Urban ArtWalk Bremgarten

Es war am Sonntagnachmittag, Sonne satt. Dazu nicht mehr so kalt wie die Tage zuvor.

»Lass uns einen Ausflug machen! Am liebsten so einen Spaziergang wie neulich vom Zeltplatz aus, einen Spaziergang mit Stadt und Natur, mit Fotografieren, mit Genießen und Hinschauen, Flanieren, Stehenbleiben …« So hatten wir beim Brunch überlegt – und uns für Bremgarten entschieden, einer kleinen Stadt nicht weit von mit, die wir beide bisher kaum kannten.

Seit einigen Tagen haben wir die Open-Source-Navigationsapp Organic Maps auf unsern Handys. Bereits auf zwei Ausflügen hatten wir sie getestet – einmal am Freitag auf einer dreißig Kilometer langen Radtour, einmal am Samstag auf einer kleinen Wanderung in den Bözberger Hügeln. Fazit: Sie kann, wass sie soll. Und sie kann auf iOS sogar Routen aufzeichnen. Tolles Teil. Ich bin ja über jede Möglichkeit froh, die mich unabhängiger von den Internetriesen macht. Herzliche Empfehlung. Das ist übrigens unbezahlte Werbung, zumal die App eh kostenlos ist.

Bremgarten also. Der anvisierte Parkplatz war voll, so dass wir zurück über die Brücke fuhren, wo sich ebenfalls freie Parkplätze befanden. Was sich im Rückblick als perfekte Wahl erwiesen hat, denn von der Brücke aus konnten wir hinunter an die Reuss steigen und am Reussufer entlang in die Stadt spazieren. Schon bald erkannten wir, dass wir nicht die einzigen ArtWalk-Menschen waren. Unser UrbanArtwalk-Plan – sprich: eine Stadt mit künstlerischem Blick zu durchwandern und fotografisch festzuhalten, was uns berührt – wurde durch eine aktuell laufende Ausstellung namens ArtWalk* im öffentlichen Raum noch getoppt. Was für tolle Kunstwerke überall!

Kunst zum Staunen, zum Anfassen, zum Stillwerden … nach einem längeren Stadtspaziergang schloßen wir die Runde mit einem weiteren Stück Reussuferweg ab und der Track sieht darum auch richtig richtig toll und rund aus, finde ich.

Stadtplan von Bremgarten, der eine nach unten rechts geöffnete Flussschleife zeigt. Darin sichtbar der aufgezeichnete, gewanderte Weg einmal im Kreis und mittendrin ein Gewusel aus Wegen. Stadtplan von Bremgarten, der eine nach unten rechts geöffnete Flussschleife zeigt. Darin sichtbar der aufgezeichnete, gewanderte Weg einmal im Kreis und mittendrin ein Gewusel aus Wegen.

Track zum Download

Es folgen Bilder und da es sehr viele sind, bitte ich um Verzeihung, dass ich diesmal keine detaillierten Alternativtexte/Bildbeschreibungen für Sehbeeinträchtigte eingefügt habe.

Die folgenden Bilder zeigen die Reuss, Straßenszenen, Aufnahmen von Kunstwerken aller Art und aus sehr unterschiedlichen Materialien. Dazu alles mögliche, das sich uns beim Spazieren in den Weg gestellt hat.


*Mehr Infos zum Artwalk:
artwalk-bremgarten.ch
Auf Insta:
instagram.com/artwalk_bremgarten
Insta-Reel:
instagram.com/reel

20 Jahre Webloggerei, ein Rückwärtssalto und ein großes Sorry

Zur Feier des Jahres sind seit heute mein Uraltblog und mein aktuelles Blog vereint. Ich habe die Daten meines ersten im Juni 09 begonnenen WordPressblogs in dieses Blog hier integriert.

Nicht integriert habe ich mein ururaltes, nicht mehr im Netz hängendes Internettagebuch, das ich von 2004-2008 am einen und von 2008-2009 an einem weiteren Ort geführt hatte. (Die Daten gibt es noch, aber ich weiß nicht, ob ich mir so viel Arbeit machen will, die fürs Blog kompatibel zu machen.)

Summa summarum blogge ich also inzwischen zwanzig Jahre. Am Freitag, den 23. April 04 habe ich – damit angefangen und nie damit aufgehört.

Ich glaube, da darf ich mir schon mal ein wenig auf die Schultern klopfen?


PS: Nicht auf die Schultern klopfe ich mir dafür, dass ich vorhin mit den alten Blogartikeln meinen Mastodon-Kanal – @sofasophia@sofasophia.blogda.ch –, der eigentlich ja nur meine neuen Blogartikel spiegeln soll, vollgespamt habe. Die alten Texte, die ich ja eigentlich hier nur archivieren wollte, wurden dort ebenfalls gespiegelt, so als hätte ich heute hunderte neue Blogartikel geschrieben.

Liebe Mastodon-Abonnent*innen, verzeiht bitte. Das war so nicht gedacht.

Ausgelesen #42 | Die Wahrheiten meiner Mutter von Vigdis Hjorth

Sie hat damals ihren Mann, die Schwester und die Eltern von einem Tag auf den anderen verlassen und ist ihrer neuen Liebe von Norwegen in die USA gefolgt. Inzwischen ist Johanna erfolgreiche Künstlerin, Witwe und Mutter eines erwachsenen Sohnes. Nach dreißig Jahren kehrt sie – anlässlich einer Retrospektive ihres Kunstschaffens – in die Stadt ihrer Kindheit zurück, wo sie wieder Fuss fassen will. Dass sie feststeckt, begreift sie erst allmählich.

Das Buchcover zeigt in grafischen, mehrfarbigen Elementen und Schrift den Titel, Autorin- und Verlagsnamen. Dominant sind Blau- und Rottöne.
Das Buchcover zeigt in grafischen, mehrfarbigen Elementen und Schrift den Titel, Autorin- und Verlagsnamen. Dominant sind Blau- und Rottöne.

In kurzen Kapiteln spricht die Ich-Erzählerin davon, wie damals die Beziehung zu ihrer Familie kaputt gegangen ist. Sie erinnert sich an versteckte seelische Schmerzen der Mutter und begreift diese im Rückblick als Ausgangspunkt für die späteren Spannungen zwischen ihnen. Spontan wählt sie Mutters Telefonnummer. Trotz der räumlichen Nähe bleiben Mutter und Schwester jedoch unerreichbar. Verwundet und verwundert spielt Johanna mit Was-wäre-wenn-Szenarien, versucht den neuen Zurückweisungen eine Gestalt zu geben und zu verstehen, warum die Mutter das Telefongespräch nicht annimmt und die Schwester Nachrichten nicht beantwortet. «Vielleicht will Mutter mich nicht sehen, um nicht zu erfahren, was sie verloren hat? […] Ich zeichne mich als Mutter im Spiegel und entdecke, dass Mutters Mund spricht, er sagt, dass sie meinetewegen viel gelitten hat.»

Mir ging es beim Lesen ähnlich wie der Mützenfalterin, die mich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Vigdis Hjorth erzählt eine Geschichte, die erschüttert und unter die Haut geht.

Roman, S. Fischer 2023
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs

Über das Älterwerden

In vielerlei Lebensbereichen stelle ich fest, wie ich mich verändere. Nicht dass. Dass wir uns ständig verändern, ist ja keine Frage. Ich denke über das Wie nach und über das Was.

Wie heißt es so schön? Was an neuer Musik nach 40 dazu kommt, bleibt nicht mehr hängen. Na ja, das gilt natürlich nicht nur für Musik. Es gilt für alles. Wobei 40 natürlich eine Variable ist. Bei mir ist – nicht nur in Sachen Musik – zwischen 40 und 50 nochmals richtig viel Neues dazugekommen. Es war ein Mich-einfinden-in-meinem-eigenen-Geschmack. Manches flog raus, das nicht passte, nicht mehr passte, eigentlich nie gepasst hat.

Manches blieb und wuchs. Gucken wir uns mal meine Lieblingsrockband an. Ihr ist schon vor einer Weile der Sprung in die oberste Liga (schweizweit zumindest) gelungen. Ihre Tickets kann ich mir längst nicht mehr leisten. Das letzte besuchte Konzert war nahezu am Vorabend des Lockdowns. Dann die neue CD. Die Musik hat mich weit weniger berührt als die auf den Platten davor. Die Band geht neue musikalische Wege. Abhandengekommen sind mir dieser Geschmack von wilder Jugend und dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenälterwerden.

Ein bisschen fühle ich mich ja schon abgesägt, abgehängt, dabei hat die Band ganz einfach den Sprung zur jüngeren Generation der Fans vollzogen – sich weiterentwickelt und angepasst. An den Konzerten – früher, damals, als ich es mir noch leisten konnte – war das Publikum bunt gemischt, bestand halb aus Menschen meiner Generation wie die Band selbst, halb waren es deren Kinder … Der Funke ist von Generation zu Generation weitergesprungen, die Jungen haben aufgeholt. Sie machen mit beim Wettrennen um die Tickets, die ein halbes Jahr vorher – exakt auf Zeitpunkt terminiert – angeboten werden und innert Minuten ausverkauft sind. Ich mag da nicht mehr mitmachen. Das ist nicht mehr meine Welt.

Das ist nur ein Beispiel, eins von vielen Dingen, denen ich anmerke, wie sich in mir drin dieser Wandel vollzieht. Bewusst und unbewusst. Inhaltlich und strukturell. Laufende Prozesse.

Ich muss inzwischen nicht mehr alles verstehen und ich vermutlich bin jetzt eine von denen, die ich früher als alt wahrgenommen habe. (Auch wenn jetzt Ü70-Jährige bestimmt schmunzeln und meine noch nicht mal sechzig Jahre als geradezu jung empfinden.)

Das mag vielleicht eher sentimental oder traurig, nach Abgesang, klingen, doch ehrlich, ich empfinde es durchaus nicht grundsätzlich negativ. Eher wie eine Befreiung. Ich muss nicht mehr … Ich muss immer weniger.

So langsam kommen wieder Dürfen und Wollen in mir auf. Mich weiterentwickeln will ich gern. Aber nicht mehr in Richtung Mehr-Größer-Höher, sondern eher in die Tiefe. Und nur noch bei manchen Themen und Fertigkeiten. Bei allem mitreden muss ich nicht mehr.

Dass sich die Welt und unser aller Lebensgefühl in den letzten vier Jahren krass verändert hat, ist natürlich nicht ohne Einfluss auf mich und meine Prozesse geblieben. Alles beeinflusst uns, alle beeinflussen sich gegenseitig – auf die eine oder andere Weise. Gesellschaftliches, Persönliches, Politisches – alles ist dich miteinander verwoben. Niemand ist eine Insel.

Manchmal stelle ich mir das ganze Leben wie ein  sehr großes Tetris-Feld vor. Und die Klötzchen, die es zu stapeln gilt, sind all die Dinge, die uns bewegen, sind all Menschen, die uns begegnen, sind die Gedanken, die wir uns machen und die Gefühle, die wir empfinden … manches passt, manches sperrt sich in uns.

Unsere Herausforderung besteht darin, in uns drin die zu uns passende, uns im Wesen ausmachende Ordnung zu finden. Und den Frieden damit, ja, den auch.

Zürich mal wieder

Aus medizinischen Gründen war ich gestern wieder einmal in Zürich. Nach meinem Termin bin ich noch ein wenig rumgebummelt. Es zog mich an den See, wo es dann aber sehr laut war, Verkehr und Menschen …

Am Bürkliplatz esse ich mein Müesli fertig und spaziere anschließend zur Nationalbank. Ha. Ja, ich! Nationalbank! Das ‘Zentrum der Macht’. Meine alte Hundertfranken-Note, die ich neulich beim Aufräumen gefunden hatte, lässt sich eben nur in einer Nationalbank gegen heute gültiges Geld tauschen. Man muss sich jetzt diese eh schon reiche Stadt vorstellen. Und jetzt noch Region Bahnhofstraße. Kreis 1. Die Börsenstraße mit ihren alten, palastähnlichen Gebäuden. An der Bank hängt außen nirgends ein Schild. Nichts deutet von außen daraufhin, dass das jetzt die Nationalbank ist. Und nirgends ein Hinweis auf den Eingang, außer du stehst direkt vor der Tür. Ohne Navi hätte ich den Eingang nicht gefunden. Stehst du allerdings vor der Tür, geht sie von alleine auf. Im Entrée ein Butler (oder ein Security-Mensch?) der sich nach deinem Anliegen erkundigt und dir sagt, wann du das Allerheiligste betreten darfst. Am Schalter ziehe ich mein Portemonnaie hervor und kurz darauf bekomme ich als Tauschmittel ein paar neue bunte Scheine. Juhu, mein Überleben ist für diesen Monat wieder einmal gesichert.

Ich spaziere der Limmat entlang zur Münsterbrücke, wo ich die Limmatseite wechsle und so erleichtert das ‘Zentrum der Macht’ verlasse. Beim Frauenbad bin ich, da ich das Badezeug dabei habe, kurz versucht, mir ein Limmatbad zu gönnen, doch dann fällt mir ein, dass ich ja in Zürich bin, wo alles kostet. Geld kostet. Viel Geld kostet. In Bern sind – oder waren jedenfalls damals, als ich dort lebte – alle öffentlichen Freibäder kostenlos. Drüben, im Niederdorf, im Dörfli, spaziere ich einfach rum und lasse mich treiben und Erinnerungen auftauchen. Da haben wir damals und dort haben wir. Und hier war doch! Erinnerungen an Gespräche mit M., M. und H. und wie sie alle hießen … Gedanken an eine Lebensphase, in der ich, verglichen mit heute, doch ganz schön unbeschwert war. Nicht immer einfach war mein damaliges Leben, aber leichter war manches damals schon.

Es wuselt ganz schön in Zürichs Lieblingstouriquartier und nach einer Weile suche und finde ich eine stille Ecke, oder eine stille Runde, nämlich eine runde Bank, um einen Baum herum gebaut, wo ich eine längere Pause mache. meine neuen Broschüren lese und picknicke.

Und jetzt? Weiter Richtung See und baden? Oder zurück, nach Hause? Ich bin müde, es wird immer heißer und mich zieht es nach Hause. Auf dem Rückweg ist es noch wuseliger. Mittagspause-Zeit. Es ist laut, aber es geht. Ich gucke, ich fühle, ich denke und lasse das alles auf mich wirken. Da der Mann, der im Brunnen sitzt. Dort dies. Hier das. Viele Eindrücke. Fast alle so flüchtig, dass ich sie bereits wieder vergessen habe, wenn ich eine Häuserzeile weiterspaziert bin.

Am Bahnhof wähle ich den Weg durch die Bahnhofshalle, denn ich will den Nikki de Saint Phalle-Engel mal wieder besuchen.

Hier ein paar Impressionen, einfach so für mich als kleine Erinnerung daran, dass ich wieder einmal dort war, wo ich einst gelebt habe.

10 Jahre Kultur mit Silvia Bervingas und Matthias Wolf

Da war vor zehn Jahren dieser erste, sehr originelle Tatort aus Saarbrücken, der erste mit Devid Striesow, Sie erinnern sich? Eine der wenigen Tatort-Folgen übrigens, die ich je in meinem Blog (hier) besprochen habe. ’Melinda’ hieß sie und es ging um Drogenschmuggel. Soweit nichts Neues, doch es war auch nicht die Geschichte an sich, die es mir angetan hatte, es waren die drei Hauptfiguren: Melinda natürlich, dann Devid Striesow aka Jens Stellbrink und Silvia Bervingas aka Margot Müller.

Dass ich ’Margot Müller’, im echten Leben Silvia Bervingas, kurz darauf persönlich kennenlernen würde, wusste ich damals noch nicht. Es war nach einer Tucholski-Performance – ’Schräglagen’ – in der Galerie Prisma, als wir draußen, bei einer Zigarette, ins Gespräch miteinander kamen, Silvia, der liebste Irgendlink und ich. In dieser Kombination haben wir seither schon viele Stunden verbracht, am Feuer sitzend oder auf dem Sofa und einander aus unseren Leben erzählend.

»„Schräglagen“ hieß der Abend, 25 Besucher waren in die damals noch existierende Zweibrücker Prisma-Galerie gekommen. Bervingas las und spielte ausdrucksstark, Wolf erzeugte Hintergrundgeräusche, spielte dann aber auch stimmungsvolle Soli. In der Pause plauderten die Künstler ganz ungezwungen mit dem Publikum.«
Zitat/Quelle: Rheinpfalz

Einen großen Teil ihrer Lesungen und Performances habe ich in den letzten zehn Jahren mitverfolgt, gehört und gesehen. Vielen kostbaren Texten und wohltuenden Klängen habe ich seither gelauscht. Zum Beispiel der ungehaltenen Rede Katharina von Boras, Martin Luthers Ehefrau, die ich hier besprochen habe.

»In der Folge erarbeiteten die beiden bis heute zehn abendfüllende Programme. Texte von Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Christian Morgenstern, die ungehaltene Rede der Katharina von Bora an ihren Martin Luther, bissige Kurzgeschichten der Amerikanerin Dorothy Parker, literarisches Kabarett der 1920er und 1930er Jahre, Liebesbriefe von Frauen an Adolf Hitler. Die Programme sind geprägt durch die sorgfältige Textauswahl, die eindrucksvolle Stimme von Bervingas und die Musik für Kontrabass von Wolf, die meist jazzig angehaucht ist. Die Programme kamen gut an, sie wurden nicht nur in Zweibrücken, sondern auch an anderen Orten aufgeführt.«
Zitat/Quelle: Rheinpfalz

Gestern Abend nun spielten, performten, sangen und lasen die beiden ihre Lieblingsstücke der letzten zehn Jahre. Die Rheinpfalz kündigte die Vorstellung so lustvoll an, dass der Veranstaltungsraum, die Zweibrücker Himmelsbergkapelle, gestern Abend schier überquoll. Über hundert Menschen – manche gar stehend, weil es keine Sitzplätze mehr gab –, tauchten gemeinsam in eine heitere, bissige, politisch motivierte, musikalisch bezaubernde Atmosphäre ein und lauschten, lachten und seufzten mit den Protagonist*innen der ganz unterschiedlichen Stücke.

Witzig, charmant und gekonnt boten Silvia Bervingas und Matthias Wolf ein über zweistündiges Programm, das berührt, begeistert und inspiriert.

Tage, die es nicht gab | Fernsehserie #Filmbesprechung

Keine leichte Kost, das wusste ich schon nach dem Trailer und den ersten paar Minuten.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen vier Frauen. Christiane, Schriftstellerin und Mutter eines verstorbenen Jungen, kann seit dem Todestag ihres Sohnes nicht mehr schreiben. Ihre drei Freundinnen helfen ihr, nicht ganz in der Trauer zu ertrinken. Eine der Freundinnen ist die Staatsanwältin Mirjam, die damals, vor drei Jahren, den Tod des Schulleiters zwei Tage nach dem Suizid des Jungen untersucht hat. Die dritte im Bunde ist Doris, Geschäftsführerin eines Fuhrunternehmens, die versucht sich von ihrer sehr dominanten Mutter zu emanzipieren. Dass sie zuweilen ihre vierzehnjährige, sehr wortgewandte Tochter Sarah fast ebenso gängelt, fällt ihr erst nach und nach auf. Die vierte Freundin, Inès, ist mit ihrer Familie erst vor kurzem zurück in die Heimat gekommen, da der fast 18-jährige Sohn Olivier in Paris, wo sie davor lebten, auf die schiefe Bahn geraten ist.

Nur gerade mal zwei Tage nach dem Suizid des sensiblen zwölfjährigen Jungen stürzte damals Paulitz, Schulleiter des Bonzeninternats Sophianum, der maßgeblich zur schlimmen seelischen Verfassung des Jungen beigetragen hat, von der Staumauer unweit des Ortes. Der Fall war zu den Akten gelegt worden, da kein Fremdverschulden hatte bewiesen werden können. Drei Jahre später sollen die schon etwas ältere Inspektorin Grünberger und der junge Polizist Leodolter den Fall nochmals untersuchen.

Alle vier Freundinnen sind ziemlich reich, alle sind sie damals im Sophianum ausgebildet worden und alle haben sich damals geschworen, ihre Kinder niemals in diese Schule zu schicken. Und alle haben es trotzdem getan.

Mich beeindruckt, wie sorgfältig ausgearbeitet und ausgezeichnet besetzt jede einzelne Figur dieser Serie ist, bis hinein in die kleinen Nebenrollen. Ja, auch die Schulsekretärin mit ihren wenigen Auftritte hat ein klares Profil.

Während bei der Staatsanwältin Mirjam psychische Gewalt des Partners und Vaters gegenüber ihr und den Kindern im Fokus steht, ist es bei der Autorin Christiane die übermächtige, alles blockierende Trauer und Wut über den Verlust des Sohnes Balthasar. Bei Inès ist es die Beziehung zu ihrem Sohn, die ihr Leben je länger je unerträglicher macht. Da ist so viel destruktive Energie auf beiden Seiten, was sie mit ihrem Hang, alles zu organisieren und in Listen zu packen, zu kontrollieren versucht. Doris, die Fuhrunternehmerin, hat zwar eine sehr liebevolle Ehe und auch mit ihrer Tochter läuft es ziemlich gut, aber sie leidet unter der Dominanz der Mutter und arbeitet sich an alten Mustern ab. Jede der vier Frauen entwickelt sich im Lauf der acht Folgen der Mini-Serie auf ihre Weise weiter und muss in sich gehen, sich hinterfragen.

Parallel dazu untersuchen Inspektorin Grünberger und Polizist Leodolter erneut den damals ohne Ergebnis abgeschlossenen Todesfall des Schulleiters. Sie stoßen dabei auf einige weitere Suizide von Schülerinnen des Internats und auf Zusammenhänge, die erst bei sehr genauem Hinschauen sichtbar werden.

Es sind nicht allein die vielen einzelnen Geschichten, die diese Serie sehenswert machen, es sind auch die vielen kleinen, liebenswerten Details. Zum Beispiel die Inspektorin und ihre Kuchen. Oder wie sie und der Polizist sich immer gegenseitig mitten in der Nacht mit neuen Erkenntnissen in den Hotelzimmern wecken. Oder wie sich die Freundinnen immer wieder treffen und sich gegenseitig bestärken. Überhaupt: Die Dialoge und ihre Figuren wirken auf mich mehrheitlich lebendig und echt.

Mein ganz besonderer Liebling dieser Serie ist Sarah, herrlich von Niobe Eckert gespielt, die mit ihrem selbstbewussten Auftreten zwar immer ein wenig nervt, doch – da letztlich sehr empathisch – häufig zu Deeskalation beitragen und schließlich auch Lösungen herbeiführen kann, an die niemand denkt.

Am meisten mitgelitten habe ich mit Mirjams Kindern, besonders mit den Zwillingen, doch mehr kann ich, ohne zu spoilern, nicht verraten.

Jede Figur ist ausgesprochen bunt und vielschichtig, nicht einfach nur gut und sympatisch, sondern alle sind voller Abgründe. Einzig Mirjams Mann Joachim und Schulleiter Paulitz sind (mir) gänzlich unsympathisch.
»Wir bilden hier keine Opfer aus!«, sagt Paulitz zum Lehrer, der sich für den gepeinigten Jungen einsetzt, bevor sich dieser in den Tod stürzt.
»Nein, aber Täter!«, bestätigt der Lehrer.

Ganz am Ende der Serie, bei der Überführung der Täterin gibt es eine Unstimmigkeit, über die ich gestolpert bin, über die ich allerdings nicht ohne zu spoilern schreiben kann. Also bitte  *hier* (siehe unten) nicht weiterlesen, wenn du die Serie noch gucken willst.

Erfreulich war das irgendwie tröstliche Ende der Serie, mit dem ich so nicht gerechnet habe.

Was für mich diese Serie so sehenswert gemacht hat? Alle tragenden Rollen werden von Frauen gespielt. Frauen die zwar in schwierigen Situationen stecken, sich aber gegenseitig helfen und sich unterstützen. Frauen, die aus ihren bisherigen Rollen und Mustern ausbrechen und die mutig über ihre Grenzen gehen. Sie sind alle nur auf den ersten Blick starke Frauen, oder das, was man gemeinhin als Karriere- oder Powerfrauen beschreibt. Vor allem aber sind sie sensible, verletzte Frauen, die beschließen, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Auch wenn sie sich gegenseitig nicht immer toll finden und auch mal streiten und sich nicht verstehen, so stehen sie doch zueinander. Bei aller erlebten Tragik und all dem Schweren ist es doch ermutigend, wie sie sich immer wieder zusammenraufen und trösten.

So geht Freundschaft!

Wiki: hier
ARD: hier


Zum Schluss stelle ich mir die Frage, wie sich eine solche, jedenfalls eine so ähnliche Geschichte wohl in einem mittelständischen Milieu ohne den ganzen Reichtum der Zollberg-Society oder sogar in einer armen Umgebung abgespielt haben könnte – also was die Freundschaft und die Probleme der Freundinnen betrifft.


******************

*SPOILERWARNUNG:

Wie kann es sein, dass die DNA am Körper des Toten damals nicht mit der Täterin in Verbindung gebracht werden konnte?

Wieso braucht das neue Buch von Christiane kein Lektorat und wird schon innert Tagen gedruckt und rezensiert?

******************

Buchstaben, aneinandergereiht

Der Emil trägt die Schuld. Zum einen hat er mich neulich auf Elfchen* gebracht und zum anderen fragte er kurz darauf nach unseren schulischen Erfahrungen mit dem Aufsätzeschreiben. Darum versuche mich wieder einmal an dieser Buchstaben-Kreativität, die mir früher so leicht gefallen ist.

»Immerhin ein Elfchen«, sagte ich vor wenigen Tagen zum Liebsten, als wir am Telefon über unsere brachliegende Kreativitäten klönten, »ein Elfchen könnte ich wieder einmal versuchen.«

Wir hatten eben über orthographisch falsche Fremdsprache-Übersetzungen im Kontext mit Sprachkunst philosophiert – wo doch heute eine schnelle Verifizierung so einfach ist  – und auf einmal spinntisierten wir an einer unserer alten Ideen herum, nämlich einen Ur-Text via Translate-Software in mehrere verschiedene Sprachen und am Schluss wieder ins Deutsche übersetzen zu lassen. Stille Post sozusagen.

Ich kann übrigens keine Elfchen. Das hier ist nur eine abstrakte Spielerei.

Urtext:
Aufsatz
setzt auf
müpfig oder froh
immer wieder voller Zweifel
Wert

Persisch:
مقاله
بر اساس
شاد یا خوشحال
همیشه پر از شک و تردید
ارزش

Schwedisch:
Artikel
Baserat på
glad eller glad
Alltid full av tvivel
Värde

Japanisch:
論文 に基づく 嬉しいか嬉しいか いつも疑問でいっぱい 価値

Französisch:
papier
basé sur
heureux ou heureux
toujours plein de questions
la peine

Italienisch:
carta
basato su
felice o felice
sempre pieno di domande
la penalità

Deutsch:
Papier
bezogen auf
glücklich oder glücklich
immer voller Fragen die
Strafe

Urtext:
Aufsatz
setzt auf
müpfig oder froh
immer wieder voller Zweifel
Wert

Faszinierend, wie der Aufsatz zu Papier geworden ist und das Müpfige glücklich. Und wie ein Bezug zwischen Papier und Glück enstand. Aus Zweifel wurden Fragen und aus Wert Strafe. Sprachen spiegeln ganze Welten, Gesellschaften, Kulturen. Wörter lassen sich eben nicht 1:1 übersetzen ohne die Kenntnis ihrer inneren Architektur. Was zu beweisen war.

Dennoch: Ich mag die neue Fassung meines Ur-Textes. Obwohl meine Erfahrungen mit Aufsätzen absolut nichts mit Strafe zu tun hatten. Im Gegenteil. Außer dem Zeichenunterricht war mir Deutsch immer das liebste Schulfach und meine Noten entsprechend gut. Am liebsten war mir der Deutschunterricht, wenn wir Aufsätze schreiben sollten – und zwar von der ersten Klasse an bis hin zum Fachhochschulabschluss. Ob nun daheim oder während der Stunde war dabei egal.

Die Aufsatzhefte meiner Pflichtschulzeit liegen in einer Bananenkiste. Analoge kleine Schätze. An viele Texte erinnere ich mich noch genau. Wie ich mich gefühlt habe als ich sie geschrieben habe.

Damals, als Zweiklässlerin, hatte ich eines Tages realisiert, dass ich eine der wenigen oder gar die einzige war, die schon zwei- oder dreiseitige Texte schrieb, und erschrak. Und ich schämte mich sogar ein wenig, da ich doch keine Streberin sein wollte. Und wenn die Lehrerin meine Aufsätze vorlas, war es mir auch immer ein wenig peinlich. Schreiben war nämlich fast eine Art geheimer Vorgang für mich, sehr persönlich, sehr intim. Ich hätte allerdings als Drittklässlerin viel dafür gegeben, einmal heimlich alle Aufsätze von allen Klassenkamerad*innen lesen zu dürfen. Dafür benied ich meine Lehrerin.

Ich stellte mir vor, was sie alles über uns erfahren hatte, nachdem sie unsere Ferienberichte, unsere Erörterungen oder unsere Fantasie-Geschichten gelesen hatte. Manchmal mogelte ich allerdings beim Schreiben, wenn es um Familiensachen ging, um unsere Armut zu kaschieren. Einmal, das muss auch in der dritten Klasse gewesen sein, sollten wir einen Aufsatz darüber schreiben, was wäre, wenn wir xyz (frei wählbarer Gewinn) gewonnen hätten. Eine Million zum Beispiel. Ich erinnere mich noch, dass ich im Aufsatz Geld gewonnen und das meiste Geld auf die Bank gebracht hatte. Aber natürlich bekamen wir alle – meine Eltern, meine Geschwister und ich – je hundert Franken. Das war damals für mich schon eine unvorstellbar große Summe und ich schrieb wohl in meinem Aufsatz, was ich mir davon gekauft habe. Allerdings kann es nichts Spektakuläres gewesen sein, denn ich habe es vergessen. Vermutlich eine Hose aus dem Laden – nicht von der Mutter genäht – oder einen Pulli ohne Flicke. Was sich meine Lehrerin da wohl über unser Haushaltbudget ausgerechnet hatte?

Später schrieb ich sogar freiwillige Aufsätze. In der Fachhochschule legte ich diese dann meinem Deutschlehrer vor. Nein, der war nicht jung und hübsch, und ich wollte ihn auch nicht beeindrucken. Im Gegenteil war er eher alt – ich vermute mal über fünfzig – und er schielte. Aber genau darum hatte ich ja auch keine Angst vor ihm und wir diskutierten meine Texte sehr angeregt. Fällt mir ein, dass ich damals ein Erich Kästner-Gedicht auf Schweizerdeutsch übersetzt hatte. Wir fanden, dass es sich fast wie ein Mani Matter-Lied lese. Uns gefiel das.

Ha. Und so sind wir also wieder bei der Übersetzerei gelandet. Ist Sprache letztlich nicht immer Übersetzung? Von innen nach außen und wieder zurück?

In ’Vom Ende der Einsamkeit’ von Benedict Wells sagt jemand  sinngemäß –  Jules oder Alva vermutlich – dass Denken in Reden münde und Fühlen in Schreiben. Damit identifizierte ich mich sofort.

Vielleicht brauche ich ja das Schreiben, um den Gefühlen zu lauschen, die beim Reden zu Boden fallen?


*Das Elfchenschema (nach Wikipedia)

Zeile Wörter Inhalt
1 1 Ein Gedanke,ein Gegenstand, eine Farbe, ein Geruch o. ä.
2 2 Was macht das Wort aus Zeile 1?
3 3 Wo oder wie ist das Wort aus Zeile 1?
4 4 Was meinst du?
5 1 Fazit: Was kommt dabei heraus?

Stichwort Snowflake

In der Seitenleiste dieses Blogs findet ihr übrigens meinen kleinen Beitrag zur Umgehung von politischer Zensur, wie sie aktuell in Iran und in vielen anderen Ländern praktiziert wird.
Macht auch mit, gerne, falls es möglich ist.

Weiterführende Informationen und eine Anleitung findet ihr hier:
snowflake.torproject.org
und hier
Youtube.com

Er radelt wieder

Er radelt sogar schon fast eine von geplanten knapp drei Wochen. Von Herrn Irgendlink ist die Rede. Seine Fernrad-Reiseblog-Projekte waren vor der Pandemie geradezu legendär. Mitreisen konnten alle, die Lust auf velosophische Radabenteuer zwischen Nordkap, Gibraltar, Bodens- und Nordsee und um das eine oder andere Bundesland hatten. Lesend konnten wir ihn begleiten – im Blog und auf Twitter. Und dann kam die Pandemie.

Vor dem Lockdown hatte er geplant, ein drittes Mal innerhalb von zwanzig Jahren, nach Andorra zu radeln, um herauszufinden, wie sich das Land und der Weg verändert haben. Doch dann kam ihm der Lockdown dazwischen. Diesem jedoch verdanken wir zwei fiktive Reisebücher, die sich lesen, als wäre der Reisekünstler höchstpersönlich unterwegs.

Sehr sehr lesenswert:
1. Zweibrücken-Andorra, die Dritte.
2. Radlantix

Die pandemische Lage lässt es inzwischen wieder zu, dass er das im Sommer 2019 wegen Starkregen und Überschwemmungen abgebrochene Reiseprojekt #Umsland/Bayern weiterführen kann.

Kommt alle. Reist alle mit.

Reiserad geleht an rote Metallbank auf Brücke, vor Fluss und Bergen im Hintergrund, darüber Blauhimmel

Hier gehts zum verbloggten E-Book der 2018 und 2019 erradelten Streckentexte.

In seinem täglichen Blog servieren wir euch wieder Texte und Bilder in gewohnter Manier. Ich bin erneut als Homebase an Bord und füttere euch mit Kartenlinks und kleinen abendlichen Zusammenfassungen.

Ich stelle fest, dass mir dieses Mitreisen sehr gut tut. Ein wenig Altes im Neuen, ein Stück Heile Welt, ein bisschen Frieden im Alltag, der von Krisen geprägt ist.

Platz tut gut

Es war im Herbst oder Winter 2009. Wir saßen mit Freund S. draußen am Feuer. Er war der erste uns bekannte iPhone-Besitzer, also begutachteten wir das gute Stück – ein iPhone 3S – zuerst skeptisch, doch mit wachsendem Interesse. Besonders bei Irgendlink war die Neugier groß. Ob sich damit wohl von unterwegs Bilder ins Blog stellen ließen?

Mit dem Kontaktgift in Berührung gekommen – so nannten wir diesen Moment, in welchem wir S.s Smartphone das erste Mal angefasst hatten. Von diesem Moment an war klar, dass wir über kurz oder lang auch so ein Teil wollten.

Bei Irgendlink dauerte es nicht mehr lange, denn er plante das fotografierenkönnende und internetfähige Telefon in seine im Frühling 2010 geplante Reise ein, seine erste digital gestützte Radreise. Nach Andorra. Eine zehn Jahre zuvor erstmals gefahrene Rad-und-Kunst-Tour nachstellen, die alten Bildstandorte – damals noch ohne GPS – aufsuchen, die Bilder nachstellen, den Wandel dokumentieren – so der Plan.

’Zweibrücken-Andorra’ wurde unser erstes Reiseabenteuer mit ihm als Radler und mir als Homebase. Und was für ein Abenteuer! Damals entwuchsen die iPhone-Apps erst allmählich den Babysocken. Die WordPress-App konnte, soweit ich mich erinnere, zwar Texte, aber noch keine Bilder. Wir wichen darum auf andere Blog-Apps aus, doch weil das Bildereinfügen per App doch sehr mühsam war, mailte mir Irgendlink schließlich seine mit dem iPhone geschossenen Bilder zu, wann immer er in ein freies WiFi-Netz gelangte. Oder er verschickte sie über das damals noch sehr teure Funknetz.

Bereits wenige Monate später, bei unserer Sommerreise an den norwegischen und schwedischen Polarkreis, war die Technik deutlich besser. Ich hatte mir zum 45. Geburtstag ein iPhone 3S geschenkt. Das erste und letzte neue iPhone, das ich mir seither gekauft habe. Damit fuhren wir nach Schweden und Norwegen und bloggten live von unterwegs. Und damit fing ich im Winter darauf an, mit Bildbearbeitungsapps Bilder zu bearbeiten, womit ich Irgendlink ansteckte. Und damit traten wir im Frühling 2011 einer internationalen, iphone-kunstbegeisterten Gruppe bei. Eine große Zeit war das. Eine von Pioniergeist beflügelte. Ein Quantensprung in Irgendlinks Künstlerlaufbahn. Und in meiner natürlich auch.

Bald einmal kamen die Nachfolgemodelle mit besseren Kameras auf den Markt und so kaufte ich kurz darauf Freund S. sein gebrauchtes 4S ab, als dieser aufs 5S umstieg – aus Gründen der Nachhaltigkeit ebenso wie aus finanziellen Gründen. Mein eigenes 5S kaufte ich Jahre später gebraucht per Internet und mein 6S bekam ich vor anderthalb Jahren für 50 € von einer lieben Freundin. Einziger Nachteil dieses tollen neuen Teils war der knappe Platz, doch da ich damals rasch ein 6S gebraucht hatte, griff ich zu. (Grund: Damals liefen die Covid-Apps leider noch nicht auf dem 5S.)

Man kann sich fragen, warum ich iPhones über all die Jahre so treu geblieben bin, wo es doch inzwischen auch andere smarte Telefone mit schnellem Internet und guten Kameras gibt. Dazu preisgünstiger und mit mehr Platz, SD-Karten-Schlitz und was immer Herzen höher schlagen lässt.

Die Antwort? Sie ist vielschichtig und letztlich persönlich. Die Nutzungsgewohnheit ist nur ein Aspekt von vielen. Ich habe nämlich auch eine geradezu persönliche Beziehung zu meinen Lieblingsapps, besonders zu jenen zum Navigieren und Bilderbearbeiten. Ich habe auf meinem Android-Tablet, das mein eReader und mein Fernseher ist, viele Apps getestet und bin mit sehr wenigen Ausnahmen einfach nicht glücklich mit den androiden Lösungen. (Gewohnheit oder mein sehr hoher Qualitätsmaßstab?) Außerdem nervt mich die viele Werbung bei vielen kostenlosen Apps (was leider bei iOS-Apps inzwischen auch nicht mehr soo viel besser ist). Außerdem mag ich ganz einfach die Handhabung und die Übersichtlichkeit bei den Apps und in den Einstellungen. Und dass ich kein Virusprogramm brauche. Und-und-und …

Aber ja, es gibt auch ein paar Dinge, die mich nerven. Allen voran die Tatsache, dass Betriebssystem und Datenspeicher viel Platz beanspruchen, was bei iPhones mit kleinem Gesamtspeicher ganz schön ins Gewicht fällt. Steht 16 GB auf dem Handykarton müssen davon schon mal ungefähr 7 GB aus Systemgründen von der Speichernutzung abgerechnet werden.

Als Gern-Fotografin und Viel-Apperin fühlte ich mich nach der anfänglichen Euphorie über das neue iPhone 6S schnell einmal sehr stark limitiert. Ich musste den Bilderspeicher regelmäßig löschen, um wieder Platz für Neues zu schaffen, was an sich ja nicht schlecht ist. Doch wenn man gerne am Handy Bilder  bearbeitet, wird das mit so wenig Platz schwierig, denn sowohl für die Bearbeitungsapps als auch für neue Bilder fehlte mir schlicht der Platz. So schrumpfte mit der kleinen Speichermenge sehr rasch meine Lust, Bilder zu bearbeiten. Was mir zunehmend schmerzhaft fehlt, denn Kreieren tut mir gut und ist wohltuend. Ich wurde immer geiziger mit meinem wenigen Platz, obwohl ich nur sehr wenige Apps auf dem Handy installiert hatte.

Achtung, jetzt wird es philosophisch: Nach und nach fühlte sich dieser wenige Platz auf dem Handy für mich so an wie ein zu enger Raum oder wie zu klein gewordene Schuhe … Das alles lässt sich durchaus auf das Bedürfnis auf Lebensräume übertragen, auf den Wunsch nach mehr Platz, auf mehr Daseinsberechtigung. Ja, genau: Ich sehnte mich nach mehr Platz – eben auch auf dem Handy.

Weniger und mehr? Mehr oder weniger? Wie lassen sich solche Bedürfnisse in einer Zeit mit schwindenden Ressourcen, Klimakrise, Überbevölkerung rechtfertigen? Mit einem kleinen Budget in Einklang bringen? Persönliche Ökonomie versus Ökologie – sprich größtmögliche Nachhaltigkeit – in Konjunktion zu den eigenen Bedürfnissen nach mehr Platz – kompliziert! Darf ich mir das leisten, soll ich mir das gönnen? (Fragen, wie ich sie mir praktisch vor jedem Kauf stelle … und die den meisten Menschen vermutlich gar nicht erst einfallen.)

Unterm Strich also die banale Frage: Brauche ich ein Handy mit mehr Platz tatsächlich?

Vor einer knappen Woche, als ich die Frage endlich mit einem klaren Ja beantworten konnte, suchte ich das Internet nach einem refurbished* iPhone 6S mit mindestens 32 GB ab. Und möglichst tiefpreisig. Farbe egal.

Bald wurde ich bei einem deutschen Anbieter fündig: 64 GB für € 110.–. Da irgendwo ist meine Schmerzgrenze gewesen. Geliefert wird aus Spanien, garantiert innert 48 Std., allerdings wird vom Anbieter nicht in die Schweiz verschickt, weshalb ich, wie oft, Irgendlinks Adresse als Lieferadresse angebe.

Keine 24 Stunden später schickt mir der Liebste ein Foto des soeben eingetroffenen Telefons. Da er kurz darauf zu mir gefahren ist, bin ich inzwischen stolze Besitzerin eines 64 GB-iPhones, das erste Mal in meinem Leben soo viel Platz! Das Teil ist wie neu und der Akku scheint kälterobuster und überhaupt besser zu sein als der Alte.

Ja, das macht mich gerade sehr glücklich. Ja, wirklich. Es macht mich verdammt glücklich, dass ich nun wieder Appen kann. Und drauflos fotografieren. Platz für Bildbearbeitungsapps, Platz für Fotos.

Drei Spiegeleier in Pfanne digital verändert und verfremdet zu einem Gesicht. Grundfarbe blau mit Sprenkeln in grün und orange.

Der frühere Platz-Geiz – reicht der Platz noch für ein kleines Video oder kann ich danach keine Bilder mehr machen? – löst sich allmählich auf.

Übersetzen lässt sich das alles auf ganz viele andere, limitierende Umstände. Armut zum Beispiel. Wie sehr Armut unser Handeln, unsere Teilhabe einschränkt kann sich wirklich nur vorstellen, wer es selbst erlebt oder erlebt hat.

Was mich ebenfalls zurzeit sehr glücklich macht, ist spielen. Neulich habe ich es auf Twitter entdeckt, ein englisches Wörterrätselspiel namens Wordle.

Gesucht wird täglich ein neues englisches Wort mit fünf Buchstaben. Wie beim analogen Steckspiel Mastermind, das meine Generation geliebt hat, sagt das Programm, ob die Buchstaben im von mir gewählten Wort die richtigen oder die falschen sind und vielleicht sogar schon am richtigen Ort stehen. In möglichst wenigen Schritten soll so das Tageswort erraten werden.

»Der Erfinder des Spiels, der Programmierer Josh Wardle, will mit »Wordle« erstaunlicherweise kein Geld verdienen. Weder sammelt er persönliche Daten über die Nutzerinnen und Nutzern, noch brüllen einem von der beinahe elegant wirkenden Website Anzeigen entgegen.

Zugleich gibt es aber noch einen Kniff, der das Spiel zum sozialen Erlebnis macht: Jeden Tag gibt es nur ein Rätsel, das für alle gleich ist.«

Quelle: Wordle-Entstehungsgeschichte. Die romantische Geschichte hinter dem Spiel gibt es bei Spiegel.


*Was sagt Wiki über Refurbishing

Deutschland/Europa: backmarket.de
Schweiz: revendo.ch

(Werbung durch Namensnennung, ohne Gewinn/Vorteile)