Aus medizinischen Gründen war ich gestern wieder einmal in Zürich. Nach meinem Termin bin ich noch ein wenig rumgebummelt. Es zog mich an den See, wo es dann aber sehr laut war, Verkehr und Menschen …
Am Bürkliplatz esse ich mein Müesli fertig und spaziere anschließend zur Nationalbank. Ha. Ja, ich! Nationalbank! Das ‘Zentrum der Macht’. Meine alte Hundertfranken-Note, die ich neulich beim Aufräumen gefunden hatte, lässt sich eben nur in einer Nationalbank gegen heute gültiges Geld tauschen. Man muss sich jetzt diese eh schon reiche Stadt vorstellen. Und jetzt noch Region Bahnhofstraße. Kreis 1. Die Börsenstraße mit ihren alten, palastähnlichen Gebäuden. An der Bank hängt außen nirgends ein Schild. Nichts deutet von außen daraufhin, dass das jetzt die Nationalbank ist. Und nirgends ein Hinweis auf den Eingang, außer du stehst direkt vor der Tür. Ohne Navi hätte ich den Eingang nicht gefunden. Stehst du allerdings vor der Tür, geht sie von alleine auf. Im Entrée ein Butler (oder ein Security-Mensch?) der sich nach deinem Anliegen erkundigt und dir sagt, wann du das Allerheiligste betreten darfst. Am Schalter ziehe ich mein Portemonnaie hervor und kurz darauf bekomme ich als Tauschmittel ein paar neue bunte Scheine. Juhu, mein Überleben ist für diesen Monat wieder einmal gesichert.
Ich spaziere der Limmat entlang zur Münsterbrücke, wo ich die Limmatseite wechsle und so erleichtert das ‘Zentrum der Macht’ verlasse. Beim Frauenbad bin ich, da ich das Badezeug dabei habe, kurz versucht, mir ein Limmatbad zu gönnen, doch dann fällt mir ein, dass ich ja in Zürich bin, wo alles kostet. Geld kostet. Viel Geld kostet. In Bern sind – oder waren jedenfalls damals, als ich dort lebte – alle öffentlichen Freibäder kostenlos. Drüben, im Niederdorf, im Dörfli, spaziere ich einfach rum und lasse mich treiben und Erinnerungen auftauchen. Da haben wir damals und dort haben wir. Und hier war doch! Erinnerungen an Gespräche mit M., M. und H. und wie sie alle hießen … Gedanken an eine Lebensphase, in der ich, verglichen mit heute, doch ganz schön unbeschwert war. Nicht immer einfach war mein damaliges Leben, aber leichter war manches damals schon.
Es wuselt ganz schön in Zürichs Lieblingstouriquartier und nach einer Weile suche und finde ich eine stille Ecke, oder eine stille Runde, nämlich eine runde Bank, um einen Baum herum gebaut, wo ich eine längere Pause mache. meine neuen Broschüren lese und picknicke.
Und jetzt? Weiter Richtung See und baden? Oder zurück, nach Hause? Ich bin müde, es wird immer heißer und mich zieht es nach Hause. Auf dem Rückweg ist es noch wuseliger. Mittagspause-Zeit. Es ist laut, aber es geht. Ich gucke, ich fühle, ich denke und lasse das alles auf mich wirken. Da der Mann, der im Brunnen sitzt. Dort dies. Hier das. Viele Eindrücke. Fast alle so flüchtig, dass ich sie bereits wieder vergessen habe, wenn ich eine Häuserzeile weiterspaziert bin.
Am Bahnhof wähle ich den Weg durch die Bahnhofshalle, denn ich will den Nikki de Saint Phalle-Engel mal wieder besuchen.
Hier ein paar Impressionen, einfach so für mich als kleine Erinnerung daran, dass ich wieder einmal dort war, wo ich einst gelebt habe.
Wenn es Winter geworden ist und das erste Mal neuer Schnee fällt, der liegen bleibt, bin ich jedes mal von Neuem winterverzaubert. Obwohl ich Wintereigentlich nicht sonderlich mag und Frieren schon gar nicht. Dennoch. Und wenn dann noch die Sonne tut, was sie am besten kann, muss ich raus.
Neulich habe ich mich meiner guten alten Digitalkamera erinnert, die schon viele Jahre auf dem Buckel hat und im Alltag vom Handy der Bequemlichkeit halber abgelöst wurde. Zusammen sind wir am Sonntag also durch den Wald und über Felder gestreift und haben ein paar Bilder mitgebracht.
Ein Klick auf eins der Bilder öffnet die Galerie.
Schnee liegt auf Zweigen
Schneewaldweg im Schatten
Von Schnee umhüllter Ast mit grünem Laub
Schnee umhüllt Zweig
Gefrorene Pfütze mit Rissen
Sonne scheint durch Zweige in den Wald
Schneewaldweg
Schneebedeckte Baumwipfel
Noch ein Schneewaldweg
Sonne im Geäst
Schneebäume vor Blauhimmel
Links Waldrand, Schneewiese, im Hintergrund ein Hochsitz
Schneewiese, mit Sonne und Blauhimmel
Noch eine Schneewiese, mit Sonne und Blauhimmel
Schneewieseweg, Baum und Blauhimmel
Schneewiese, Wald und Blauhimmel
Bäume auf Wiese, Sonne, Blauhimmel
Weitblick über Schneewiese, auf Weg und Bäume, Blauhimmel
Blick von oben auf großen Baum, dahinter Dorf mit Häusern, Blauhimmel
Drei Schlitten hochziehende Kinder auf Wiese, im Hintergrund Bäume
Rote Beeren und Blätter der Stechpalme
Gelbe Blätter an einem Zweig
Lavendelstängel im Schnee
Hagebutte mit Eistropfen
Noch eine Hagebutte, mit Schnee
Und noch eine Hagebutte mit Schnee
Ein par überreife Hagebutten mit Schneehauben
Rosa Rose mit Schneekruste
Nochmals die rosa Rose mit Schneekruste
Rosa Beeren mit Schneehauben
Gewidmet all jenen, die Schnee und Winter mögen, möglicherweise keinen Schnee haben und/oder aus Gründen nicht im Wald spazieren gehen können.
Wir sind zwar wieder negativ, der Liebste und ich, aber beide noch nicht wirklich wieder hergestellt. Wir husten noch immer und auch die Nasen sind noch nicht frei. Und beide sind wir nach selbst kleinsten Anstrengungen k. o. und brauchen viele Pausen. Offenbar hat die Des-Liebsten-Mama Covid besser weggesteckt als wir zwei – der ImpfungseiDank, sagt sie. Sie hatte wohl eine Art Erkältung, während wir beide je mehrere Tage mit Fieber flachgelegen sind. So gesehen stimmt die viel zitierte und meiner Meinung nach höchst fragwürdige und zudem ableistische Theorie, dass Covid ja ‘nur die Alten und Behinderten’ schlimm treffe, schon mal gar nicht.
Ich konnte die Argumente von Menschen, die Covid-Schutzmaßnahmen ablehnen, von Anfang an nicht nachvollziehen. Und jetzt, nach überlebter Covid-Erkrankung, noch weniger denn je. Das wünsche ich nun wirklich niemandem. Und wir hatten ja verglichen mit anderen noch immer ziemliches Glück und sind auf dem Weg der Besserung.
Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem durch seinen Verstand und durch seine Vernunft und obwohl ich grundsätzlich an Evolution glaube, habe ich doch mit der sozial-darwinistischen Haltung – ‘the survival of the fittest’ (‘etwas Schwund ist immer’, ‘Kollateralschaden’) – schon immer meine Mühe. Wir sind den Menschenrechten verpflichtet, wir sind ethikfähige, vernunftbegabte Wesen, wir dürfen darum solche Haltungen nicht auf uns Menschen anwenden und das Wohl der Schwächsten für die Maßnahmen-Faulheit der großen Mehrheit opfern.
Ich fühle natürlich mit allen Betreuenden und Pflegenden mit, da es für sie besonders mühsam ist, sich bei der Betreuung von Covid-Patient*innen entsprechend zu schützen, aber für alle anderen hält sich mein Mitgefühl dafür, dass sie Rücksicht auf andere nehmen sollen, in Grenzen. Meistens sind es nämlich jene Leute, die das Glück hatten, entweder selbst noch kein oder wenn dann kein schlimmes Covid gehabt zu haben und/oder niemanden zu kennen, der entweder schlimm oder gar tödlich an Covid erkrankt ist, kurz gesagt: Privilegierte! Und genau diese Menschen wollen dann die weniger Privilegierten nicht mit-schützen. Und ja: natürlich hatte sozusagen die Mehrheit Glück. Beim Hochrechnen der eigenen Erfahrungen auf das große Ganze vergessen viele Menschen die nicht privilegierte Minderheit, die nicht so viel Glück hatte.
Mich stört, dass Rücksichtnahme je länger je mehr als etwas der breiten Masse Unzumutbares gehandhabt wird. Die, die keine Rücksicht nehmen wollen, verlangen, dass auf sie und ihr Nicht-Rücksichtnehmen-Wollen Rücksicht genommen wird. Wie paradox ist das denn?
Es lässt sich nämlich, wie wir inzwischen alle wissen (könnten), vorab nicht sagen, wen es wie schlimm trifft. Und bei wem nach Covid noch etwas übrig bleibt, PostCovid, LongCovid. Ich wünsche das niemandem.
Natürlich sind wir alle pandemiemüde und die vielen Menschen, die die Maßnahmen abschaffen wollen, sind mehr und darum lauter, aber rechtfertigt das wirklich, dass darum jene, die Rücksichtnahme bräuchten, einfach ignoriert werden und noch mehr in die Isolation gedrängt werden?
Nicht alles, was gerade weltweit im Argen liegt, hat mit der Pandemie zu tun. Die Pandemie ist meiner Meinung nach ‘nur’ eins der vielen Symptome, an welchem die Menschheit als globaler Körper erkrankt ist, denn letztlich hängt, da bin ich ziemlich sicher, alles zusammen. Der Überbegriff ist ‘soziale Ungerechtigkeit’, daran hängen Klima- und Energiekatastrophe, der Ukrainekrieg, die iranische Menschenrechtsrevolution, wieder aufkommender Faschismus (Regierungen in Italien, Schweden, etc.) und was alles noch im Argen liegt.
Es ist die menschliche Gier nach immer mehr, dieses Ich-zuerst!, immer auf Kosten der Ärmsten (die Menschen und Tiere, die Natur im globalen Süden leiden am meisten an der Klimaekatastrophe, obwohl genau diese am wenigsten dazu beigetragen haben, dass es soweit gekommen ist … das ist bei fast allen Themen so.).
Wir können nicht viel an den großen Stellschrauben machen, aber wir können immerhin im Kleinen versuchen, mitfühlend und solidarisch zu sein.
Nun ja, vor dem Virus, respektive davor, die Viruserkrankung selbst zu bekommen, habe ich eigentlich noch immer keine Angst, auch wenn ich hoffe, sie nicht so bald zu bekommen. Weil ich – wie wir alle – eine potentielle Multiplikatorin bin und eine Person treffen könnte, die zur Risikogruppe gehört, versuche ich, so hygienisch wie möglich zu leben. Gesunder Menschenverstand und so.
Wovor ich aber wirklich in den letzten Tagen immer ein bisschen mehr Angst bekommen habe, ist vor der Menschheit.
Mir fiel ein Gespäch ein, dass ich vor etwa zehn Jahren mit dem Liebsten geführt hatte. Es war an einem Wochenende bei ihm, wir hockten am Ofen und philosophierten über die Welt. Ich hatte die These formuliert, dass die Menschen zu Tieren werden und nur an sich selbst und ans eigene Überleben denken würden, sollte es irgendwann hart auf hart kommen. Irgendlink hoffte, dass wir alle aus der Geschichte gelernt hätten und rechnete darum mit einem gewachsenen Solidaritätsbewusstsein. Gerne hätte ich damals seine Hoffnung geteilt, aber mit Hoffen tat ich mich ja schon immer eher schwer.
Dieses Gespräch haben wir wie gesagt vor etwa zehn Jahren geführt. Vor dem ’Erstarken der neuen Rechten’ in vielen westlichen Ländern, aber auch vor dem Erwachen der neuen Willkommenskultur und bevor dieselbe wieder wegpolitisiert wurde. Es war vor der weltweiten Klimakrise und es war vor allem vor dem flächendeckenden Smartphone-Zeitalter. Die Welt war, mit Verlaub, damals noch ein klein bisschen humaner. (Oder vielleicht waren wir auch einfach noch ein bisschen hoffnungsvoller?)
In unserm Gespräch überlegten wir uns verschiedene Krisen-Szenarien und wie wir damit umgehen könnten. Wir sprachen – so erinnere ich mich – vor allem über Kriege, Lebensmittelknappheit und darüber, selbst aus irgendwelchen Gründen flüchten zu müssen. Ich glaube, weder Klimakrise, Erderwärmung noch Pandemien kamen in unseren Überlegungen vor. Warum auch immer. Zwar war ich politisch immer klar positioniert – sprich: rot-grün –, aber damals dachte, las und verfolgte ich deutlich weniger mit, was auf der Welt so alles geschieht und geschehen könnte, als ich es heute tue. Und daran ist definitiv das Handy schuld. Socialmedia. (Ich gestehe, dass ich mir in besonders dünnhäutigen Momenten diese ’Unschuld’ zurückwünsche.)
Wir sprachen damals am Holzofen darüber, was wir tun würden, wenn. Wir sprachen über Humanität und Solidarität.
Heute geschieht das alles unmittelbar vor unser aller Augen. Kriege tobten immer schon, doch gab es noch nie so viele Kriegsherde weltweit wie aktuell. Und auch im Netz herrscht vielerorten Krieg. Im eigenen Land geht der Hass um, er ist alltäglich geworden. Dazu sind wir Zeuginnen und Zeugen einer schon bald nicht mehr aufhaltbaren Klimawandels, der menschliches Leben auf der Erde in wenigen Jahren unerträglich machen wird.
Mittenhinein nun diese Krankheit – ausgelöst durch ein neues Virus –, die aktuell ungefähr zehnmal so viele Todesopfer wie eine normale Grippe fordert. Ja, schlimm, sehr schlimm. Klar. Aber schlimmer, viel schlimmer ist für mich, wie wir mit alldem umgehen. Die Verhältnismäßigkeiten. Oder besser die Unverhältnismäßigkeiten. Wenn ich Richtung Lesbos blicke, wo EU-Beauftragte Menschen erschießen, deren einziges Verbrechen darin besteht, dass sie sich ein Leben in Sicherheit wünschen, wird mir schlecht.
Wie geht Liebe in Zeiten von Corona? Besteht (Selbst-)Liebe in Zeiten von Krisen aller Art darin, Desinkfektionsmittel zu klauen, Vorräte zu hamstern, sich mit dem Verkauf gehamsterter Schutzmasken eine goldene Nase zu verdienen? Ich könnte kotzen. Und schreien. Und um mich schlagen. Das alles macht mich so wütend.
Nein, ich habe keine Angst vor dem Coronavirus, ich habe Angst vor dem Virus Egoismus, gegen den es nie eine Impfung geben wird. Ich habe Angst vor dem Virus Mensch.
Doch wie sagt Irgendlink, der noch immer hofft? »Wenn wir dem leidenden Nächsten so viel Aufmerksamkeit schenkten wie einem Virus und noch ein Schuss Anteilnahme beigäben, könnte die Welt in Ordnung kommen.«
Herzliche Leseempfehlungen:
»Stellen Sie sich vor, Solidarität wäre der allerhöchste gesellschaftliche Wert, und wir wären statt auf Egoismus darauf trainiert, immer die Schwächsten zu schützen. Und – stellen Sie sich vor, das würde nicht alles so wahnsinnig naiv und utopisch klingen. Das wär was.«
-Margarete Stokowski
Quelle: www.spiegel.de
+++
»Die Geschwindigkeit, mit der es ein Virus vom einen Ende der Welt ans andere schafft, gehört zu unserer Zeit. Es gibt keine Mauern, die es aufhalten könnten. In früheren Jahrhunderten passierte das genauso, nur etwas langsamer. Allgemein ist das größte Risiko in solchen Situationen […] ist die Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen, die Barbarisierung des zivilen Umgangs.«
-Alessandro Volta
Schulleiter des Mailänder Liceo (übersetzt von Andrea Dernbach)
Quelle: christachorherr.wordpress.com
+++
»In Wahrheit leben wir immer noch wie die Maden auf dem Grabhügel des Verschweigens. Einen Schlussstrich kann man nur dort ziehen, wo Schluss ist. Hier ist aber kein Schluss, weder im Großen noch im Kleinen.«
-Andreas Maier
Quelle: www.zeit.de
Als ich neulich dem Lied der Krähen lauschte, das ich so gern höre, dachte ich spontan über Schönheit nach und realisierte einmal mehr, wie relativ sie ist. Mein Schön ist nicht dein Schön. So ist es auch mit anderen Begriffen wie zum Beispiel Wahrheit. Ja, jeder solche komplexe Begriff bedarf, um ihn halbwegs zu verstehen, einer Definition. Zuerst einmal einer persönlichen, vielleicht familiären Definition, danach aber auch einer gesellschaftlichen. Es bedarf kollektiver Absprachen. Wir brauchen Narrative.
Traditionelle Überlieferungen mit ihren Geschichten wie es sie zum Beispiel in Religionen gibt, gelten in der jeweiligen Kultur als wahr, als Wahrheit, weil Menschen aus ihnen wahrhaftig seit Menschengedenken Trost schöpfen. Und weil wir Menschen uns eher aus Dingen, die außerhalb von uns selbst definiert werden, Weisheit erhoffen statt den Dingen in uns zu trauen. Wir erhoffen uns aus den als wahr definierten Erzählungen Wegweisung, Erkenntnis, Freispruch, Rechtsprechung, Rückhalt, wir sehnen uns nach etwas Endgültigem, Absolutem, Verlässlichem.
Wir? Nun ja manche. Viele. Einige. Ich nicht mehr wirklich. Aber manchmal ertappe ich mich beim Gedanken, wie einfach das Leben sein könnte, wenn man an etwas Absolutes glauben kann.
Aber dann fällt mir schnell wieder ein, dass ich das nicht will, nicht mehr. Auch wenn ich natürlich nicht wirklich an nichts glaube, denn ich glaube an Zusammenhänge, ich glaube an die Natur und all das Sicht- und Unsichtbare, das zwischen allem, was lebt und was ist, geschieht. Doch an etwas Absolutes – an ’die eine einzige Wahrheit’ – zu glauben, finde ich je länger je gefährlicher.
Glauben vergrößert in aller Regel die blinden Flecken, die wir alle haben. Irgendwann fängst du nämlich an, jene Dinge, die du von Natur aus hinterfragen würdest, nicht mehr zu hinterfragen (Rassenlehren zum Beispiel, Diskriminierungen von Minderheiten und so weiter). Solche blinden Flecken können fatale Folgen haben. Vielleicht hörst du auf, zu hinterfragen. Vielleicht hörst du auf, hinzuschauen.
Hinschauen tut oft weh. Aber auch Nicht-Hinschauen kann quälend sein.
Schaue ich nicht mehr hin, quält mich die Ungewissheit, beim Hinschauen die Gewissheit. Beides tut weh. Leben tut oft weh.
Und dabei sehen wir ja immer nur einen Ausschnitt vom Ganzen. (Doch was ist schon das Ganze?)
Was immer du liest, ist immer nur eine Perspektive, so gut recherchiert und so objektiv diese auch sein mag. Die endgültig richtige Sichtweise gibt es nicht.
Ob es auch für Liebe verschiedene Sichtweisen gibt? Vermutlich. Und vielleicht ist auch Bedingungslosigkeit letztlich nicht einfach nur das, was du dir darunter vorstellst, denn jeder Begriff ist, ich erwähnte es bereits, von deiner persönlichen Geschichte geformt worden, angelehnt an so etwas wie jene bereits erwähnte kollektive Absprache der jeweiligen Gesellschaft.
Höre ich das Wort BANK sehe ich spontan diese eine rote Bank auf einem Spazierweg meiner Kindheit. Gleich danach sehe ich Irgendlinks selbstgebaute, die lange unter den drei Birken stand. Und ich rieche Sommer und Heu.
Jede*r sieht eine andere Bank, manche sehen vielleicht kein inneres Bild, manche sehen etwas Abstraktes. Manche haben Wörter und manche fühlen die Bank unter sich, wenn sie das Wort hören, andere riechen den Wald, während sich andere einen Park drumrum vorstellen.
Unsere Geschichte schreibt sich in uns weiter und weiter. In jedes Wort hinein. Ist das nicht faszinierend? Schön?
Ah, was war da gleich noch mit der Schönheit?
+++
Auf Twitter bat ich gestern darum, zum Thema BANK frei zu assoziieren. Sehr spannend, was dabei herausgekommen ist.
Ein herzliches Dankeschön, an alle, die geantwortet und/oder den Tweet geteilt haben.
Von Hundespazierganz bis Korruption und Banküberfall ist fast alles dabei. Guckt selbst:
Freie Assoziationen gesucht, also Bilder, Wörter, Gefühle, Sinnliches.
Was fällt dir ein zum Wort:
BANK …
(Schreibe bitte, ohne vorher die anderen Kommentare zu lesen.)
Juna Grossmanns Buch über das Ende der Schonzeit ist leider hochaktuell. Er hat nur geschlummert, der (deutsche) Antisemitismus, weg war er nie. Wie andere Auswüchse von Fremdenhass und Rassismus ist auch der Antisemitimus, diese Feindlichkeit allem Jüdischen gegenüber, in den letzten Jahren wieder deutlich fühlbarer und sichtbarer geworden.
Buchcover Schonzeit vorbei von Juna Grossmann
Aufgewachsen in Berlins Osten hatte sich Juna Grossmann nach dem Mauerfall entschieden, ihre jüdischen Wurzeln ernstzunehmen und herauszufinden, wie es sich in der heutigen Gesellschaft als Jüdin lebt. »Erst als junge Erwachsene, wenn man so auf Spurensuche geht, da habe ich meine jüdischen Wurzeln gefühlt«, erinnert sie sich. »Damals war dieser inzwischen alltägliche Antisemitismus gar kein Thema, ich führte ein hoffnungsvolles jüdisches Leben in einer entspannten Zeit. Heute sehe ich das ganz anders. Über die Jahre ist es immer mehr geworden, dabei gab es gewisse Zäsuren«*
Bereits seit zehn Jahren schreibt Grossmann in ihrem Blog ’irgendwie jüdisch’ über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus. In ihrem Artikel Auf Papier erzählt sie, wie es zu ihrem Buch gekommen ist. In Schonzeit vorbei schreibt sie zum einen über ihre ganz persönlichen Erfahrungen zum anderen über die Erlebnisse und Erfahrungen anderer Juden und Jüdinnen, die im heutigen Deutschland leben.
Es könnte aktueller nicht sein, was sie schreibt. Obwohl ich recht sensibel gegenüber jeglicher Form von Rassismus bin, erschrak ich doch darüber, wie weitverbreitet Antisemitismus ist. Und wie viele Vorurteile es über das Judentum gibt. (Ob es in der Schweiz ebenso aussieht, kann ich nicht sagen, aber ich ahne, dass es ähnlich ist.) Fakt ist, dass wir alle das eine oder andere Vorurteil haben. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen. Wir können Vorurteile unhinterfragt glauben und auf ihnen unser Menschen- und Weltbild aufbauen oder aber wir können versuchen, ihnen auf den Grund zu gehen, herauszufinden, was es mit ihnen auf sich hat und woher sie kommen – zum Beispiel indem wir Fragen stellen, uns informieren.
Einige Jahre lang hat Grossmann im Jüdischen Museum Berlin unzählige Fragen beantwortet. In ihrem Buch schreibt sie über Begegnungen, die sie als Mitarbeiterin dieses Museums hatte, haarsträubende und berührende. Sie schreibt über Anfeindungen und Bedrohungen und sie schreibt über jene eine Ausstellung, die sich dem Thema Hass- und Drohbriefe gewidmet hatte. Grossmann beobachtet die politische Entwicklungen schon länger und vergleicht Fakten mit dem, was die Gesellschaft zu sehen bekommt. Immer wieder zeigt sie auf, was Anfeindungen aller Art mit einzelnen Menschen machen. Und mit einer Gesellschaft. Wie Hass Menschen kaputt macht – hassende ebenso wie gehasste.
Warum nur fällt es vielen Menschen so schwer, anderen das Recht zuzugestehen, auf ihre Art und Weise zu denken, zu fühlen, zu leben und zu glauben, solange dabei niemand zu schaden kommt? Und woher kommt dieser ganze Hass? (Ist es womöglich, wie Die Ärzte singen, ein Schrei nach Liebe?)
Wie auch immer. Aufklärung tut Not. Mit ihrem Buch leistet Juna Grossmann einen wichtigen Beitrag dazu und ich wünsche ihr und ihrem Buch viele aufmerksame Leserinnen und Leser.
Meine erste Nacht unter freiem Sternenhimmel erlebte ich ziemlich spät. Ich muss bereits etwa siebzehn Jahre alt gewesen sein. In einem Pfingstlager war es; und ich erinnere mich kaum mehr an Details. Eigentlich nur noch daran, wie erstaunt ich gewesen war über die Feuchtigkeit des Frühsommermorgens im Wald.
Später hatte ich immer mal wieder mit Freundinnen und Freunden die eine oder andere Nacht in der freien Natur verbracht – von Zeltplätzen einmal abgesehen. Aber auch in der Wildnis häufiger mit Zelt drumrum als ohne. Und obschon ich Nächte im Zelt liebe, ist doch dieses Gefühl, unter dem freien Sternenhimmel zu schlafen, durch nichts zu übertreffen. (Natürlich spreche ich von warmen (Früh-)Sommernächten, denn ich friere schnell.)
Bereits vor vielen Jahren machte ich mir Gedanken darüber, wie es wohl wäre, einmal ganz allein in der Natur zu übernachten. Hätte ich eine Löffelliste – eine Liste also mit Dingen drauf, die ich tun will, bevor ich eines Tages den Löffel abgebe –, wäre ’allein unter freiem Himmel schlafen’ sicher einer der ersten Punkte. Gewesen. Denn jetzt kann ich diesen Punkt ja abhaken. Wobei … ich ahne, dass es nicht meine letzte Alleinnacht war.
Dass ich es endlich getan, gewagt, habe, verdanke ich der lieben M. (2), die mich gestern eigentlich hatte besuchen wollen. Zu Fuß startete sie am Samstagmorgen fünfzig Kilometer von mir entfernt und näherte sich meiner Wohngegend dem Lauf der Aare folgend, dem Fluss der unsere Wohnorte miteinander verbindet.
Ich selbst machte mich erst am späten Samstagnachmittag auf den Weg. Mein Fahrrad belud ich mit Schlafsack, Matte, Überlebensdecke, Buch, zweieinhalb Liter Wasser, Picknick, Zahnbürste und einem guten Buch. Klingt nach wenig, ist aber dann doch einiges an Material.
Auf mir wohlbekannten Wegen fuhr ich der Aare entlang und hielt immer mal wieder Ausschau nach einem schönen Platz, zumal ja nicht die Radtour im Vordergrund stand. Ich kenne hier viele schöne Plätze, denn ich bin nicht weit von hier aufgewachsen und habe als Jugendliche und auch später, als ich schon mal in der Gegend gewohnt hatte, viele schöne Sommerabende am einen oder anderen Kies- oder Sandstrand und auf dieser oder jener Halbinsel verbracht.
Dass diese noch immer heiß begehrt sind, musste ich schnell feststellen. Alle Lieblingsplätze, die ich beim Vorüberradeln sah, waren besetzt. Und beschallt. Womit wir beim Punkt wären, warum ich mich bisher vor so einer Nacht in der Natur gefürchtet hatte. Die Leute. Das Partyvolk. Menschen, die lärmen. Weniger also die Natur, obwohl auch diese natürlich meinen ganzen Respekt hat.
Ich ließ die lärmenden Menschen links liegen und fuhr weiter. Und auf einmal war er da, der Flow. Die Ruhe. Ich machte immer wieder Pausen, setzte mich auf sonnige und auf schattige Bänke; und auf Steinstufen, badete die Füße und genoss es einfach zu sein. Ich blieb immer genauso lange, wie ich mich an einem Ort wohl fühlte. Und immer nur dort, wo ich mich wohlfühlte. In mir drin das ruhige Wissen, dass ich jederzeit umkehren und nach Hause radeln könnte.
Selbst als ich bereits meinen Platz für die Nacht gefunden hatte, war diese Ruhe in mir, dass ich nichts muss, ich muss niemandem etwas beweisen. Da war einfach diese tiefe, innere Gewissheit, dass es gut ist, wie es ist. Zwischen einem Rapsfeld und einem Waldrand, auf einem Stück Wiese, fand ich schließlich meinen Platz. Eigentlich für einen Frischling in Sachen ’Schlafen unterm Sternenhimmel’ perfekt. Hier würde ich meine Ruhe haben, fernab vom Partyvolk. Vom Radweg nicht allzu weit entfernt, aber wegen des Rapsfeldes war ich hier praktisch unsichtbar.
Derweil hatte auch M. mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass überall an den Stränden und schönen Plätzen schon Menschen waren. Schließlich fand auch sie einen Nachtplatz. Und ja, auch für sie war es das erste Mal allein unterm Sternenhimmel. Wir schrieben hin und her und nach einem kleinen Anruf beim Liebsten legte ich mich um zehn bereits schlafen. Es war dunkel und das Beobachten der Nacht spannender als mein Buch. So blieb ich noch eine Weile wach und lauschte dem Glücksgefühl in mir nach. (Endorphine und so.) Der Halbmond leuchtete mir ins Gesicht und tauchte alles um mich in ein sanftes Licht.
Überhaupt: Dämmerung. Sie ist für mich die schönste Tageszeit, wenn ich draußen schlafe. Noch nicht dunkel, noch nicht wieder hell. Zwischenwelt.
Während ich vor mich hindöste und den Geräuschen der Nacht lauschte (auch die Autobahn gehört dazu, fern zwar, aber hörbar), erinnerte ich mich an frühere Nächte unterm Sternenhimmel. Im Wald, am Gerzensee mit anschließendem Morgenbad, in St. Lup, in Israel, an der Melezza, anderswo an der Aare, zwischen den Mauern einer Ruine, immer mehr Orte und Nächte fielen mir ein und ich dachte dabei an all die Menschen, neben denen ich schon unterm Sternenhimmel geschlafen hatte. Verbundenheit. Frieden. Dankbarkeit. Und irgendwann schlief ich tief und fest ein.
Als ich um halb fünf pinkeln musste, war es noch dunkel, dunkler als beim Einschlafen, da sich der Mond nun woanders aufhielt; und es war kalt. Neun Grad. Diesmal dauerte es eine ganze Weile, bis mir warm wurde und ich weiterschlafen konnte. Kurz nach dem ersten Vogelgesang – 5:45 sagte mein Handy – döste ich wieder ein und verpennte den Sonnenaufgang.
Erst um halb acht wurde ich wieder wach. Richtig erholt fühlte ich mich. Richtig wohl. Richtig geborgen. Auch M. hatte es so ähnlich erlebt, doch weil sie am Vortag über dreißig Kilometer gewandert war, fühlte sie sich zu erschöpft zum Weiterwandern und fuhr mit dem Zug nach Hause. Genau das meint Selbstfürsorge. Genau das ist Selbstmitgefühl. Wir klopften uns gegenseitig verbal auf die Schultern, wir Heldinnen.
Auf dem Heimweg fand ich einen Weg, den ich schon viel zu lange nicht mehr geradelt bin. Was für eine schöne Gegend eigentlich, in der ich lebe!
Und wie schön, dass ich ein Zuhause habe, eine warme Dusche, ein Bett. Dinge, die so selbstverständlich zu sein scheinen, wertschätze ich nach einer Nacht in der Wildnis definitiv mehr.
Sonne oben und unten, gespiegelt in der Aare
Sonnenspiegelbild
Neben mir Schilf und Gras
Mein erstes Aarefußbad des Jahres. Zehn Grad.
Und nochmals Sonne in Aare
Hier habe ich schwimmen gelernt. Aber früher war der Dreimeterturm höher, ich schwör!
Screenshot der Wetterapp: Morgens um fünf zeigt die App neun Grad
Über mir Bäume
Was ich sehe, wenn ich liege: Rapsfeld, Himmel, Bäume
Was ich sehe, wenn ich geradeaus blicke: Bäume, Wiese, Rapsfeld
Die Sonne hinter den Bäumen und Sträuchern
Ein Halbselfie mit Rapsfeld.
Bäume über mir.
Rapsfeld mit Blauhimmel.
Vor mir das taunasse Gras und ein bisschen Schlafsack mit im Bild
Das Gras neben mir macht meine Schuhe klitschnass. Egal.
Du könntest eigentlich das Zelt mitbringen, hatte ich vor einer Woche zum Liebsten gesagt. Wir könnten ja mal wieder. Den Liebsten muss man für solcherlei nicht erst groß überreden und so planten wir am letzten Donnerstagabend – er war ein paar Stunden vorher angekommen – einen kleinen Ausflug mit Zelt und schön und Natur und nicht zu weit und so. Innerschweiz? Hm. Joa. Oder Züri Oberland? Hm. Oder – wie wärs mit Schwarzwald? Wutachschlucht?
Der Zeltplatz, den wir aus dem Netz fischten, hatte sogar schon geöffnet und so haben wir am Samstagvormittag das Auto gepackt und sind losgefahren. Weit ist es ja nicht, aber weil die Grenze von all den Schweizer EinkaufstouristInnen verstopft war, fuhren wir einen kleinen Umweg und erreichten um eins den Camping Stühlingen.
Das Zelt hatten wir rasch aufgebaut – direkt beim gedeckten Pavillon mit drei Tischen darunter – und schon bald waren wir zu Fuß unterwegs. Ja, diese kleine Wanderung war genau das, was ich gebraucht hatte!
Nach einem kleinen Einkauf entfachten wir am Grillplatz am Ende des Campingplatzes ein Feuerchen und grillten unser Abendessen. Seelenwohltuend. Und ja, auch gut gegen die Kälte, ist so ein Feuer. Schließlich wurde es eine ziemlich kalte Nacht im Zelt, fünf Grad oder so, und es dauerte am Morgen eine ganze Weile, bis wir wieder warm hatten. Zumal die Sonne eine Weile brauchte, bis sie die Hügel überwunden und unsern Zeltplatz gefunden hatte. Zu allem Übel hatte ich Bauch- und Kopfweh und aus unerfindlichen Gründen meine Kopfwehtabletten nicht eingepackt. Mist aber auch.
Die nächste notfalldiensthabende Apotheke war in Neustadt bei Titisee und so planten wir kurzerhand um. Statt die Wutachschlucht zu erwandern, stand nun Tabletten kaufen auf dem Programm. Bis die Tabletten wirken würden, beschlossen wir es ruhig anzugehen. Überhaupt … es ruhig angehen ist eh genau richtig. Nach einem kleinen Spaziergang am Neustadter Stadtrand mit Sonnetanken fuhren wir an den nahen Titisee, das ich alsbald ’das Büsum, Helgoland und Interlaken des Schwarzwaldes’ nannte. So viele Touristen und Touristinnen auf einen Haufen! Von überall. Lange hielten wir es hier nicht aus. Uns zog es in die Natur und so fuhren wir doch noch in die Wutachschlucht, wie es uns die Zeltplatzbesitzerin am Vorabend ans Herz gelegt hatte.
Der Wegweiser in die Lotenbachklamm sprang uns beiden beim Wanderparkplatz bei der Schattenmühle sofort ins Auge. Da wir beide wegen der kalten Nacht wenig erholsam geschlafen hatten, beschlossen wir diese eher kurze Wanderung zu machen – knapp anderthalb Kilometer rauf und später wieder runter. Eine weise Entscheidung!
Zum einen war es ein wunderbares Stück Weg über felsiges Terrain, genau nach unserem Geschmack, zum anderen waren alle Leute unterwegs sehr freundlich und rücksichtvoll. Die Klamm? Einfach nur wunderschön! Sonnenlicht, das durch frühlingszartes Blätterdach fällt. Das Rauschen des Lotenbachs tat das seine. Meine Sinne waren weit offen und das Kopfweh endlich vergangen. Oben angelangt fanden wir eine Wiese, die geradezu zum Picknicken und zu einem Nickerchen einlud. Herz, was willst du mehr?
Später, zurück auf dem Zeltplatz, waren deutlich mehr CamperInnen auf dem Platz und ’unser’ Pavillon besetzt. Für die Nacht und den Montag war zudem Regen angesagt, sodass wir kurz überlegten, ob wir das Zelt abbauen und nach Hause fahren sollten. Nach einigem Hin und Her entschieden wir uns stattdessen, das Zelt hinten beim Grillplatz aufzubauen. Dass das erlaubt war, hatten wir erst am Samstagabend erfahren. Beim Grillplatz steht ein Schutzdach neben dem kleinen Bürohäuschen. Warum eigentlich nicht darunter das Zelt aufbauen?, fragte ich. Hey, super Idee, meinte der Liebste, das machen wir! Dann müssen wir am Morgen, wenn es regnet, nicht direkt aus dem Zelt in den Regen hineinklettern.
Wieder entfachten wir ein Feuer. Der Regen hielt sich brav zurück und wartete, in den Wolken hockend, die Nacht ab. Unser zweiter Abend in Stühlingen war deutlich wärmer. Was doch so ein paar Grade ausmachen! Auch die Nacht war weniger kalt als die vorherige und so schliefen wir beide tief und fest und wachten erholt und erfrischt auf. Das bisschen Regen, das nachts gefallen war, hatte uns nicht gestört. Am Morgen schien wieder die Sonne und so konnten wir gemütlich frühstücken und das Zelt abbauen.
Wir hatten uns entschieden, an die Rheinfälle zu fahren. Die größten Wasserfälle Europas. Und ja, ich bin tatsächlich – trotz der Nähe – noch nie dort gewesen, während Irgendlink, der ja ein paar hundert Kilometer weiter weg wohnt, schon einige Male – zuletzt auf der Flussnoten-Rheinradeltour – diese tosenden Wassermassen bestaunt hat.
Wenn schon, denn schon!, sagten wir uns und kauften Tickets für eine kleine Hafenrundfahrt. Uns hats gefallen.
Noch hielt das Wetter, obwohl die Sonne ab und zu Wolkenverstecken spielte, und so beschlossen wir, über Land zu fahren und irgendwo, an einem schönen Hügel, eine kleine Wanderung mit Picknick einzulegen, bevor wir wieder nach Hause fahren würden.
Unsere Pläne fielen buchstäblich ins Wasser. Der Regen hatte sich uns an die Fersen, an die Räder, geheftet und war immer genau dort, wo wir lang fuhren. Zuerst dem Lauf des Rheins folgend, später quer über Land. Und immer war der Regen auch schon da.
Okay, dann picknicken wir halt an meinem Esstisch!
+++
Nur schon zwei Tage reichen manchmal, um den Kopf wieder ein bisschen freier zu bekommen und all das, was uns im Alltag so selbstverständlich vorkommt, als wertvoll vor Augen zu führen. Ich sage ja nur: Badewanne.
Schon seit unserem Besuch bei Freunden in Itzehoe geisterte die Idee in unseren Köpfen, dass wir eigentlich auf dem Rückweg aus dem Norden in Kiel ankern und uns Manuel Zints Ausstellung Nawodo anschauen könnten. Die Einladungen dazu hatte er uns bei unserm Treffen anlässlich einer Ausstellung in Itzehoe in die Hand gedrückt.
Dass diese Ausstellung an unsere Erlebnisse auf dem Broager Friedhof anknüpfen würde, ahnte ich natürlich nicht.
Auf dem Broager Friedhof in Südjütland haben wir nämlich ein Denkmal der etwas anderen Art gefunden. Dieses Ehrenmal gedenkt der Gräuel und der Opfer des ersten Weltkrieges. Noch kein sogenanntes Kriegsdenkmal hat mich je so berührt wie dieses.
Auf einem Hügel sind neun? einige Eichen gepflanzt worden. Drum herum, in Gruppen, nach Gemeinden, stehen zig große Steine – je betroffene Familie einer – mit den eingravierten Namen der Gefallenen. Diese Steine haben Jugendliche der Gemeinden 1922 vom Strand geholt, nachdem dieser Landstrich endlich Dänemark angehörte. Wie ich die Steine mit den hundertneunzig Namen abschritt und mir das Leid in den Familien vorstellte, die im Krieg ihre Söhne verloren haben – manche davon zwei, drei, vier, eine oder zwei sogar fünf – konnte ich meine Tränen nicht mehr länger zurückhalten.
Die Unfähigkeit, adäquat mit Konflikten umzugehen und diese, statt konstruktiv in Lösungen in Gewalt umzuwandeln – diese Unfähigkeit ist Mitursache jeden Krieges, ob klein oder groß. Diese Unfähigkeit hat schon so viele Leben gekostet. Lange noch blieben wir auf der Treppe zum Hügel sitzen und sprachen über die Sinnlosigkeit von Krieg.
Zwei Tage später. In Kiel besuchen wir Manuel Zints Denkmal für den Untergang von Nawodo. Manuel Zint, ein Itzehoer Künstler, verwebt Fiktion und Realität wie kein Zweiter. Auf der Facebuuk-Seite zur Ausstellung steht: »Manuel Zint, Arrangeur nachvollziehbarer Parallelwirklichkeiten, zeigt in dieser Ausstellung das Schicksal der Südseeinsel Nawodo. Während des ersten Weltkriegs zerstörte ein deutsches Expeditionskorps die Stadt Nawodo auf der gleichnamigen Südseeinsel – heute Nauru. Ausgehend von dieser Begebenheit spannt die Ausstellung einen Bogen vom Verlust des Paradieses über die nachfolgende Gedenkkultur bis in die gegenwärtigen (inhumanen) Zustände der Ressourcen- und Flüchtlingspolitik der Industrienationen. In der Ausstellung werden die Phänomene von Deutungshoheit und Inszenierung behandelt; die ausgedachte Geschichte im Sinne einer fiktiven künstlerischen Feldforschung untersucht, interpretiert und angeordnet. Das daraus resultierende System fordert zur Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur und Selbstwahrnehmung auf.«
Ein Teil der Ausstellung gilt (fiktiven) Ehren-, Mahn- und Denkmalentwürfen teils fiktiver, teil realer Künstler. Hier kommt Manuel Zints technisch-fachliche und kreative Vielseitigkeit voll zum Tragen. Nicht nur bildnerische Techniken (über Kohle und Aquarell zu Fotografie und Acrylgemälde) werden gezeigt, auch dreidimensionale Werke aus Papier, Kunst- und anderen Werkstoffen wie zum Beispiel Ton kommen zur Anwendung.
All das aber ist letztlich – in seiner ganzen Schönheit, Vielseitigkeit und technischen Finesse – doch nur Mittel zum Zweck. Die Botschaft ist unüberhörbar und passt an diesen nicht zufällig gewählten Ort, an welchem die Ausstellung noch bis Dezember stattfindet. Sie lautet: Krieg ist und bleibt sinnlos und destruktiv.
Der Flandernbunker, in welchem diese Ausstellung gezeigt wird, ist schon für sich genommen ein Mahnmal – Mahnmal Kilian e. V. – und hat sich zur Aufgabe gemacht, Krieg und seine Gräuel zu thematisieren. In einer Glasbox vor dem Bunker können zum Beispiel Kinder ihr Kriegsspielzeug antikriegsgerecht entsorgen. (Leider ist die Box erst wenig gefüllt … da geht noch mehr!)
Ein Ehrenmal, ein Denkmal erinnert in der Regel an Menschen, die sich geopfert haben. In Kiel haben wir ein U-Boot-Denkmal gesehen, das den deutschen U-Boot-Soldaten, die ums Leben gekommen sind, gewidmet ist. Ich schlucke schwer. Denkmale für Menschen, deren Machthaber den Krieg angezettelt haben, lösen bei mir immer äußerst ambivalente Gefühle aus. Sind nicht auch sie letztllich Opfer und darum würdig geehrt zu werden? Wie viel haben sie gewusst? Hätten sie sich weigern können in den Krieg zu ziehen oder wollten sie es sogar?
Manuel Zint hat einem fiktiven Soldaten, der bei den Gräueln auf Nawodo dabei gewesen ist, eine spätere Kriegszeichner-Karriere angedichtet, da er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr kämpfen konnte. Von diesem Soldaten stammt die (fiktive) Zeichnung eines toten Kindes am Strand, das für die spätere Anti-Krieg-Propaganda verwendet wurde (siehe Bilder).
Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen damals und heute verlaufen in dieser Ausstellung fließend. Kolonialismus und die Flucht in eine vermeintlich bessere, sicherere Welt sind heute so aktuell wie damals. Zint verwebt gekonnt und lässt mich betroffen, erschüttert, berührt zurück.
Die Bilder stammen teils von Irgendlink und teils von mir. Sie werden durch Draufklicken groß [Galerie].
Etwas mehr als zwei Wochen lang sind wir nordwärts gefahren. Mit Auto und Zelt haben wir uns über Bundes- und Landstraßen treiben lassen. Sind geblieben, wo es uns gefallen hat; sind weitergezogen, wenn die Möwen uns weiter nordwärts gerufen haben. So fuhren wir aus dem Süden – der Schweiz resp. der Südpfalz – über Bielefeld ins Alte Land Niedersachsen, nach Itzehoe in Schleswig-Holstein, an die Nordseeküste Schleswig-Holsteins, auf Nordstrand, weiter ins dänische Südjütland (nach Broager um genau zu sein), weiter an der Ostsee bleibend nach Kiel und von da aus schließlich wieder zurück.
Vor zweieinhalb Wochen haben wir im niedersächsischen Stade, das sich als sehr kulturaffine Stadt mit einem richtig schönen Ortsbild entpuppt hat, im dortigen Kunsthaus die Ausstellung von Wolfgang Herrndorf besucht. Sie hängt übrigens noch bis Anfang Okotober und ist echt empfehlenswert. Diese Bilderschau zeigt das bildnerische Schaffen Herrndorfs, der ja vor allem durch seine Romane und sein Blog, in welchem er über seine Tumorerkrankung und deren Auswirkungen auf sein Leben geschrieben hat, bekannt geworden ist. Vor vier Jahren hat er sich entschieden, seinem Zerfall und Leiden mit einem selbstgewählten Tod ein Ende zu setzen. Die gezeigten Bilder stammen aus seinem Nachlass. Sie zeigen seine unglaubliche künstlerische Weite und Vielseitigkeit, die ja auch in seinen Gedanken und Texten sichtbar geworden ist.
Dass er sich als bildnerischer Künstler hauptsächlich mit Auftragsarbeiten – für Satiremagazine ebenso wie für Verlage – über Wasser halten musste, hat ihn, wenn ich seine Texte richtig verstehe, sehr frustriert. Vielleicht darum hat er eines Tages das Malen gelassen und sich dem Schreiben zugewendet. Einen Teil seiner Bilder hat er, so lese ich auf Informationstexten, sogar ein Jahr vor seinem Tod zerstört.
»Es ist Herrndorfs unbestechlicher Blick gewesen, der die Schönheit der Natur, aber auch die Skurrilität des Lebens und die bizarren Facetten der menschlichen Gesellschaft aufdeckte. Er war auch als bildender Künstler ein Beobachter, Gestalter und Erzähler.«
Quelle: www.museen-stade.de
Wie auch immer: Die Ausstellung zeigt eine Vielseitigkeit, die ich selten so bei einem Künstler gesehen habe. Herrndorf zitiert Klassiker ebenso gekonnt wie er simple Redewendungen in Wortbilder und Comics übersetzt. Von Skizzen zu opulenten Gemälden ist alles da und fast kann ich nicht glauben, dass seine göttliche Komödie ein zeitgenössisches Gemälde ist und kein antikes.
Uns beiden hat es richtig Spaß gemacht, uns in die Bilder einzulesen, ihre Geschichten zu hören, sie zu betrachten.
Die Bilder stammen teils von Irgendlink (leider unabsichtlich mit einer etwas gelbstichigen Fehleinstellung aufgenommen) und teils von mir. Sie werden durch Draufklicken groß [Galerie].
Tipp: Mit der Eintrittskarte zum Kunsthaus können auch das städische Museum und das Freilichtmuseum besucht werden.