So langsam schleicht sich das Virus, das vor fünf Jahren die Welt veränderte, wieder aus meinem Körper – und mit ihm verlässt mich das Fieber. Diesmal hat es mich deutlich weniger heftig in die Knie gezwungen als vor zwei Jahren. Diesmal habe ich ihm mehr Widerstand leisten können, die Impfungen halfen. Gleichzeitige Zahnschmerzen, die behandelt werden müssen – verschoben auf nach dem Kranksein. Dennoch bin ich nicht so leichtsinnig, diese Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Nur weil ich Glück hatte, haben andere nicht automatisch auch Glück.
Draußen liegt seit vorgestern Abend Schnee. Er schmilzt – oder sinkt zumindest in sich zusammen, wie es Schnee zu tun pflegt. Ich werde nachher, das erste Mal seit Montag, das Haus verlassen. Morgen sind Abstimmungen. Ich will meine Wahlunterlagen in den Briefkasten des Gemeindehauses werfen. Bürgerinnenpflicht. Wider die Hoffnungslosigkeit. Hinter das erste JA, das ich geschrieben habe, um den jungen Menschen meines Kantons schon ab 16 Jahren zu einer Stimme zu verhelfen, habe ich versehentlich und impulsiv ein Ausrufezeichen gesetzt. Keine Ahnung, ob die Stimme damit noch gültig ist. Ich hoffe es. (Von mir aus dürfte sie doppelt gezählt werden.)
Die Stimmen gegen das Stimmrecht ab 16 tönten so: »Bis jetzt ging es ja auch immer!«
Ja, genau. Fragt sich bloß, wie?! Sagte ich schon, dass ich je länger je politikverdrossener bin?
Gestern, ausgelöst durch einen Chat mit einer Freundin, die schreibend über ihre Kinder nachdachte, fiel ich mitten in eine Erinnerung. Wie hatte dieses Buch doch gleich noch geheißen, dass ich in der dritten, vierten und fünften Klasse wieder und wieder gelesen habe? Es war eins dieser wunderbaren Bücher, die ein fantasiebegabtes Kind, wie ich es eins war, einfach lieben musste. Das ging gar nicht anders, denn Fräulein Pudel-Dudel wusste immer Rat. Solche Erwachsenen hätte ich mir damals gewünscht.
Immer, wenn Kinder und ihre Eltern (na ja, es waren meistens die Mütter) nicht mehr weitergewusst hatten, gingen sie zu ihr. Fräulein Pudel-Dudel, eine kauzige, ältere Frau mit einem riesengroßen Herz, die eine Art Mix aus Selbsterfahrung, Antiautorität und viel Vertrauen in die Lösung der familiären Probleme legte, hatte für alle ein offenes Ohr. Sie traute den Kindern zu, aus gemachten Erfahrungen ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und ermöglichte es, den Eltern, neue Zugänge zu ihren Kindern zu finden. Und umgekehrt.
So jedenfalls las ich die Geschichten damals, hungrig wie ich nach funktionierenden, liebevollen Familiensystemen war. So sollte es sein, fand ich, so sollten Mütter mit ihren Kindern umgehen. Egal, ob die Kinder nicht aufräumten, ihre Aufgaben nicht machten oder nicht essen wollten … Fräulein Pudel-Dudel hatte eine gute Idee, wie allen geholfen werden konnte. Na ja, wahrscheinlich idealisiere ich. Egal.
Es war übrigens exakt die abgebildete Ausgabe – gestern auf Buchbot* gefunden (Ausgabe Exlibris, Zürich**) –, die ich hatte. In meiner Erinnerung habe ich das Buch jahrelang mit mir herumgeschleppt. Und gestern habe ich es also im Netz wiedergefunden, allerdings in keinem mir bekannten Antiquariat zu kaufen. Ich habe eine Suchanfrage gestartet, denn ja, zugegeben, ich würde das Buch zu gern aus heutiger Sicht noch einmal lesen. Betty MacDonald, die Autor und selbst Mutter, hatte ein bewegtes Leben, wie ich gestern gelesen habe. Ich glaube, das Buch könnte mir auch heute noch gefallen.
Vielleicht-vielleicht wäre die Welt ein klein bisschen besser, wenn wir alle ein bisschen pudel-dudeliger wären.
*Hier mehr Infos:
**Wie dankbar ich meinen Eltern noch immer für das Bücherregal im oberen Flur bin, das sie mit im Monatsabo eintreffenden Büchern füllten, die vermutlich nur ich las. Billigausgaben. Warum sie das Abo nicht abbestellten? Ich weiß es nicht. Ach, fällt mir ein, auch das Reader’s Digest-Magazin habe ich Monat für Monat verschlungen.
Etwa anderthalb Wochen lang bin ich in Joana Osmans autofiktivem Roman »Wo die Geister tanzen« eingetaucht. Heute habe ich das Buch fertig gelesen. Es geht um den Nahostkonflikt. Um Menschen, die einst Palästina als Heimat wähnten. Um Osmans Großeltern, die nach der Gründung Israels aus ihrer Heimat, Jaffa, vertrieben wurden, staatenlos Gewordene … Die Autorin, in Deutschland aufgewachsen, beschreibt die Flucht der Großeltern, all die neuen provisorischen Wohnungen unterwegs und die bittere Armut, Hunger, Kälte, Ausgestoßensein … Trotz ihrer beinahe leichtfüßigen Erzählweise gehen mir ihre Geschichten tief unter die Haut. Oder vielleicht genau deswegen? Und auch weil ich weiß, dass das alles ja so oder ähnlich auch heute noch geschieht. Immer. Irgendwo. Krieg ist immer irgendwo. Flucht auch.
Oft fühle ich diese ganze Last dieser Scham des Privilegiert-Seins auf mir. Meine Privilegien. Unsere. Zwar bin ich materiell arm, doch ohne Angst hungern oder um ein Dach überm Kopf bangen zu müssen. Fluchtanlässe habe ich auch keine. Die Scham der Privilegierten einerseits, andererseits auch die Schuld – die Mitverantwortung – einer zufällig in einem reichen Land Geborenen, einer, die es sich eingerichtet hat in einem System, das sie im Grunde zutiefst anzweifelt. Zur Scham also auch noch die Schuld der Privilegierten.
Wenn ich solche Geschichten und Texte lese und mich dem Schmerz öffne, ist das wohl wie eine Art Ablasshandlung für mich – stelle ich irgendwann mitten in meiner Mit-Trauer fest. Auch Doomscrolling vielleicht einmal als eine Art selbstverletzendes Verhalten betrachten: ein Ritzen an der Seele sozusagen, um gefühlt ein wenig der Schuld und Scham zu kompensieren? Vielleicht.
Was aber kann ich tun? Mit-Fühlen, ja, immer, weiterhin. Nicht damit aufhören, nicht abstumpfen. Wachsam sein. Hinschauen. Mich solidarisieren. Wutmut füttern und Mutwut auch gleich. Und handeln. Da wo es geht.
Ich habe dieses Leid so satt, dieses menschliche, kollektive Leid, das von Generation zu Generation weitergereicht wird … all dieses Leid, all dieser Schmerz. Die Uneinsicht jener, die Macht haben.
Fazit? Die Menschheit ist zu großen Teilen kaputt.
Ach, und noch ein Fazit: Dieser Roman sollte Pflichtschullektüre werden. Aus Gründen.
Drei Generationen, verbunden durch die tiefe Sehnsucht danach, Wurzeln zu schlagen – in ihrem großen Roman erschreibt sich Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte.
Sabiha und Ahmed sind fest verwurzelt in ihrer Heimatstadt Jaffa. Hier eröffnen sie ein eigenes Kino, um in der letzten Reihe bei Filmen mit Shirley Temple zu weinen, und ziehen ihre Söhne groß. Doch 1948, mit dem ersten arabisch-israelischen Krieg und schließlich der Gründung Israels, beginnt für die Familie eine Odyssee. Sie fliehen in den Libanon und weiter in die Türkei, stets auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Sie leben in Abbruchhäusern und werden von keinem Staat anerkannt. Sie trauern um die Verstorbenen und verlieren doch nie die Lust am Leben und erst recht nicht ihren Humor.
Siebzig Jahre später begibt sich Joana Osman in Israel auf Spurensuche. Wer waren ihre Großeltern, die ihren Vater auf der Flucht großzogen? Was war das für eine Reise, die auch ihr eigenes Aufwachsen so stark und doch so unsichtbar geprägt hat.
Fiktion und Autofiktion verschwimmen in diesem Roman, in dem Joana Osman ihre eigene Familiengeschichte vor dem Vergessen rettet. Voller Fantasie und hinreißendem Witz lässt sie die Geister der Vergangenheit tanzen. (Zitat Webseite Bertelsmann)
Hardcover, mit Schutzumschlag, 224 Seiten
Erschienen am 30.08.2023
ISBN: 978-3-570-10522-1
Seit wir November haben, glaube ich mich im Dezember angelangt. Nicht im Kopf, mehr so in der punktuellen Wahrnehmung. Weil das Jahr gefühlt einerseits schon uralt ist, obwohl es doch – andererseits –irgendwie eben erst begonnen hat. Das hatte ich so noch nie.
Als ich heute Morgen nach einer erholsamen Nacht mit über neun Stunden Schlaf langsam auftauchte – wie eine Schwimmende aus den Tiefen des Meeres mich orientierend, in wessen Bett ich überhaupt liege, den Liebsten neben mir fühlend –, war ich … nein, kein Käfer. Aber ich befand mich in einer Jahresrückblickstimmung, die mich nach dem Handy tasten ließ, um die vielen gleichzeitigen Gedanken nicht unbeachtet verstreichen zu lassen.
Gut und schwierig lagen dieses Jahr krass nah beieinander. 2024 war für mich tatsächlich ein krasses Jahr.
Es war das Jahr mit dem krassesten Mutanfall seit langem.
(Ich habe mich im Mai ernsthaft auf die Wohnungssuche eingelassen, mich gleich in die erste Wohung verliebt und sie sogar bekommen.)
Das Jahr mit den den krassesten Schmerzen, die ich je hatte, …
(Nach einer Woche Krankseins nach vollbrachtem Umzug und einem schmerzhaften Augenunfall, quälte ich mich fast drei Wochen mit Höllen-Rückenschmerzen durch den Hochsommer.)
mit der krassesten Lebensqualität, seit vielen vielen Jahren …
(Vor einem Jahr begann ich nach erfolgter ADHS-Diagnose das Experiment Dexmethylphenidat und habe es nie bereut. Wie krass heller ist mein Leben seither geworden!)
den krassesten Entwicklungsschritten, seit ich mich erinnern kann …
(Dank neuer Medizin konnte ich vieles in meinem Leben neu und anders denken und anpacken – krasse Lernkurve!)
den krassesten Ideen seit langem …
(Dem letztjährigen Novemberschreiben verdanke ich ein Manuskript, an dem ich noch immer arbeite und Ideen umsetze. Möge es einen Verlag finden.)
und dem allerkrassesten Weltgeschehen, das ich je erlebt habe.
(Dazu muss ich wohl nicht viel sagen, andere können das besser. Aber ej, wird das jetzt echt immer noch krasser?)
Natürlich ist das alles nur ein winziger Ausschnitt. Unterm anderem habe ich dieses Jahr auch noch mein 20-jähriges Blogjubiläum gefeiert und mein 15-Jähriges mit dem Liebsten.
Bei unserm kleinen Spaziergang am Samstagnachmittag denke ich über meine Wahrnehmung der Zeit nach. Und über die Dinge, die ich beim Durchschreiten der Zeit so tue. Normalerweise klebe ich Erlebnis an Erlebnis, Ding an Ding, eins ans nächste, und webe mir so aus den Dingen, die ich tue, ein dichtes Alltagsgewebe. Jedes Ding, das getan ist, hake ich ab, froh und erleichtert, es getan und nun hinter mir zu haben, selbst wenn es etwas Schönes war.
Ein einziges Hinter-mich-bringen-von-Dingen ist Leben letztlich, ein einziges Verschieben von Dingen von A nach B, bildlich und physisch, zumindest bei mir. Am Morgen auf den Abend schielend, wo ich auf die getanenen Dinge zurückschauen werden kann – mit einem übrigens durchaus guten, befrieidigenden und zufriedenen Gefühl, das ich natürlich auch tagsüber beim Tun von Dingen erlebe. Nur ist eben immer dieses Getrieben-Gefühl mit im Spiel: mein Zeiterlebnis als voranschreitende Bewegung auf einer Linie mit einem immerwährenden Schnell-Schnell-Schnell im Innenohr – Konditionierung sei Dank.
Doch dann gibt es auch diese wahrhaftigen Momente, diese Dinge, diese Erfahrungen, diese Erlebnisse, diese Tun-Dinge, bei denen ich aus der Zeit falle. Das sind für mich die wahren Zeiten, obgleich sie unmess- und unfassbar sind. Die Glückszeiten. So wie gestern, als wir etwa zwei oder drei Stunden collagiert haben. Das Ergebnis am Schluss ist weniger wichtig als das Aus-der-Zeit-Fallen. Ich erlebe das auch beim Spazieren, Wandern, Radeln oft … In der Natur. Und beim Lesen oder Hörbuchhören …
Geht es also womöglich beim Sich-Finden nicht letzlich irgendwie darum, sich zu verlieren, sich in der Zeit zu verlieren?
Es war am Sonntagnachmittag, Sonne satt. Dazu nicht mehr so kalt wie die Tage zuvor.
»Lass uns einen Ausflug machen! Am liebsten so einen Spaziergang wie neulich vom Zeltplatz aus, einen Spaziergang mit Stadt und Natur, mit Fotografieren, mit Genießen und Hinschauen, Flanieren, Stehenbleiben …« So hatten wir beim Brunch überlegt – und uns für Bremgarten entschieden, einer kleinen Stadt nicht weit von mit, die wir beide bisher kaum kannten.
Seit einigen Tagen haben wir die Open-Source-Navigationsapp Organic Maps auf unsern Handys. Bereits auf zwei Ausflügen hatten wir sie getestet – einmal am Freitag auf einer dreißig Kilometer langen Radtour, einmal am Samstag auf einer kleinen Wanderung in den Bözberger Hügeln. Fazit: Sie kann, wass sie soll. Und sie kann auf iOS sogar Routen aufzeichnen. Tolles Teil. Ich bin ja über jede Möglichkeit froh, die mich unabhängiger von den Internetriesen macht. Herzliche Empfehlung. Das ist übrigens unbezahlte Werbung, zumal die App eh kostenlos ist.
Bremgarten also. Der anvisierte Parkplatz war voll, so dass wir zurück über die Brücke fuhren, wo sich ebenfalls freie Parkplätze befanden. Was sich im Rückblick als perfekte Wahl erwiesen hat, denn von der Brücke aus konnten wir hinunter an die Reuss steigen und am Reussufer entlang in die Stadt spazieren. Schon bald erkannten wir, dass wir nicht die einzigen ArtWalk-Menschen waren. Unser UrbanArtwalk-Plan – sprich: eine Stadt mit künstlerischem Blick zu durchwandern und fotografisch festzuhalten, was uns berührt – wurde durch eine aktuell laufende Ausstellung namens ArtWalk* im öffentlichen Raum noch getoppt. Was für tolle Kunstwerke überall!
Kunst zum Staunen, zum Anfassen, zum Stillwerden … nach einem längeren Stadtspaziergang schloßen wir die Runde mit einem weiteren Stück Reussuferweg ab und der Track sieht darum auch richtig richtig toll und rund aus, finde ich.
Es folgen Bilder und da es sehr viele sind, bitte ich um Verzeihung, dass ich diesmal keine detaillierten Alternativtexte/Bildbeschreibungen für Sehbeeinträchtigte eingefügt habe.
Die folgenden Bilder zeigen die Reuss, Straßenszenen, Aufnahmen von Kunstwerken aller Art und aus sehr unterschiedlichen Materialien. Dazu alles mögliche, das sich uns beim Spazieren in den Weg gestellt hat.
Schon eine Woche ist es her, dass ich aus den Ferien zurückgekehrt bin.
In den letzte Tagen habe ich unsere Ferienbilder sortiert und einige fürs Blog ausgewählt. Einen Teil davon habe ich sogar schon gepostet. Mit Passwort. Ihr bekommt dieses auf Anfrage gern (siehe Kontakt).