieder relativ erträglich. Ein Nachhall der Physiotherapie? Ein Heilungsvorgang? Ich mache nur noch kleine und feine Bewegungen, um die Schmerzen zu kompensieren. Und vor allem mache ich wieder Dinge – trotz der Schmerzen. Eine kleine Radtour an Lieblingsorte, um mir meinen Ort von der neuen Wohnung aus zurückzuholen, und einen kleinen Einkauf, damit ich das Wochenende überstehe. Daheim dann weiter kleine Dinge. Keine Dinge, bei denen ich schwer heben muss, aber so Dinge wie neues Flüssigwaschmittel aus Kernseife und Soda, und neues Shampoo … Dinge, die mich ablenken, Dinge, die ich gerne mache, die mich strukturieren, die mich ordnen. Der Rücken macht mit und ich bin, relativ schmerzarm bei vielleicht 3-4 von 10 Schmerzskala-Punkten.
Beim Termin mit der Ärztin, einer Kollegin meiner Hausärztin, die auch Zugang auf die Akte aus der Notfallpraxis hat, erzähle ich davon, dass ich nicht zur Ruhe komme und dass es nicht nur ein körperliches, sondern eben auch ein mentales Problem sei. Wir diskutieren die Möglichkeiten. Ich bringe ‘Muskelrelaxans’ ins Spiel, was sie aufgreift. Sie verschreibt mir eins und auf einem zweiten Rezept ein Reservemittel, das ich, falls die Schmerzen nicht besser werden sollten, nehmen könnte –statt des für mich nicht sehr wirksamen Paracetamols. Es ist ein sehr gutes Gespräch.
In der Apotheke bekomme ich das Gewünschte und in der Nacht schlafen ich tatsächlich fast bis sieben nachdem ich um halb elf das Licht gelöscht habe. Ich bin eine kleine Lerche geworden und hoffe, ich bekomme nach und nach wieder meine innere biologische Uhr zurück. Vielleicht ist sie ja tatsächlich irgendwie verrutscht, also langfristig meine ich, aber vielleicht kommt nun auch mein alter Rhytmus zurück. Das, was ich davon noch will. Manches fällt womöglich raus. Wie bei den materiellen Dingen, die ich ausgemistet habe.
Weil ich um sieben nochmals eine halbe Tablette des Muskelrelaxans nehme, schlafe ich erneut etwa drei Stunden tief und fest. Boah. Was Schlaf doch für ein Zaubermittel ist!