Veränderbar, aber wir müssen es wollen

Unsere Körper gehorchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, körpereigenen Strukturen. So und so funktioniert ein Körper, so und so hat er sich seit Anbeginn der Zeit entwickelt.

Würde die Menschheit – die gesamte menschliche Gesellschaft – wie so ein Körper funktionieren, wie sähe da wohl die natürliche Struktur und Gesetzmäßigkeit aus? Gibt es eine allen Säugentieren übergeordnete Struktur? Wohl kaum, ich glaube, wir müssen da näher hinzoomen und jede Spezies gesondert betrachten.

Wie viele tausend Jahre tun wir Menschen nun bereits so, als wären Patriarchat und Frauenunterdrückung naturgemäße Strukturen und Gesetzmäßigkeiten? Selbst heute, mit all den Erkenntnissen, die wir inzwischen haben, leben wir gemäß verinnerlichten monotheistischen und patriarchalen Weltbildern, die so gar nichts mit der wahren Natur des Menschseins gemein haben. Vielmehr ist es doch die weibliche, die matriarchale Struktur, die der Natur entspricht: Nähren, hegen, wachsen, gemeinsam leben fördern.

Dennoch leben wir alle so, als wären diese patriarchalen Strukturen unabänderlich. Wir verhalten uns diesen verinnerlichten Regeln gemäß, haben sogar (oft) sehr gründlich aufgehört, darüber nachzudenken, wie sich Grundsätzliches verändern ließe, zu tief ist das Gewohnte in all unserm Tun verankert. Zeit und Kraft fehlen, zu sehr sind wir mit dem Erhalt des Status Quo, den wir so gar nicht unbedingt richtig finden, beschäftigt. Mangels Alternativen (aber da bin ich eben gar nicht so sicher. Es gäbe sie, aber wir kennen sie noch nicht).

Ich sehe diese patriarchalen Strukturen, diese Weltbilder, wann immer ich Nachrichten und Bücher lese, Filme gucke. Sie funktionieren ganz automatisch. Die Darstellung von Männer und Frauen – in der Berichterstattung ebenso wie in der Fiktion – vorhersehbar: Die Frau, oft hilfsbedürftig und in der Opferrolle, von physischer, struktureller und/oder sexueller Gewalt bedroht – in den Nachrichten und Krimis ebenso wie in Gesellschaftsromanen. Der Mann, oft stark und nicht selten gewaltbereit. Ausnahmen gibt es zum Glück immer mehr, in der Realität ebenso wie in der Fiktion, doch meistens wissen alle Mitspielenden, wo ihr Platz ist.

Ich sehne mich nach neuen Geschichten. Ich habe zuweilen sogar Lust, selbst eine neue Geschichte zu schreiben. Sie müsste, ahne ich, irgendwo in der (hoffentlich nahen) Zukunft angesiedelt sein, da auf matriarchalen Strukturen basierendes Alltagsleben noch Theorie und Utopie ist. Vielleicht  gibt es ja bald ein neues Untergenre von Fantasy? Hoffentlich.

Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich gestern Abend, nachdem ich mir einen weiteren Teil der vierteiligen Miniserie ’Unorthodox’ auf Netflix angeschaut hatte. Ich ertrage es, zugegeben, nur sehr schlecht, Esther und den anderen jungen Frauen beim Leben in ihrer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York zuzuschauen. Am schwersten auszuhalten ist für mich, wie manche Frauen ’das traditionellen Wissen’ an die jüngeren Frauen weitergeben. Wissen à la ’Wie macht man einen Mann glücklich?’ Dabei bleibt die natürliche weibliche Lust auf der Strecke – denn sie ist sündig. Eine Frau ist in erster Linie Gebärmaschine. Wenn ich von dieser einen Gemeinschaft den Blick weite und all die unzähligen Gesellschaften rund um den Erdball betrachte, in denen Frauen keine oder kaum Rechte auf eigene Bedürfnisse und Entfaltung haben (Iran, Afghanistan, Asien, Afrika), wird mir das Herz schwer. Für mich persönlich am schlimmsten empfinde ich es dort, wo die Regeln (angeblich) aus monotheistischen Quellen stammen – von männlich gelesenen Göttern diktiert. Genitalverstümmelungen und andere Verbrechen am weiblichen Körper. (Wie können Menschen an Götter glauben, die solche Dinge von den Menschen verlangen?)

Ob ich noch Hoffnung für die Menschheit habe? Ein bisschen. Wenn wir das Betriebssystem von patriarchal auf matriarchal zu drehen vermögen, könnte es funktionieren. Vielleicht.

Alt wird neu – und immer weiter

Jetzt sind wir also drüben in der eben noch weitwegen Zukunft. Aber nein, wir sind doch immer in der Gegenwart, die letztlich illusorisch ist, denn kaum erlebt, ist sie schon vergangen.

Das erste Mal seit ich denken kann, schenkte ich dem Jahreswechsel kaum Aufmerksamkeit. Keine großen mentalen Vorbereitungen. Keine Karten zum Jahreswechsel. Keine geplanten Neujahrsansprachen im Blogformat. Und der histaminfreie Versecco, mit dem wir angestoßen haben, stammte sogar noch vom Vorjahr.

Kurz und gut: Da ist wenig Ambition in Sachen 2022, dass das neue Jahr so viel anders und so viel besser werden könnte als das letzte. Obwohl das vergangene so schlecht auch nicht war. Es war einfach. Es hat stattgefunden und wir haben uns rund um die Pandemie so gut es eben geht eingerichtet. Haben uns mit den Ängsten und Gefahren arrangiert. Haben Erfahrungen gemacht und Erlebnisse gesammelt. Vieles war gut, vieles war doof, vieles war ungewohnt.

Und ausgerechnet an einem der letzten Tage des Jahres passiert Irgendlink und mir dann etwas ziemlich Verrücktes. Mein Autoradio ist seit etwa einem Monat am Zicken und seit einer Woche konnte ich noch nicht einmal mehr die Lautstärke regulieren. Hörbücher via Handy zu hören, ging nicht mehr. Kurz gesagt: Doof.

Kurzerhand guugelte ich Radioreparatur-Anleitungen und recherchiert was ein gebrauchtes Ersatzradio kosten würde. Ich sagte zu Irgendlink: Lass uns mal testweise gucken, ob wir das Radio überhaupt ohne professionalle Hilfe ausbauen können. (Kleiner Hintergedanke dabei war natürlich, dass da vielleicht nur ein Kabel falsch eingestöpselt sein könnte, das wir wieder einstöpseln könnten.) Das taten wir. Alle Kabel sahen richtig verortet und in Ordnung aus, weshalb wir das Radio wieder einbauten. Siehe da – alles geht wieder! Alles.

Fazit: Manchmal hilft ein Neustart. Schön wär’s, wenn wir das im Leben auch so einfach könnten …

Bloß klappen Neuanfänge selten ohne Umdenken und Veränderungen. Wie sagte doch Albert Einstein so schön (oder vielleicht auch seine Frau, bei der er ja ziemlich viel abgekupfert haben soll):

»Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.«

Sinngemäß haben wir uns die letzten Tage oft über den Inhalt dieses Satzes unterhalten, ohne ihn zu kennen. (Gelesen habe ich ihn nämlich erst neulich das erste Mal auf Twitter.)

Wie bereit sind wir, uns zu verändern, anders gesagt: Brauchen wir erst einen gewissen Leidensdruck, um etwas zu verändern? Und lässt sich wirklich alles verändern, was auf der Seele drückt oder im Körper zwickt?

Und was ist mit den andern, denn wir alle tragen ja auf die eine oder andere Weise Verantwortung für unsere Mitmenschen. Darüber sprachen wir, als wir gestern Nachmittag zu unserm Freund S. fuhren, der dem Virustod von der Schippe gesprungen ist. Kurz zuvor war Freundin S. kurz vorbeigekommen, die sich aktuell neben ihrer eigenen Trauer um den verstorbenen Vater intensiv um ihre verwitwete Mutter kümmert.

‘Das eigene Leben temporär hintanstellen’ ist also dieser Tage immer mal wieder Thema bei uns. Man kann sich ob all der Bedürfnisse und Bedürftigkeiten anderer, um die wir uns kümmern, geradezu verlieren, sagen wir zueinander. Wichtig ist doch, sagt der Liebste, dass wir uns dieser Gefahr bewusst sind. Dass solche Vorgänge mitgedacht werden, während sie geschehen. Zwar werde ich phasenweise buchstäblich zum andern, aber ich bleibe dennoch ich selbst, weil ich das Geschehen verstehe. Genau das ist, finden wir, die ganzgroße Herausforderung, Ich-Sein im Wir-alle-Sein, denn niemand ist eine Insel – es sei denn sie oder er lebe einsiedlerisch und autark. Wir sprechen über all die Einflüsse, die uns formen und verändern, über Wirkung und Ohnmacht. Manches geht, manches eben nicht.

Silvesterspätnachmittag. Wir waren vor 13 Uhr noch schnell in den Bioladen gehuscht, dessen Öffnungszeiten ich im Internet erfragt hatte. Ich kaufte ein paar Vorräte für meine histaminfreie Brotbäckerei. Das gleiche Internet, das mir die korrekten Öffnungszeiten des Bioladens verraten hatte, behauptete, dass unser bevorzugter Supermarkt bis 21 Uhr geöffnet sei – ja, trotz Silvester! Also planten wir, nach unserm kleinen Wanderausflug nach Bitche, dort noch schnell unsere Gemüse- und Käsevorräte aufzustocken.

Den Ausflug genossen wir sehr. Ferien spielen nennen wir solche Ausflüge zuweilen.

Auf dem Heimweg steuerten wir Supermarkt 1 an. Geschlossen. Auch Supermarkt 2, unser bevorzugter, war zu, als wir dort aufschlugen. Tja. Selbstverständlich gönne ich den Kassiererinnen ihren frühen Feierabend. Sehr sogar. Dennoch hat mich die Angelegenheit verstört. Zum einen natürlich ganz materiell, weil wir unsere Vorräte nicht auffüllen konnten und nun drei Abendessen würden aus Bordmitteln bestreiten müssen,  zum anderen aber, weil im Netz falsche Öffnungszeiten verbreitet worden waren. Das ist mir tatsächlich bisher noch nie passiert. Klar stimmt nicht alles, was das Internet sagt, kein Thema. Aber Öffnungszeiten? Bitte, Internet, bitte nicht auch noch die Öffnungszeiten verfälschen!

Was ist eigentlich noch selbstverständlich? Wie twitterte ich neulich?

Ein gutes Neues wünsch ich euch. Leben, Jahr oder was immer ihr euch gerade gut und neu wünscht.

Cartoon. Dialog zwischen Cowboyskelett und Vogel, beide auf Fässern sitzend. Skelett sagt: Eigentlich kann es ja nur besser werden, ne? Vogel antwortet: Machen wir das Beste draus?! Gutes Neues!

Falsche Rücksichten

Manchmal wünsche ich mir die Naivität zurück, die ich noch vor wenigen Jahren hatte: Den ziemlich festen Glauben daran, dass wir als Gesellschaft das Steuer nochmals herumreißen können. Die Illusion, dass wir alle es im Grunde gut miteinander meinen und unser Bestes geben, um die Welt einen lebenswerten Ort sein zu lassen oder sie wieder zu machen.

Die letzten zwei Jahren haben meine Naivität und meine Illusionen nachhaltig zerstört.

Die aktuelle Lage ist desolat. In vielerlei Hinsicht. Klimakatastrophe und Pandemie. Das Virus breitet sich wieder fast ungezügelt aus. Es bräuchte dringend Maßnahmen. Für alle. Leider auch für jene, die geimpft sind. Doch unsere Regierungen sind stagniert, resigniert vermutlich, und lassen uns im Stich.

Ich habe ehrlich gesagt Angst davor, dass wir da nie wieder rauskommen, weil es immer wieder Menschen gibt, die sich dagegen sperren, solidarisch zu sein. Spaltung!, rufen sie. Und genau jene Menschen, die über Spaltung jammern, tragen meiner Meinung nach am meisten zur Spaltung bei. (Ob diese meine Meinung objektiv wahr ist, lässt sich wohl nicht feststellen.) Am meisten auf die Nerven geht mir die Diskussionen auf den einseitigen Anspruch auf Schonung jener, die sich impfen lassen könnten, es aber nicht tun.

Sollen wir also lieber weiterhin Rücksicht auf
a.) die wenigen Lauten und Gesunden, welche die Impfung (angeblich) ’nicht brauchen’ und darum unerwünschterweise an der Durchseuchung der Gesellschaft arbeiten,
nehmen, oder sollen wir uns wieder, wie am Anfang auf
b.) jene konzentrieren, die des Schutzes wirklich bedürfen, weil die Impfstoffe bei ihnen unzureichend wirken, weil sie krank, alt oder zu jung für eine Impfung sind, oder aus anderen Gründen besonders verletzlich.

Nein, es sind nicht die die Schwächsten der Gesellschaft, die sich heldenhaft nicht impfen lassen wollen (Betonung auf wollen), denn sie haben eine Wahl und bekunden mit ihrer Weigerung ihren freien Willen.

Die Schwächsten sind die, die keine Wahl haben. Kinder, Alte, Menschen in Pflegeheimen …

Ich freue mich für alle, die geimpft oder ungeimpft ihre Covid-Infektion gut überstanden haben. Gratuliere! Ihr seid privilegierte Menschen. Doch leider haben nicht alle so viel Glück. Es gibt nämlich keine Garantie für einen milden Verlauf und es ist nicht euer Verdienst, wenn eure Erkrankung glimpflich verlaufen ist, es ist schlicht ein Privileg.

Denn Gesundheit – machen wir es uns mal wieder bewusst –, Gesundheit ist ein Privileg, ein Geschenk, vielleicht Veranlagung und Erbe, vielleicht Zufall, aber Gesundheit ist sicherlich kein Verdienst. (Obwohl es natürlich helfen kann, wenn wir gut zu uns zu schauen in der Lage sind.) Trotzdem zählt vor dem Virus Vorgesundheit nicht wirklich und nicht immer. Manch vorher superfitter gesunder Mensch hatte einen schlimmen Verlauf. Oder zwar einen milden, leidet aber noch viele Monate später unter LongCovid – ohne Garantie, ob sich der Körper je wieder von diesem Infekt erholen wird.

Denn Krankheit ist etwas, das allen passieren kann. Auch jenen, die sich Sorge tragen. Krankheit ist keine Strafe. Kein Selbstverschulden.

Vor zwei Jahren, also noch vor der Pandemie, hat der Journalist Christian Kreil für Der Standard einen sehr spannenden Artikel über den Graben zwischen der sogenannten Schulmedizin und der Alternativen Medizin geschrieben. Und über die Impffrage. ( https://www.derstandard.de)

So viel ist klar: Ich werde den Begriff Schulmedizin nicht mehr verwenden, da ich jetzt seine heikle Herkunftsgeschichte kenne.

Ich zitiere:

»Impfgegner aus alternativen, grünen und veganen Milieus reagieren in der Regel verschnupft bis empört, wenn sie auf diese Geistesverwandtschaft angesprochen werden. Allerdings gedeiht die Attitüde der Seuchenfreunde nicht im ideologischen Vakuum. Die sprichwörtliche Anti-Vax-Mom der Gegenwart, die ihr Kind mit keinem “Giftcocktail” von “Big Pharma” “vollspritzen lassen” will, die stand schon 1933 Modell – in einem Sonderdruck des Nazi-Hetzblatts “Stürmer”. Die Anti-Vax-Mom der Nazis ist blond und hält ein deutsches Baby am Arm. Der “naturferne und verirrte Mediziner” hat eine Spritze in der Hand und eine Hakennase. Der Stürmer legt der Frau die Worte in den Mund: “So ist mir sonderbar zumut – Gift und Jud tut selten gut.”

[…]

Der Rechte wünscht sich die Auslese der Lebensunwerten durch die Natur, was uns nicht umbringt macht uns stärker. Das vulgär-darwinistische Denken hat überdauert. Wer heute in “impfkritischen” Foren Diskussionen verfolgt, wird das entlang zweier Phänomene beobachten: Zynismus gegenüber Kranken und Verklärung von Krankheit.

Die Natur sortiert Schwache aus – das gefällt Impfgegnern

Maserntote von heute sind nicht etwa Opfer der Impfmüdigkeit. Sie hätten – Impfungen hin oder her – ohnehin eine zu “schwache Konstitution.” Mit anderen Worten: Die Natur putzt aus, die Schwachen bleiben zurück. Die Krankheiten der eigenen Kinder werden als Stahlbad eines natürlichen Erwachsenwerdens verklärt, mitunter mit bizarren Vergleichen. Die von der Anthroposophie begeisterte Schauspielerin Sara Koenen vergleicht die Masern ihrer Kinder in einem Aufsatz mit einer Bergtour. “Wir feiern die gesunde Wiederkehr von der großen Masern-Bergtour.” Während der Masern musste eines ihrer Kinder mit Fieberschüben jenseits der 40 Grad übrigens im Krankenhaus versorgt werden. Trotzdem schwärmt Koenen rückblickend: “Mit Ehrfurcht erfüllt mich der Berg. Manche sind umgekehrt. Manche haben es nicht geschafft.” Das sind die Schwachen, und das ist damals wie heute offenbar gar nicht so schlecht.«

Quelle: Standard.at

Warum überhaupt?

»[Ich habe] die Verantwortung dafür, daß Etwas festgehalten wird,« schreibt Emil*. Es geht um Gedachtes, Erkanntes, Erlebtes. Es geht um das Bedürfnis, schriftlich und verarbeitend festzuhalten, was war, was in uns ist, quasi Chronist:in der eigenen Geschichte zu sein.

Zuerst nicke ich, doch schon gleich steigt eins meiner typischen Ja-aber in mir auf. Da sind die Fragen nach dem Für-Wen und dem Wozu, die mich anspringen.

Ich persönlich mache mir da nichts mehr vor: Mein Geschreibsel hat letztlich nur für mich Bedeutung und auch das nur für die Jetzt-Zeit. Oder vielleicht für später einmal, für einen reflektierenden Rückblick. Aber vermutlich ist das genug, jedenfalls was die Verantwortung für das Festhalten von Dingen wie Gedachtes, Erkanntes und Erlebtes betrifft.

Und irgendwann wir die Zeit des Loslassens kommen und vermutlich können wir erst dann loslassen, wenn wir einmal etwas gehalten und gehabt haben, das sich festzuhalten lohnte. Für eine Weile. Vielleicht gelangen wir nur über das Festhalten zum Loslassen, welches ja angeblich so lohnend ist und so befreiend. Ist es nicht sogar der Weg der Natur? Wie die Bäume, die ihre Früchte und ihr Laub wachsenlassen, festhalten und irgendwann fallen lassen, um neuen Platz zu schaffen. Immer und immer wieder von Neuem.

Vielleicht wären wir ohne solche Gedanken, ohne solche Reflektieren selbst für uns ganz und gar bedeutungslos und wäre das wirklich so schlimm, für uns ohne Bedeutung zu sein, sozusagen frei von Deutungen, befreit und losgelassen vom Drang etwas darstellen zu müssen?

Doch wer bin ich noch ohne all das Gedachte, Erkannte, Erlebte, Interpretierte, Gedeutete und Reflektierte? Bin ich überhaupt noch und warum auch nicht?

Machen meine Fähigkeiten und Kenntnisse denn wirklich mein Sein aus? Dass ich etwas zu erzählen habe – mir oder anderen –, dass ich mich an Vergangenes erinnern kann, dass ich auf etwas vielleicht Kommendes hoffen kann, dass ich …

[Spoiler: Nein, natürlich nicht! Es braucht nur meine Erlaubnis.]

Wir stellen unglaublich viele Bedingungen fürs Sein an uns. So viele Hindernisse haben wir uns aufgebaut, bevor wir uns endlich das Sein um des Seins willen erlauben können!

Bedingungsloses Seindürfen – wie so eine Katze – das wär schön.

(Miss you, Miss Mietze.)


*Danke, Emil!

Ein Rätsel

Gesucht wird hier ein sprachaffines Fünfer-Team …

N.
rück grat!
Wer sonst?
Oben. Unten.
Eindeutig klar!

G.s Hingabe galt der Diagonalen,
schon immer.
Schiefe Ebene,
weich.

Wem D. gefällt,
gefällt auch mir.
Liegt braun
und erdig da.
Gehört allen.

A., wen suchst du?
Sind alle schon weg!

Das heißt:
Ganz hinten steht noch einer,
durch den heute keiner mehr will.

Doch die alten Römerinnen mochten A..
Wozu auch immer.
Oder wodurch?
Weil er die Antworten kannte womöglich.


Dieses lyrisch-grammatikalische Rätsel fand ich neulich in meinem Uraltblog.

Wer sind N., G., D., A. und A.?

Notizen am Rande #7

Spuren hinterlassen oder doch lieber nicht.
In der Natur.
Als Mensch.
Spuren welcher Art?

+++

Ich glaube sehr an die Natur und ihre Ordnung. Ich glaube an den Trost der in der natürlichen Ordnung, in den Naturgesetzen liegt. Mich tröstet der Gedanke daran, dass alles zusammenhängt und wie alles in sich selbst ordentlich aufgebaut ist. Alles Lebendige folgt einer ihm selbst innewohnenden ästhetischen Ordnung. Nehmen wir das Muster der Sonnenblumenkerne im Kopf einer Sonnenblume. Oder menschliche Zellen. Oder wie ein Baum im Laufe des Jahres funktioniert. Die Natur mit ihrer Vergänglichkeit, mit ihrem Talent zur Erneuerung. Werden und Vergehen. Regeneration. Jahreszeiten. Zyklen. Rhythmen. Ja, daran glaube ich. Immer noch.

Da steckt für mich keine übergeordnete, göttliche Intelligenz drin, das ist für mich die Natur der Natur. Inbegriffen darin ist Erholung, nennen wir es Heilung, nach schlimmen Erfahrungen. Regeneration, die aber nicht zwingend geschehen muss, denn die Bedingungen sind oft nicht ideal. Weder im Wald noch im menschlichen Körper oder in der menschlichen Seele. Aber manchmal geschieht sie eben doch.

Manchmal.

+++

Nichts zurücklassen
versus
viel zurücklassen.

Was zurücklassen?
Was loslassen?
Was festhalten und warum?

+++

Sein hat mehr Aggregatszustände zu bieten als Genuss.

+++

Kein Verständnis dafür haben, wenn Krankheiten gegeneinander aufgerechnet werden.

+++

Sein ist nicht nichts.

Notizen am Rande #6

Andere Wortmenschen in meinem Umfeld schreiben zuweilen, dass es nichts zu erzählen gäbe, weil ja nichts passiere, was die Frage aufwirft, wie viel Stimulanz wir von außen brauchen, um etwas erzählen zu können.

Wie steht es mit der bildenden Kunst? Ist Erzählen, ist Kunstschaffen wirklich nur eine Reaktion auf Geschehnissem, auf die sich verändernde Welt in Resonanz, in Relation und in gleichsam planetarischer Konjunktion zur:m Kunstschaffenden?

Brauche ich zwingend – und wenn ja wie viele – Reize, um zu kreieren? Brauche ich gar Reize um zu überleben?

Dieses ’Nichts’ ist – so behaupte ich – in unserer dualen, materiellen, sich ständig wandelnden Welt eine Illusion. (Möglicherweise taugen statt ’nichts’ Begriffe wie ’reizfrei’ oder ’reizarm’.)

Diese für viele verlangsamte, ereignisarme Zeit, die wir gerade durchleben, lässt sich möglicherweise künstlerisch als Chance begreifen, wieder mehr auf die leisen Reize zu hören und zu blicken.

+++

Irgendlink bloggte gestern über Altlasten in Abstellkammern, unspaltbare Holzstapel und das Altwerden am Holzofen.

»Unsere Räume und Umgebungen, Sphären unseres materiellen Seins sind zugerümpelt mit Ideen und Könntemanmals. Vor ein paar Tagen dachte ich, Aufgeben, nur Aufgeben, oder um es positiver auszudrücken, Loslassen, kann dich noch retten und sieh dich doch mal um hier, es sind ja nicht nur die eigenen Träume und Ideen, die auf dich eindreschen, da ist ja noch das Erbe deiner Vorfahren. […] Es gibt alleine sieben Schubkarren, teils uralte Dinger, vermutlich gar welche, mit denen die ersten Reichsautobahnen schon gebaut wurden … zuviel zuviel zuviel. Zuviel Dinge. Zuviel Träume. Zuviel Blockaden.

Nicht so gestern. Komischerweise waren sich Hirn und Körper einmal einig und so spaltete ich das gesamte Pappelholz – wirkliche Schufterei. Geht doch, dachte ich.« (Zitat)

Ich antworte:
»Geht doch, aber nur manchmal, nämlich dann wenn es zu einer Konjunktion von Geist und Körper kommt, die wie Planeten ihre ganz eigenen Umlaufbahnen haben, ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten.«

+++

Ich beobachte bei mir, dass ich bei Menschen, die ich persönlich kenne, weniger Angst habe, mich von ihnen mit Covid anzustecken als bei mir unbekannten Menschen.

Eine trügerische Annahme, wenn man bedenkt, dass sich mutmaßlich die meisten Menschen im privaten Umfeld anstecken.

Natürlich spielt es eine große Rolle, wie sich jede und jeder Einzelne verhält, aber letztlich können wir uns überall anstecken.

+++

In meinem Kanton kann man sich seit zwei Wochen auch als Normalsterbliche:r für die Covid-Impfung registrieren. Hab ich gemacht. Online. Vermutlich wird nach Dringlichkeit geimpft und danach nach dem Prinzip Wer-zuerst-kommt-kriegt-zuerst. Das finde ich zwar ethisch fragwürdig, weil so Menschen, die keinen Internetzugang haben und/oder von dieser Möglichkeit nichts mitbekommen, benachteiligt sind. Andererseits sehe ich es auch aus einer anderen Perspektive. Viele wollen eh erstmal abwarten, heißt: wenn die Versuchskaninchen es gut überleben, lassen sie sich auch impfen.

Oke, dann bin ich halt ein Versuchskaninchen. Die braucht es ja auch, sonst könnten die andern ja noch lange warten. Ich betrachte nämlich diese pandemiebedingte Impfung nicht nur als Schutzmaßnahme für mich allein, sondern und vor allem als notwendiger Solidaritätsakt, damit wir bald eine Herdenimmunität erreichen und wieder ’normaler’ leben können. Ich sehe es als (m)ein Dienst für die Gemeinschaft sozusagen.

Siphon und Filter

Heute soll es hier für einmal um Dreck gehen. Also … nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen Dreck hätte – abgesehen von Besen, Lappen und Putzmitteln. Eigentlich ist fast alles dreckig. Und außerdem kommt es schwer drauf an, wo der Dreck hockt. Aber können wir uns darauf einigen, dass zu viel zu viel ist? So langsam dünkt es mich nämlich, wir alle kommen nicht mehr mit Putzen hinterher. Wir alle sollten damit anfangen, weniger Dreck zu machen. Finde ich. Und aber auch den, der da ist, abarbeiten.

Ich fange bei meinem Siphon unter der Küchenspüle an (unter dem Schüttstein, wie das hierzulande heißt). Alle paar Monate behandle ich meinen Abfluss mit dem Stöpsel und meiner Geheimwaffe aus Backpulver, Salz, Zitronensäure und heißem Essigwasser. Doch nach einigen Wochen ist alles wieder wie vorher. Trotz Auffangsieb, das ich regelmäßig putze.

Beherzt  beschließe ich also, nicht mehr länger nur an den Symptomen sondern an den Ursachen zu arbeiten. Dazu muss ich mir aber erst einmal den Weg zum Siphon freiräumen, sprich: den Müllbehälter ausbauen und ein Becken darunter stellen. Endlich kann ich den Siphon aufschrauben. (Kleine Notiz an mich: Wo ist eigentlich mein metaphorischer Siphon?)

Boah, wie das stinkt! (Wetten, dass es auch bei euch stinkt, die ihr das hier lest?) Was da alles drin steckt! Ein Netz aus Haaren – wie kommen die da bloß rein? – scheint sich mit allmöglichem Kleinkram in fünfzig Schattierungen von Kaffeesätzen verbündet zu haben. Ich pule alles raus und bürste mit einem Flaschenreiniger ums Eck, pardon: ums Rund, so gut es eben geht. Bis ich zufrieden bin. Von oben spüle ich mit heißem Wasser nach und siehe da: der Weg des Wassers ist wieder frei. Alles fließt.

Und weil ich gerade so schön putzwütend bin, öffne ich auch gleich die WC-Lüftung und putze den dortigen Filter, dessen Flusen vermutlich dafür verantwortlich sind, dass die Lüftung zuweilen viel zu lange nachlüftet, selbst wenn die Lüftung längt wieder aus ist.

Ach, wie schön es wär, wenn wir in diesem Draußen, das gerade so am Durchdrehen ist, auch einfach mal den Siphon durchspülen könnten. Oder den Filter auswaschen oder wechseln.

Keine Geschichte von zwei Pinseln und warum ich mir Dinge aufschreibe

Da ist diese Geschichte von den beiden alten, hartgewordenen Pinseln, die seit Jahr und Tag nebeneinander im Pinselglas stehen bleiben, obwohl sie längst nicht mehr zum Malen genutzt werden können.

Nein, hier und jetzt werde ich diese Geschichte nicht erzählen. Das ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Notizen aus dem Notizbuch meines Handys. Ohne Notizen geht bei mir nämlich gar nichts. Meine Denkprozesse wären sonst noch unfassbarer. Notieren ist mir Aderlass.

Seit vorgestern weiß ich, dass sich John Irving keine Notizen machte. Schreibt der Herr Buddenbohm. »Der Herr Irving ist nämlich ein Notizenverweigerer, er schreibt sich nichts auf, nie, so sagte er. ’Denn wenn etwas wichtig ist’, so erklärte er dann, ’dann fällt es mir wieder ein.’«

Mir nicht. Ich vergesse viel. Deshalb liegen überall in meiner Wohung an neuralgisch wichtigen Stellen Notizzettel herum, in A6-Format geschnittene Makulatur, deren Rückseiten ich – mit Metallklammern zusammengefasst – als Notizblöcke verwende. Mein Chaos hat nämlich durchaus System. Sind die Zettel vollgeschrieben, wandern sie auf den Stapel links neben meinem Rechner und von dort geraten sie irgendwann in die Mühlen meiner Tastatur. Mahlen, einkochen oder einköcheln nenne ich diesen Vorgang. Oder einmachen. Andere sagen vielleicht verwursten dazu, ich halte mich lieber an tierfreie Metaphern wie Sirup kochen oder Marmelade. Denn in der Tat hat für mich schreiben etwas mit kochen zu tun, schreiben ist ein sinnlicher Akt, insbesondere die Arbeit an der Rohfassung eines Textes. Schreiben ist extrahieren.

Neben den auf Makulatur gekritzelten Notizen, die das ganze Spektrum von Außen- und Innenbeobachtung abdecken und manchmal nur aus einzelnen Wörtern, manchmal aus ganzen Traumhandlungen bestehen, gibt es bei mir noch zwei andere Notiz-Formate. Diese – Handy-Text- und Handy-Sprach-Notizen – machen vielleicht zusammen einen Drittel meiner Notizenmenge aus.

Seit ich wegen meiner wehen Hand nicht mehr so easy auf dem Handy tippen kann – wenn ich hinterher keine Schmerzen riskieren will –, fallen die Text-Notizen im Handy je länger je kürzer aus. Aber natürlich reichen, wie Andreas Wolf in seinem wunderbaren Text über die verschwundene Ute köstlich beweist, ein paar Wörter, um in uns drin ganze Geschichten zu konservieren oder, besser, höchst lebendig zu erhalten

Habe ich unterwegs, nebst Handy eine externe Tastatur zur Hand, kann die Notiz schon mal länger ausfallen. Oder aber es bleibt nicht bei der Notiz, und – das ist mir das Liebste, der Idealfall, der Sechser im Lotto – ich kann den Text, der in mir rumort, gleich von A bis Z aufschreiben. Ohne Verzögerung. Und ohne Umweg über  ein Notizformat. Nur schon die kleinste Verzögerung bewirkt bei mir, dass der erste Ansatz, die erste Idee, die ersten Formulierungen in sich zusammenstürzen und der Text in seiner Urform nicht mehr abrufbar ist. Notizen sind fast immer nur ein Notbehelf, ein Anschreiben gegen das Vergessen. Notizen sind die herumliegenden Bruchstücke, die mir beim Rekonstruieren helfen. Und das ist oft zuweilen richtig anstrengend, ganz im Gegensatz zu diesem ersten Drauflosschreibefluss, der einfach so vom Kopf in die Tasten geschieht. Was jetzt nichts über die Qualität eines Textes, dafür einiges über den Schaffensprozess und seine Mühen sagt.

Womit wir bei meinen Problemen mit der Sprachnotiz wären. Was ich mir nämlich per Stimme notiere, lässt sich in den wenigstens Fällen wie gesprochen aufschreiben, ich kann keine Texe diktieren. Aus zweierlei Gründen geht das bei mir nicht. Zum einen denke ich meistens Schweizerdeutsch und schreibe meistens Hochdeutsch. Zwei Sprachen mit zwei nicht 1:1 zu transkribierenden Grammatiken. Nur schon die Übersetzung verändert den Inhalt. Aber noch schwieriger ist für mich meine Unfähigkeit, mir die im Kopf ausformulierten Sätze und Abfolgen solange zu merken, wie ich brauche, um sie aufzusprechen. Sobald ich den Knopf zur Aufnahme betätigt habe,  zerfallen meine inwendigen Sätze in Bruchstücke, die ich dann sinnlos aneinander reihe und später mit der Pinzette aufpicken und in eine sinnvolle Reihenfolge bringen muss. Siehe oben. Ich eigne mich schlicht nicht für Vorträge ab Blatt. Eher bin ich die, die improvisiert.

Dank der Handyfunktion ‚Sprachnotizen‘ ist mir klar geworden, dass ich wohl ähnlich ticke wie die Schweizer Autorin und Behindertenaktivistin Ursula Eggli, die ich kurz vor ihrem Tod zu ihrem Leben und Schreiben interviewt habe. Obwohl sie krankheitsverlaufsbedingt nur noch wenige Finger bewegen konnte, bevorzugte sie es, über ihre Spezialtastatur zu schreiben statt zu diktieren. Die Gedanken fließen anders, wenn sie über die Finger aus mir raus können als wenn sie es über die Stimme tun sollen, sagte sie. Natürlich, man kann das trainieren, aber dazu hatte Ursula Eggli keinen Anlass, ich auch nicht.

Doch was gibt es denn da ständig so Wichtiges, das ich mir da, in welcher Form auch immer, notieren will? Wichtig ist relativ. Und letztlich ist auch vergessen eine Option. Und nicht die Schlechteste. Bei mir ist von Tweet zu Mail oder Brief, von Therapienotiz bis Blogartikel alles dabei.

Fakt ist eher, dass ich mich geradezu nackt fühle, wenn ich nichts zum Schreiben in Griffnähe habe, egal ob Papier oder Handy. Das klassische Notizbuch allerdings hat bei mir schon eine ganze Weile ausgedient. (Die Purist:innen unter meine Leser:innen schlagen jetzt ihre Hände über dem Kopf zusammen. Wie kann sie nur? Ja, sie kann. Ja, das geht. Und ja, ich lebe noch.)

Jahrelang trug ich kleine Büchlein mit mir rum, viele Jahre lang waren sie meine Ideenbehälter. Doch seit ich vor zehn Jahren mein erstes iPhone 3S kaufte – das einzige iPhone übrigens, das ich mir neu gekauft habe –, verabschiedeten sich die Notizbücher nach und nach, leise und schleichend, aus meinem Leben. Es war keine Absicht wie beim Kalender, wo es eine klare Entscheidung meinerseits gewesen war. Die Notizbücher wurden einfach immer weniger gebraucht und als sie alle irgendwann voll waren, habe ich sie nicht mehr durch neue ersetzt.

Ja, klar, ästhetisch und haptisch ist Papier schöner, ist Schreiben auf Papier  schöner, sinnlicher, wohltuender vielleicht sogar, doch danach? Was geschieht danach? Bei meiner Saukralle ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich die Notizen, wenn ich sie nicht innert nützlicher Frist in etwas Lesbares verwandle, nie wieder lesen werde. Das ist mit den Makulaturrückseiten anders, die mahnend auf dem Stapel neben dem Rechner liegen, ebenso mit den Notizen im Handy, die mich schwarz auf weiß und dazu gut lesbar an kleine Geschichten erinnern.

Dazu fallen mir die winzigkleinen Notizbüchlein meiner Tante M. ein, die vor neun Jahren gestorben ist. Mit meiner Schwester zusammen räumte ich nach ihrem Tod ihr Zimmer im Pflegeheim. Das Meiste kam, wenn es das Rote Kreuz nicht wollte, in die Mulde (ja, so ist das, wenn jemand stirbt), doch das eine oder andere Persönliche und/oder Nützliche nahmen wir – weil es zu schade zum Wegschmeißen und noch zu brauchen war – mit, wie zum Beispiel zwei Kartons voller Wegwerflatexhandschuhe und zig Ersatzrollen für den Fusselroller, eine wunderschöne Muschelnsammlung und eben eine ganze Reihe winzigkleine Notizbüchlein.

Die beiden Schwestern hatten nie viel aus ihrer Kindheit und ihren Leben vor unseren Geburten erzählt, unsere Mutter und unsere Tante. Ich hatte gehofft, wenigstens posthum das eine oder andere über ihr Leben zu erfahren. Doch die klitzekleine, wunderschöne Handschrift meiner Tante ist schwerz zu entziffern, zumal M. vieles abgekürzt und sich somit ihren ganz eigenen Verschlüsselungscode erschaffen hatte. Auch fühlte ich mich, wann immer ich in den kleinen Büchlein zu lesen versucht habe, als Voyeurin.

Warum sie aufschrieb, was sie aufschrieb? War es ein Sich-etwas-von-der-Seele-Schreiben? War es ein Das-will-ich-nicht-vergessen-Schreiben? Oder war es gar ein Das-kommt-später-in-meine-Autobiografie-Schreiben? Und was ist es bei mir?

Ich nenne es oft ausatmen. Oder wahlweise auch scheixxen. Verstoffwechseln auf jeden Fall. Schreiben ist mir immer schon ein Prozess der Verwandlung gewesen. Ich sehe einen Haufen frisch geschorener Wolle vor mir, der gekardet wird. Gekämmt, damit die Wollfetzen auf Linie gebracht und versponnen werden können. Schreiben als Prozess des Spinnens, des Webens, des Strickens, des Häkelns. Textilie. Text. Na? Ha!

Handgewobenes buntes Tuch, mit dem sich die Autorin verschleiert. Man sieht nur eine Hand und ein Haarbüschel.
In gewobenes Tuch eingesponnene Autorin

Und wie bin denn jetzt hierher gekommen und wie komm ich da jetzt wieder raus? Und darf man verwobene oder eingekochte Notizen aus dem Handynotizbuch löschen? (Ist das nicht ebenso so frevelhaft, wie wenn ich meine papiernen Notizbücher ins Altpapier oder ins Feuer legen würde?)

Na ja, die Geschichte mit den Pinseln habe ich ja noch lange nicht gschrieben, sie bleibt also im Notizordner. Punkt.

Ob sie womöglich jemand anders adoptieren will und wie ist das eigentlich mit Ideen, mit Geschichten? Sind sie frei und suchen sich, wie so Nistvögel, Orte aus, von denen sie hoffen, dass sie dort sicher sind und genug Nahrung zum Gedeihen finden?


Quellen der Inspiration:
Buddenbohm und Söhne | Maximilian Buddenbohm
Wald und Höhle | Andreas Wolf