Ich wundere mich

Nach meiner Pechsträhne voller Krankheiten und Unfälle kurz nach dem Umzug – eine Woche Fieber, dann die Iliosakralgelenk-Rückenschmerzen, die Augenverletzung und schließlich letzte Woche noch die Fingerwunde durch einen dummen Nähunfall – könnte ich ja jetzt versuchen, die Nachhalle dieser Ereignisse als kleine Alltagswunder zu betrachten und mich herzlich darüber zu wundern.

Meine Rückenschmerzen sind nach »nur« knapp drei Wochen verschwunden, statt – wie von der Physiotherapeutin vorausgesagt – sechs Wochen zu bleiben. Wow!

Das verletzte Auge hat sich nicht infiziert und ist in Rekordzeit verheilt. Ebenso der linke Zeigefinger, den ich mir letzten Donnerstag – am Nationalfeiertag ausgerechnet! – beim Nähen mit einer abgebrochenen Maschinennähnadel durchstochen habe. Eine reine Fleischwunde übrigens, ohne Knochen- oder Nagelverletzung. All das heilt sehr gut. Wunderbar ist das.

Und gestern gleich noch so ein Wunder. Wir kamen von unserer dreißig Kilometer langen Radtour zurück nach Hause. Als ich mein Rad abschließen wollte, stellte ich das Fehlen meines Schlüsselbundes fest. Wir durchsuchten alle Taschen, doch da war nichts. NICHTS!

Die Haustür war mit dem hölzernen Bremsklotz halb geöffnet, sodass wir eintreten konnten. Ich schlug vor, dass wir uns auf die Treppe vor der Wohnung setzen sollten und ich von dort aus einen Schlüsseldienst anrufen könnte. Was sah ich, als ich gerade auf der Treppe Platz nehmen wollte? Mein Schlüsselbund! Da lag er, auf meinem Schuhkasten. Vermutlich hatte ich den Schlüssel an der Tür steckenlassen – es wäre nicht das erste Mal! –, als ich nochmals in die Wohnung gegangen war und den vergessenen Radtacho geholt hatte. Danke, Danke, Danke, liebe Nachbarinnen!

Ich hoffe, dass ich jetzt das Pech dieses Jahres aufgebraucht habe und vor allem, dass ich endlich wieder achtsamer und aufmerksamer leben kann. Und stressfreier.

Drei Stuten

Stutenbissig ist sie, die eine der drei Stuten. Wiki sagt, das sei ein deutscher Ausdruck, der salopp abwertend ein Verhalten von Frauen als Akteurinnen in offenen Konflikten mit Hilfe einer Tiermetapher benenne. Es handele sich um einen Geschlechterrollen-Stereotyp. Damit werde ein empfindliches, oftmals intrigantes und hinterhältiges, aggressiv streitbares und hitziges Verhalten gegenüber anderen Frauen, die als mögliche Konkurrenz empfunden werden, beschrieben. (Quelle) Aha, Geschlechter-Stereotypen also. Wie es wohl bei Männern heißt, dieses Verhalten, Konkurrenz wegzubeißen?

Ich weiß nicht, ob die drei Stuten auf dieser Koppel am Ende der Welt davon schon einmal gehört haben, aber sie illustrieren menschliches Verhalten – ganz ohne Geschlechterzuweisung – leider bestens.

Die Koppel ist, es tut weh, ein einziges Schlammfeld. Ganz hinten, wo der Zaun des vielleicht 200 x 80 Meter großen Platzes aufhört, ist ein waldiger Bach. Irgendwo, mittendrin im baumlosen Pferch, steht eine einsame, überdachte Futterkrippe mit ein bisschen labrigem Heu. Sonst nichts. Kein Obst. Kein Getreide. Kein Unterstand. Kein Strauch. Nichts. Nur Schlamm. Das Gras ist abgegrast, auch das vorne, wo wir auf dem Wanderweg vorbeigehen.

Zwei elektrisch geladene Bänder umgeben das Gelände. Ich frage mich, was die drei Stuten tun würden, wenn ich den Zaun öffnen würde. Sie könnten ausbüxen. Ob mit oder ohne uns: ein Sprung würde genügen. Das Gras jenseits des Zauns ist tatsächlich grüner. Wir pflücken ein paar Büschel und locken die drei Stuten an. Die Dunkelbraune ist die Leitstute. Sie holt sich hungrig ihren Anteil an Gras. Die zwei anderen, Hellbrau und Schwarz, beißt sie buchstäblich weg, wenn wir sie füttern wollen. Zu zweit schaffen wir es schließlich, dass auch Hellbraun ein paar Büschel bekommt. Schwarz traut sich nicht an den Zaun.

Schlammige Wiese mit drei Pferden. Im Hintergrund, außerhalb des Zaunes Wald. Davor, auf der Wiese, ein mobiles Gebäude aus grauem Kunststoff. Das eine Pferd kommt auf die Betrachtenden zu, die zwei anderen sind noch abgewandt.

Auf dem Rückweg von unserer Runde kommen wir wieder an der Koppel vorbei. Diesmal haben wir einen ganzen Stoffsack mit Gras gefüllt und die Pferde kommen uns bereits entgegen, als sie uns sehen. Die Leitstute ist noch dreister geworden, aber diesmal lasse ich nicht locker. Der Liebste lenkt die Fiese Tante, wie ich die Leitstute nenne, ab, damit ich Hellbraun und Schwarz auch ein bisschen füttern kann.

Hellbraun ist unglaublich ängstlich. Sie legt die Ohren an, macht nur kleine, blitzschnelle Schnappbewegungen mit dem Mund, um das gereichte Gras zu schnappen und zieht ihren Kopf rasch wieder zurück, um von der Fiesen Tante nicht gebissen zu werden. Schwarz ist die, die aufgegeben hat. Sie nimmt, was sie bekommt. Die Fiese Tante beißt Schwarz weniger als Hellbraun, vermutlich weil Schwarz längst resigniert hat.

Ist es die Not oder sind es Hunger und Verzweiflung, die von diesen drei Pferden Besitz ergriffen haben? Was macht Not, was machen Hunger und Verzweiflung mit einem Pferd, einem Menschen, wenn die Lebensbedingungen nicht mehr artgerecht sind?

Artgerechte Haltung ist das nämlich nicht, doch selbst wenn ich den Zaun aufschneiden würde, ich glaube nicht, dass die drei Pferde abhauen würden. Wohin auch? Sie kennen es nicht anders.

Innen ist außen. Außen ist innen. Grenzen sind im Kopf. Im menschlichen ebenso wie im tierischen. Außerdem verschleiern und verharmlosen Gewohnheiten Leid und Schmerz.

Über das Älterwerden

In vielerlei Lebensbereichen stelle ich fest, wie ich mich verändere. Nicht dass. Dass wir uns ständig verändern, ist ja keine Frage. Ich denke über das Wie nach und über das Was.

Wie heißt es so schön? Was an neuer Musik nach 40 dazu kommt, bleibt nicht mehr hängen. Na ja, das gilt natürlich nicht nur für Musik. Es gilt für alles. Wobei 40 natürlich eine Variable ist. Bei mir ist – nicht nur in Sachen Musik – zwischen 40 und 50 nochmals richtig viel Neues dazugekommen. Es war ein Mich-einfinden-in-meinem-eigenen-Geschmack. Manches flog raus, das nicht passte, nicht mehr passte, eigentlich nie gepasst hat.

Manches blieb und wuchs. Gucken wir uns mal meine Lieblingsrockband an. Ihr ist schon vor einer Weile der Sprung in die oberste Liga (schweizweit zumindest) gelungen. Ihre Tickets kann ich mir längst nicht mehr leisten. Das letzte besuchte Konzert war nahezu am Vorabend des Lockdowns. Dann die neue CD. Die Musik hat mich weit weniger berührt als die auf den Platten davor. Die Band geht neue musikalische Wege. Abhandengekommen sind mir dieser Geschmack von wilder Jugend und dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenälterwerden.

Ein bisschen fühle ich mich ja schon abgesägt, abgehängt, dabei hat die Band ganz einfach den Sprung zur jüngeren Generation der Fans vollzogen – sich weiterentwickelt und angepasst. An den Konzerten – früher, damals, als ich es mir noch leisten konnte – war das Publikum bunt gemischt, bestand halb aus Menschen meiner Generation wie die Band selbst, halb waren es deren Kinder … Der Funke ist von Generation zu Generation weitergesprungen, die Jungen haben aufgeholt. Sie machen mit beim Wettrennen um die Tickets, die ein halbes Jahr vorher – exakt auf Zeitpunkt terminiert – angeboten werden und innert Minuten ausverkauft sind. Ich mag da nicht mehr mitmachen. Das ist nicht mehr meine Welt.

Das ist nur ein Beispiel, eins von vielen Dingen, denen ich anmerke, wie sich in mir drin dieser Wandel vollzieht. Bewusst und unbewusst. Inhaltlich und strukturell. Laufende Prozesse.

Ich muss inzwischen nicht mehr alles verstehen und ich vermutlich bin jetzt eine von denen, die ich früher als alt wahrgenommen habe. (Auch wenn jetzt Ü70-Jährige bestimmt schmunzeln und meine noch nicht mal sechzig Jahre als geradezu jung empfinden.)

Das mag vielleicht eher sentimental oder traurig, nach Abgesang, klingen, doch ehrlich, ich empfinde es durchaus nicht grundsätzlich negativ. Eher wie eine Befreiung. Ich muss nicht mehr … Ich muss immer weniger.

So langsam kommen wieder Dürfen und Wollen in mir auf. Mich weiterentwickeln will ich gern. Aber nicht mehr in Richtung Mehr-Größer-Höher, sondern eher in die Tiefe. Und nur noch bei manchen Themen und Fertigkeiten. Bei allem mitreden muss ich nicht mehr.

Dass sich die Welt und unser aller Lebensgefühl in den letzten vier Jahren krass verändert hat, ist natürlich nicht ohne Einfluss auf mich und meine Prozesse geblieben. Alles beeinflusst uns, alle beeinflussen sich gegenseitig – auf die eine oder andere Weise. Gesellschaftliches, Persönliches, Politisches – alles ist dich miteinander verwoben. Niemand ist eine Insel.

Manchmal stelle ich mir das ganze Leben wie ein  sehr großes Tetris-Feld vor. Und die Klötzchen, die es zu stapeln gilt, sind all die Dinge, die uns bewegen, sind all Menschen, die uns begegnen, sind die Gedanken, die wir uns machen und die Gefühle, die wir empfinden … manches passt, manches sperrt sich in uns.

Unsere Herausforderung besteht darin, in uns drin die zu uns passende, uns im Wesen ausmachende Ordnung zu finden. Und den Frieden damit, ja, den auch.

Diskrepanzen

 

Triggerwarnung ||| Toxische Beziehungen. Victim blaming.
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Manche Menschen sagen: Du entscheidest selbst, wie du über diese oder jene schlimme Erfahrung denkst. Du hast immer eine Wahl. Entscheidend ist nur deine Haltung dazu, dein Umgang damit.

Andere Menschen sagen, dass eine Person, die eine toxische physisch und/oder psychisch gewalttägige Beziehung nicht schnellstmöglich verlasse, selbst schuld sei. Und sie sagen, es brauche zur Machtausübung ja immer zwei, die Machtausübenden und die, die es zuließen. Würden diese die Macht nicht mehr zulassen, würden die Machtausübenden aufgeben.

Menschen, die so denken, haben vermutlich noch nie in einer solchen Situation gesteckt. Wurden noch nie unterdrückt. Haben noch nie Mobbing, Übergriffe, Gewalt oder Ausgrenzung erlebt.

Ja, ich bin richtig allergisch auf solche Sätze. Sie sind in meinen Augen ebenfalls eine Art von Victim blaming – Täter-Opfer-Umkehr, Schuldumkehr – wie etwa der zu kurze Rock, der Schuld daran sei, wenn ein Vergewaltiger seine Hormone nicht unter Komtrolle habe.

Die Opfer werden dafür gescholten, dass sie sich nicht aus eigener Kraft aus ihrer Falle befreien. Und sie werden gern noch dafür beschuldigt, dass sie überhaupt in diese Situation geraten sind. Kurzer Rock und so.

Ich frage mich, ob Menschen, die so über andere urteilen, jemals wirkliches Leid erlebt haben.

Ein Mensch, jung oder alt, erwachsen oder Kind, ist in solchen Situationen gefangen in den Umständen, oft panisch und womöglich sogar in Todesangst.

Gewalt zu erfahren ist immer schrecklich und hört auch nicht einfach auf, wenn die akut erlebte Gewalt wieder aufgehört hat, denn später findet sie im Inneren statt und löst in der Erinnerung jedes Mal neu Angst und Schmerz aus.

Betroffene fühlen Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, oft auch Isolation, Resignation. Wie sollen sie da ausbrechen können? Wie sollen sie da an sich selbst glauben, woher die Kraft und den Mut nehmen? Und wenn sie es dann doch irgendwie herausgeschafft haben, steckt das Erlebte noch immer prägend unter ihrer Haut.

Jedes Mal, wenn ich Sprüche höre oder lese, wie dass es ja nur darauf ankomme, wie wir die Dinge bewerten und wie wir darüber denken, fühle ich diese krasse Diskrepanz zwischen dem, was viele wohl so denken und dem, was ich selbst erlebt und in Gesprächen mit anderen beobachtet habe.

Nein, wie es uns geht, ist nicht nur das Ergebnis dessen, wie wir über die Dinge denken. Es ist vor allem das Ergebnis dessen, was wir fühlen und erleben. Jetzt. Direkt und unmittelbar. Und es ist ein Ergebnis dessen, was wir bis hierher gefühlt und erlebt haben. Ganz ohne Bewertung.

Inzwischen weiß ich, dass wir traumatische Erfahrungen nur lösen können, wenn wir uns diesem Gefühl- und Erlebthaben stellen. Und das geht definitiv nicht über Rationalisierung und Anders-über-etwas-Denken.

Hört also bitte auf, zu sagen, dass Opfer auch immer irgendwie selbst schuld sind.

(Eigentlich nichts Neues) über die Liebe

Unsere Sehnsucht nach Geliebtwerden: Ich glaube, das einzige Mittel, das uns dagegen hilft, der Liebe anderer nachzurennen, ist radikale Selbstliebe. Nur damit werden wir vermutlich den ’Egoismus des Geliebtwerdenwollens’ abstreifen können.

Manchmal wird ja über Achtsamkeit als eine gut getarnte Möglichkeit das Nur-um-sich-selbst-Kreisens gestänkert. Das sei nichts als gut getarnter Egoismus. Das sehe ich ganz und gar nicht so. Gerade für Menschen, die von klein auf nicht gelernt haben, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten – und sich selbst und die eigenen Grenzen stattdessen ständig übergehen, weil ihnen niemand beigebracht hat, sich selbst wertzuschätzen, Bedürfnisse haben zu dürfen und ernst zu nehmen –, ist der Weg der Achtsamkeit(smediation) ein Segen.

Darüber stänkern tun übrigens eh meist nur jene Leute, die sowieso ein gesundes Selbstvertrauen mit auf den Weg bekommen haben und von daher keine Ahnung haben.

Sich selbst als wertvollen, liebenswerten Menschen zu betrachten, sich Gutes zu gönnen, mit sich selbst liebevoll umzugehen und – ganz wichtig! – Selbstmitgefühl zu haben, das zu Mitgefühl für andere ermächtigt, ist das krasse Gegenteil zur egozentrischen Lebenshaltung wirklicher Egoist*innen.

Eigentlich anders

Content warning »Sterbebegleitung, Sterben, Tod, Abschiednehmen«
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Eigentlich wollte ich dieser Tag hier einen liebevollen, begeisterten, einladenden Text über das geplante Live-Kunst-Reiseprojekt des liebsten Irgendlink schreiben. Einen Text über seine Pläne, via Helsinki ein weiteres Mal ans Nordkap zu radeln. Einen Text über die Umsetzung eines Traumes, der seit Mitte Pandemiezeit immer konkreter wurde und dieses Jahr in die Wirklichkeit geholt werden sollte.

Uneigentlich ist alles ganz anders. Gestern Nachmittag fand ein Gespräch statt, von dem wir uns erhofft hatten, dass danach unser lieber Freund S. endlich und seinem Wunsch, seiner mündlichen Patientenverfügung, entsprechend, von seinen unheilbaren Schmerzen befreit wird.

Diese existentielle Fragen liegen uns schwer auf Mägen und Herzen. Es geht um Würde und Autonomie bis zuletzt, und es geht um Fragen zu Lebenmüssen und Sterbendürfen. Um Entscheidungen, die wir für einen lieben Menschen treffen müssen, der sich nicht mehr zu Wort melden kann. Ich bin ja ’nur’als Mitmensch und langjährige Freundin im Boot, der Liebste jedoch als Beistand. Schwere Entscheidungen. Wir machen es uns keineswegs leicht.

Mein Herz ist schwer. So viele Erinnerungen an unseren lieben Freund S. tauchen auf, während ich an seinem Bett stehe. Die letzten Besuche im Pflegeheim. Mein letzter vor dem aktuellen Klinikaufenthalt war jener, bei welchem wir ihm das von Freunden finanzierten E-Mobil geliefert hatten. Das er aber, weil er von seiner zweiten Covid-Erkrankung noch so geschwächt war, noch gar nicht hatte probefahren können.

Leider hat das gestrige Gespräch nicht das erhoffte Ergebnis bewirkt, nämlich das Freund S. von seinen Leiden erlöst werden darf. Nochmals neun Tage Abwarterei. Heute oder jedenfalls bald bekommt S. einen Luftröhrenschnitt, dann soll das Morphin ausgeschlichen werden und alsdann soll S. bitteschön höchstpersönlich sagen, dass er nicht mehr weiterleben will. Obwohl wir eine Tonaufnahme von eben dieser Aussage haben. Und diese auch in verschriftlichter Form vorliegt. Und der Liebste immerhin S.s juristischer Beistand ist. Dass S. vor einem Monat jener einen OP zugestimmt habe, die ihn von seiner zunehmenden Lähmung erlösen sollte, sei doch Zeichen dafür, dass S. weiterleben wolle. Dass die OP eher nicht erfolgreich war, wird ignoriert.

Es ist ein Trauerspiel. Wir geben nicht auf.

Des Liebsten Reise ist jedenfalls gecancelt. Aber vielleicht ist ja aufgeschoben nicht aufgehoben. Bestimmt würde sich S. sogar freuen, wenn Irgendlink nochmals vom Nordkap in die Ferne gucken könnte. Ganz bestimmt sogar.

Studie zum #Teilen | #ME/CFS

Unsere liebe Freundin S. ist vor über 20  Jahren nach einem Infekt an ME/CFS erkrankt. Ein langer Leidensweg liegt hinter ihr. Seit wegen LongCovid viele Menschen an ähnlichen Symptomen leiden, wurde und wird zwar ein wenig mehr an dieser chronischen Krankheit geforscht, doch immer noch viel zu wenig. Umso größer ist darum ihre Hoffnung, dass dank dieser Studie – Links siehe unten – weiter und umfassender denn je geforscht werden kann. Sie hat uns gebeten, ihr Anliegen zu teilen. Was ich hiermit sehr gern mache. Und euch ebenfalls darum bitte.

An der Universität Edinburgh hat vor kurzem eine große genetische Studie zu ME/CFS begonnen. Unsere Freundin hat zum ersten Mal seit langem die Hoffnung, dass es mit Hilfe dieser Forschung gelingen kann, die Krankheit besser zu verstehen – eine Voraussetzung dafür, endlich wirksame Behandlungsmöglichkeiten zu finden.

Da die Teilnahme von zu Hause aus stattfindet und sogar vom Bett aus möglich ist, können auch schwer und schwerst Betroffene mitmachen. Um erfolgreich zu sein, braucht die Studie zehntausende Teilnehmer*innen – und Leute, die helfen, genügend Teilnehmer*innen zu finden.

Wenn Du mithelfen möchtest, gibt es verschiedene Möglichkeiten:

Auf der Website der Studie kann man einen Text für Facebook, Mastodon und andere Soziale Medien kopieren. Der Text wendet sich direkt an von ME/CFS Betroffene, die im Vereinigten Königreich leben.

Link zur DecodeME Website:

https://www.decodeme.org.uk

https://www.decodeme.org.uk/ways-to-share

Oder Du kannst einen Brief weiterleiten, den unsere Freundin für Familie und Freund*innen geschrieben hat, bei denen sie sich aufgrund ihrer Einschränkungen lange nicht gemeldet hat (siehe unten).

Der Aufruf soll vor allem Leute im Vereinigten Königreich erreichen. Auch wenn Du keine direkten Kontakte dort haben solltest – jedes Teilen oder Weiterleiten erhöht die Chance, dass ein*e potenzielle*r Teilnehmer*in von der Studie erfährt.

Danke für Deine Mithilfe!

Infos zum Teilen auf Deutsch, als PDF

Infos zum Teilen auf Englisch, als PDF

Brief unserer Freundin, englisch/deutsch, als PDF

Mikro

Viele Male
schmerzt etwas
Großes oder Kleines
Eine Holzfaser unterm Fingernagel
Der Kopf dröhnt
Eine Mücke sirrt durchs Zimmer
Ein lieber Mensch sagt Nein, ich will nicht
Du brichst dir den Arm
Die Seele weint
Dieses Chaos im Bauch

Etwas schmerzt
Alles tut weh
Du leidest
Manchmal wie Sau

Addiere Schmerz
nenn ihn klein oder groß
Addiere ihn mit dem von mir
Mit dem von ihr
Mit dem von denen, die da drüben
stehen und weinen
Summieren wir
All diesen verdammten Schmerz
Unerträglich

Das eigene kleine kurze Leben
kaum größer als dein Weisheitszahn
aus der Sicht eines Elefanten
im Vergleich zur Unendlichkeit
Die Leben aller anderen
Addiere alle Leben
Addiere deine Träume
Addiere ihre Freude
Addiere unser Lachen
Addiere unsere Kraft
Summieren wir
Lebenskraft
Lebensmut
Lebensfreude
Lebendigkeit

Zwei Summen
Wir subtrahieren

Minus?
Plus?

Was bleibt?
Was zählt?

Momentaufnahme

Ich komme mir nicht hinterher.
Nicht mit der Erledigung all der Dinge, die auf meinen Listen stehen.
Nicht mit Agieren und Reagieren – weder persönlich, noch per Mail oder Chat, geschweige denn in den Sozialen Netzwerken.
Nicht mit all den Büchern, die ich lesen und hören will.
Nicht mit all den Filmen und Serien, die ich mir anschauen will.
Nicht mit all den Nachrichten über Katastrophen, Kriege und Menschenrechtsverletzungen, die ich begreifen will.
Nicht mit dem Verfassen eines Jahresrückblicks. (Das schon gar nicht. Wozu auch.)

Ich kann mich schlecht konzentrieren und fokussieren.
In meinem Kopf springen Hasen herum.

Draußen schneit es sei gestern, abwechselnd mit Schneeregen.
Ziemlich optimal ist das.
Es sieht hübsch aus und muss nicht weggeschippt werden.

Es ist mir zu kalt und zu nass zum Rausgehen.
Trotz der zwei Paar Wollsocken übereinander.

Es ist mir nach Winterschlaf.
Oder nach Bücher lesen und hören,
und nach Filme gucken.
Am liebsten mit Decke übern Kopf
und um mich rum.

Aber nur Input geht ja auch nicht,
irgendwo muss das Viel an Geschichten ja auch wieder raus,
das ich da verschlinge.

Wie machen das andere, die nicht schreiben?
Wie reflektieren andere, was sie denken, tun und fühlen?

Ach, und ist es das, was Kommunikation eigentlich ist:
Verdauen?

Will ich schreibenderweise mehr als nur laut zu denken?
Will ich Spuren hinterlassen?
Wenn ja, für wen und warum?
Geht es darum, irgendwem irgendetwas zu beweisen?
Geht es hier gar um Unsterblichkeit?
Mir nicht.

Lass gut sein, Sofasophia,
es ist, wie es ist.

Und sie erlaubte sich und dem Jahr einen ruhigen Abschluss.

THE END

(Oh, es ist ja noch gar nicht Silvester.)

Wir hier

Wir hier – diese zwei Worte sind es, mit denen wir ausdrücken, wenn wir uns irgendwo heimisch fühlen. Es sind gute Worte irgendwie. Es sind gefährliche Worte irgendwie anders.

Mit Wir grenzen wir uns von denen ab, die nicht Wir sind. Und mit hier von denen, die woanders sind. Denn mit Wir hier meinen wir selten alle, weder alle Menschen noch alle Wesen auf dieser Erde.

Mit Wir hier stellen wir Bedingungen. Wir, die wir hier dies und das miteinander erleben, erschaffen, die wir einander auf die eine oder andere Weise nützlich sind, Beziehungen spielen lassen. Und ja, natürlich stellen wir Bedingungen. Bedingungslos? Das wäre ja noch schöner!

In den letzten Tagen ist dieses Wir-gegen-Die beinahe eskaliert. Und ich gebe zu, dass auch ich mich da und dort habe mitreißen lassen. Wir hier im Fediversum gegen die dort auf Twitter. Auch ich habe versucht, Menschen auf Twitter meine neue Heimat Fediversum schmackhaft zu machen und sie vor den bösen Worten derer, die das kleine Feine nicht zu würdigen wissen, zu beschützen. Ich weiß es ja schließlich besser, ich weiß, dass das Fediversum ein guter Ort ist, auch wenn er sich nicht auf Anhieb jeder und jedem erschließt, auch wenn zuerst ein paar Schwellchen überwunden werden müssen. Aber dann, wenn du erstmal dort bist, dann …

Ich habe mir den Mund fuselig geredet, weil ich meine Lieben aus den Fängen des proprietären, alles fressenden Monsters E. M., der Twitter gekauft hat, reißen wollte. Beste Absichten hatte ich, liebe Menschen geradezu vor dem Untergang zu retten. Dennoch schoss ich zuweilen übers Ziel hinaus. Na ja, irgendwann habe ich es zum Glück gemerkt. Und mich erinnert, denn wenn ich im Laufe meines Lebens etwas gelernt habe, dann dass sich niemand gegen seinen Willen retten lässt. Freier Wille und so.

Ich denke dieser Tage viel nach: Was genau suchen wir eigentlich in den Sozialen Medien? Tief innen. Aufmerksamkeit? Sehen und gesehen zu werden? Austausch? Nun ja, wem es um viele Klicks geht, um viel Aufmerksamkeit, um viel Publikum geht, wer seine Posts nach Gesetzen der Nützlichkeit für seine Anliegen publiziert, wird vielleicht tatsächlich im Fediversum nicht glücklich. Im Fediversum läuft nämlich alles ganz ohne Algorithmen streng chronologisch. Die neusten Posts sind ganz zuobert. Posts, die geboostet ­ – heißt: geteilt – werden, bekommen mehr Aufmerksamkeit als jene, die von den Lesenden mit einem Stern versehen werden. Der Stern heißt alles Mögliche. Zum Beispiel Das gucke ich mir später in Ruhe an oder Das berührt mich.

Die Anzahl der Sterne, die ein Post – ein Toot, ein Tröt – erhält, ist ohne Bedeutung. Hier kommt nicht der oder die mit der lautesten Stimme weiter, sondern Menschen, die über Dinge schreiben, die von vielen gelesen, gemocht und geteilt werden.

Ich gestehe, dass ich trotz bester Absichten erst beim dritten Anlauf ‚warm‘ mit Mastodon geworden bin. Angemeldet habe ich mich dort bereits vor über vier Jahren. An den Anlass des Massenexodus von Twitter zu Alternativen erinnere ich mich nur noch vage, doch ich wollte bereits damals Twitter verlassen. Auf Ello und Mastodon fand ich einen Zweit- und Drittwohnsitz. Damals konzentrierte ich mich mehr auf Ello als auf Mastodon, weil die Menschen, die ich dort fand, damals mehr zu mir passten. Auf Ello fand ich eine eher künstlerische, sprachaffine Blase, während ich auf Mastodon kaum Menschen mit ähnlichen Interessen antraf. Vermutlich, weil ich zu wenig suchte, zu wenig fragte, mich zu wenig einbrachte fand ich auf Mastodon vor allem IT-affine Techniknerds. Bestimmt hat es schon damals dort Menschen gegeben, die über Alltägliches redeten.

Die meisten Menschen, die damals mit mir Twitter verlassen wollten, sind doch wieder zurückgekehrt. Auch ich wurde wieder auf Twitter heimisch, es war wohl neben der Bloggosphäre mein längstes virtuelles Zuhause, zumal ich dort im Laufe der Jahre viele Menschen kennen und schätzen gelernt hatte – auch persönlich. Ich lebte ich einer Blase mit vielen Schnittmengen und Themen und pflege regen Austausch über Sprache, Literatur, Politik und Alltägliches.

Doch allmählich veränderte sich der Wind. Vor oder während der ersten Pandemiejahre wurde der Ton immer harscher. Ich schrieb immer weniger Persönliches, teilte dafür immer mehr Infos zu diesem oder jenem Thema. Fast unmerklich geschah das. Meine Timeline zu lesen überforderte mich längst, irgendwann hatte ich ein paar wenige Lieblingsleute in eine Liste gepackt und las Twitter nur noch innerhalb dieser Liste.

Im Frühling, als sich E. M. überlegte, Twitter zu kaufen, beschloss ich, meinen vier Jahra alten Mastodon-Zweitwohnsitz als Hauptwohnsitz zu reanimieren und Twitter zum Zweitwohnsitz zu machen. Nicht, weil es gerade alle taten und das chic war, sondern weil ich dringend etwas anderes brauchte.

Ich sehnte mich nach einem Ort, wo miteinander nicht aneinander vorbei gesprochen wurde. Nicht nur debattiert, diskutiert, geschrieen, sondern geredet, einander zugehört. Ich sehnte mich nach einem Netzwerk, nach Reden ohne Goldwaage, mit Respekt. Und mit Humor. Nach mehr Netzwerk und weniger Medium sehnte ich mich. Dass mir – von Anfang an schon – der Open Source-Gedanke hinter dem Fediversum gefiel und noch immer gefällt, muss ich wohl nicht extra erwähnen? Ich arbeite ja schon seit vielen Jahren gern mit Linux (Ubuntu) und seinen vielen Open Source-Programmen und möchte nicht mehr tauschen.

Also versuchte ich vor einem halben Jahr, mich auf Mastodon einzurichten. Technisch war bald alles klar, doch inhaltlich war ich die erste Zeit überfordert. Wem sollte ich bloß folgen? Jene, die ich vor vier Jahren abonniert hatte, waren größtenteils gar nicht mehr da. In meiner noch verbliebenen Timeline wurde hauptsächlich nerdisch gesprochen oder dann waren es Leute, die sich untereinander schon so gut kannten, dass ich mich da unmöglich einfädeln und reingrätschen konnte und wollte. Don‘t stopp a running system. Heute weiß ich: Doch, das hätte ich gedurft.

Es war eine Zeit der Unsicherheit. Ich fühlte mich so unendlich neu hier, einsam, unsichtbar. Doofe Pausenhofgefühle. Bis ich irgendwann begann, Fragen zu stellen. Und da und dort auf Posts zu reagieren. Manchmal kam etwas zurück und ich begann jenen zu folgen, deren Posts mich ansprachen. So wuchs meine Timeline und schließlich fand ich nach und nach über Hashtags (mit Themen wie Bücher, Lesen, vegan etc.) Menschen, die ich gern las und mit denen ich je länger je mehr ins Gespräch kam. Über Alltägliches ebenso wie über zutiefst Existentielles. Was ich ganz besonders mag an Mastodon: Mitten in einem Gespräch, das immer persönlicher wird, kann ich bei jedem meiner Posts entscheiden, ob es für andere oder nur für Folgende, womöglich sogar nur für die Person, mit der ich gerade spreche, sichtbar ist.

Nein, es war wirklich keine einfache Zeit. Phasenweise fühlte ich ich überhaupt nicht mehr irgendwo zugehörig. Dort nicht mehr, hier noch nicht. Aber ich wollte es. Ich wollte wirklich Teil dieses Netzwerks werden. Ich sehnte mich danach, außer meiner analogen Welt, wieder einen Ort des Austauschens zu haben, einen virtuelle Raum, wo immer jemand zum Schwatzen, Trauern oder Lachen aufgelegt ist.

Allmählich stelle ich fest, dass mein Selbstschutzpanzer, den ich mir auf Twitter zugelegt hatte, nicht mehr so dick ist, dass ich wieder weicher und vertrauensbereiter geworden bin. Ich erholte mich von den Blessuren und begann mich wieder menschlich unter Menschen zu fühlen (jaja, ich übertreibe hier ein wenig). Vielleicht darum ertrage ich Twitter je länger je schlechter. Ich ging bis vor kurzem immer nur schnell gucken, was meine Lieblingstwitternden schrieben, teilte ab und zu etwas, das mir wichtig war und gut. Kaum mehr persönliche Posts.

Im Mai habe ich innerhalb von Mastodon die Instanz gewechselt und bin nun auf einem Server, dessen Inhaber ich persönlich kenne. Das ist ein gutes Gefühl. Theoretisch hätte ich meine ganzen Follower mitnehmen können, doch ich beschloss, dort bei Null anzufangen. Natürlich bin ich manchen wieder gefolgt, doch es war dennoch ein Neuanfang, denn alle, die mir folgen wollten, mussten mich neu abonnieren. Bei Twitter wusste ich schon gar nicht mehr, wem ich warum gefolgt bin und wer mir warum. Schon wieder dieses Nützlichkeitsdenken!

Heute abonniere ich Menschen unter dem Kriterium, wer mir gut tut. Mit wem kann ich gut? Die ist mir sympathisch. Der hat einen guten Humor.

Ich gestehe mir ein, dass das hier eine Art Fluchtort ist. Hier will ich nicht in erster Linie – shameonme – über Schrecken, Krieg und Katastrophen lesen. Obwohl diese Themen hier auch vorkommen, natürlich, doch hier kann ich besser dosieren, da heikle Themen idealerweise mit einem CW (Content warning) und heikle Bilder mit einer NSFM-Marker versehen werden – wer trotzdem lesen und gucken will, kann die Texte und Bilder durch Draufklick öffnen. Wir nehmen Rücksicht auf anderem, denn wir dürfen uns schützen. Doomscrolling nützt niemandem und mitfühlen können wir auch dann, wenn wir nicht ständig über Katastrophen lesen.

Seit Twitter verkauft worden ist, ist es für mich übrigens auch eine politische Haltung und ich bin soo kurz davor, meinen Twitteraccount zu löschen. Ich entscheide selbst, wo und wie ich mich vernetze.

Wir brauchen Orte, wo wir aufatmen, wo wir Quatsch machen und lachen können. Und philosophieren. Reden miteinander. Und diesen Ort habe ich auf Mastodon gefunden. Ich teile ihn gern und wünsche mir, dass ihn andere ebenfalls finden können. Wir alle brauchen solche Orte. Je länger je mehr.