Verständnis? Ja, aber …

Auf der Suche nach einem Ereignis, über das ich gebloggt zu haben meine, scrolle ich manchmal durch mein Blog. Dieses externe Gedächtnis war mir schon oft sehr hilfreich.

Dabei bin ich heute auf diesen präpandemischen Text hier gestoßen, den ich – auch fünf Jahre später – so noch unterschreibe.

Drei rotbemützte Bäume
Drei rotbemützte Bäume, verfremdet

Ich verstehe, warum wir uns Halstücher und Mützen anziehen. Krawatten werden mir wohl immer ein Rätsel bleiben.

Ich mag Barfußgehen auf der Erde und durch nasses Gras. Gehen in Stöckelschuhen tut mir nur schon beim Zuschauen weh.

Ich verstehe mich auf Schönheit und Ästethik. Nicht auf Effekthascherei.

Ich kann Stimmungen hinter der Schminke lesen. Von Maskeraden und Make-Up verstehe ich nichts.

Ich verstehe etwas von der Sprache der Liebe. Nichts aber von jener der Image- und Machtsymbole.

Ich erkenne, wenn jemand Hilfe braucht. Von Intrigen und Powergames habe ich keine Ahnung.

Ich liebe es, spontane Geschenke zu machen, aber mit Schenken-auf-Befehl kann man mich verjagen.

Ich verstehe etwas von Gefühlen, mit dem Missbrauch derselben bin ich allerdings immer wieder überfordert.

Ich mag es, mir eine eigene Meinung zu bilden, sie aber als die einzig richtige zu betrachten, geht mir gegen den Strich.

Ich freue mich über Rückmeldungen für mein Tun. Auf Lob zu warten mag ich dennoch nicht.

Ich mag es, Herzblut und Zeit an Freundinnen und Freunden zu verschenken. Mich aber von Menschen ausnutzen und klein machen zu lassen ist überflüssige Kraft- und Zeitverschwendung.

Ich echauffiere mich immer mal wieder über Dinge, die andere tun oder lassen. Hasskommentare und Hassaktionen gehen dennoch absolut nicht.

Ich verhalte mich solidarisch. Ausgrenzung und Ausbeutung toleriere ich nicht.

Ich stehe für Würde. Sie ist weder freiwillig noch ein Konjunktiv, sie ist ein für alle Menschen geltendes Menschenrecht.

Ein Lieblingskinderbuch taucht am Erinnerungshorizont auf …

So langsam schleicht sich das Virus, das vor fünf Jahren die Welt veränderte, wieder aus meinem Körper – und mit ihm verlässt mich das Fieber. Diesmal hat es mich deutlich weniger heftig in die Knie gezwungen als vor zwei Jahren. Diesmal habe ich ihm mehr Widerstand leisten können, die Impfungen halfen. Gleichzeitige Zahnschmerzen, die behandelt werden müssen – verschoben auf nach dem Kranksein. Dennoch bin ich nicht so leichtsinnig, diese Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Nur weil ich Glück hatte, haben andere nicht automatisch auch Glück.

Draußen liegt seit vorgestern Abend Schnee. Er schmilzt – oder sinkt zumindest in sich zusammen, wie es Schnee zu tun pflegt. Ich werde nachher, das erste Mal seit Montag, das Haus verlassen. Morgen sind Abstimmungen. Ich will meine Wahlunterlagen in den Briefkasten des Gemeindehauses werfen. Bürgerinnenpflicht. Wider die Hoffnungslosigkeit. Hinter das erste JA, das ich geschrieben habe, um den jungen Menschen meines Kantons  schon ab 16 Jahren zu einer Stimme zu verhelfen, habe ich versehentlich und impulsiv ein Ausrufezeichen gesetzt. Keine Ahnung, ob die Stimme damit noch gültig ist. Ich hoffe es. (Von mir aus dürfte sie doppelt gezählt werden.)

Die Stimmen gegen das Stimmrecht ab 16 tönten so: »Bis jetzt ging es ja auch immer!«

Ja, genau. Fragt sich bloß, wie?! Sagte ich schon, dass ich je länger je politikverdrossener bin?

Gestern, ausgelöst durch einen Chat mit einer Freundin, die schreibend über ihre Kinder nachdachte, fiel ich mitten in eine Erinnerung. Wie hatte dieses Buch doch gleich noch geheißen, dass ich in der dritten, vierten und fünften Klasse wieder und wieder gelesen habe? Es war eins dieser wunderbaren Bücher, die ein fantasiebegabtes Kind, wie ich es eins war, einfach lieben musste. Das ging gar nicht anders, denn Fräulein Pudel-Dudel wusste immer Rat. Solche Erwachsenen hätte ich mir damals gewünscht.

Ein leinengebundenes, orangefarbenes Buch, dessen Buchrücken und Vorderseite sichtbar sind. Auf dem Buchrücken ist der Autorinname »Betty MacDonald« und der Buchtitel »Fräulein Pudel-Dudels Wunderkuren« lesbar. Auf der Vorderseite rechts unten ist eine stilisierte Person mit wuscheligem Haarschopf neben einem Vogelbauer, in dem ein Papagei sitzt, zu sehen. Die Figurern und die Beschriftung sind in dunkelgrüner Farbe in den Leineneinband eingeprägt.
Ein leinengebundenes, orangefarbenes Buch, dessen Buchrücken und Vorderseite sichtbar sind. Auf dem Buchrücken ist der Autorinname »Betty MacDonald« und der Buchtitel »Fräulein Pudel-Dudels Wunderkuren« lesbar. Auf der Vorderseite rechts unten ist eine stilisierte Person mit wuscheligem Haarschopf neben einem Vogelbauer, in dem ein Papagei sitzt, zu sehen. Die Figurern und die Beschriftung sind in dunkelgrüner Farbe in den Leineneinband eingeprägt.

Immer, wenn Kinder und ihre Eltern (na ja, es waren meistens die Mütter) nicht mehr weitergewusst hatten, gingen sie zu ihr. Fräulein Pudel-Dudel, eine kauzige, ältere Frau mit einem riesengroßen Herz, die eine Art Mix aus Selbsterfahrung, Antiautorität und viel Vertrauen in die Lösung der familiären Probleme legte, hatte für alle ein offenes Ohr. Sie traute den Kindern zu, aus gemachten Erfahrungen ihre eigenen Schlüsse zu ziehen und ermöglichte es, den Eltern, neue Zugänge zu ihren Kindern zu finden. Und umgekehrt.

So jedenfalls las ich die Geschichten damals, hungrig wie ich nach funktionierenden, liebevollen Familiensystemen war. So sollte es sein, fand ich, so sollten Mütter mit ihren Kindern umgehen. Egal, ob die Kinder nicht aufräumten, ihre Aufgaben nicht machten oder nicht essen wollten … Fräulein Pudel-Dudel hatte eine gute Idee, wie allen geholfen werden konnte. Na ja, wahrscheinlich idealisiere ich. Egal.

Es war übrigens exakt die abgebildete Ausgabe – gestern auf Buchbot* gefunden (Ausgabe Exlibris, Zürich**) –, die ich hatte. In meiner Erinnerung habe ich das Buch jahrelang mit mir herumgeschleppt. Und gestern habe ich es also im Netz wiedergefunden, allerdings in keinem mir bekannten Antiquariat zu kaufen. Ich habe eine Suchanfrage gestartet, denn ja, zugegeben, ich würde das Buch zu gern aus heutiger Sicht noch einmal lesen. Betty MacDonald, die Autor und selbst Mutter, hatte ein bewegtes Leben, wie ich gestern gelesen habe. Ich glaube, das Buch könnte mir auch heute noch gefallen.

Vielleicht-vielleicht wäre die Welt ein klein bisschen besser, wenn wir alle ein bisschen pudel-dudeliger wären.


*Hier mehr Infos:

**Wie dankbar ich meinen Eltern noch immer für das Bücherregal im oberen Flur bin, das sie mit im Monatsabo eintreffenden Büchern füllten, die vermutlich nur ich las. Billigausgaben. Warum sie das Abo nicht abbestellten? Ich weiß es nicht. Ach, fällt mir ein, auch das Reader’s Digest-Magazin habe ich Monat für Monat verschlungen.

Wie ein sich ausbreitender Tintenfleck

Mir ist richtig elend zumute. Ein umfassendes ’Alles geht den Bach runter’-Gefühl von beinahe misantropischer Hoffnungslosigkeit erfüllt mich. Was für eine Welt, in der eine dumpfe Mehrheit lieber konservativ und rechts wählt (Hessen, Bayern), statt sich dem Neuen zu öffnen, dem Aufbruch zu widmen. Ich befürchte, dass es in der Schweiz in weniger als zwei Wochen so ähnlich aussehen wird.

Das Bild eines sich immer mehr ausbreitenden Tintenflecks drängt sich mir auf. Eine leicht beeinflussbare Masse. Erinnerungen an den Geschichtsunterricht. An die Zeit zwischen den Weltkriegen, die Zwanziger- und Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. Eine verunsicherte Masse, die irgendwann zur Mehrheit wurde. Demokratie, die gezielt mit Feinbildern destabilisiert wird. Wiederholt sich alles?

Nein, ich werde jetzt keine Politanalyse verfassen, das überlasse ich anderen Menschen, die das besser können.

Mir bleiben Traurigkeit und Wut. Und Fragen: Was kann ich konkret tun? Was liegt in meiner Macht? Meine geringen Einflussmöglichkeiten sind mir sehr bewusst. Außerdem werden die Menschen, die ich kenne, richtig wählen; und die Menschen, die ich nicht kenne, kann ich eh nicht erreichen. Also bleibt der Alltag. Rückgrat bewahren. Klar sein. Widersprechen, wo ich kann. Nicht mit Nazis diskutieren, das nicht. Aber vielleicht dort, wo Menschen unsicher sind, Einfluss nehmen.

Sind wir insgesamt genug, die das alles so nicht wollen, nicht den Zerfall der Demokratie, nicht diese Fremdenfeindlichkeit, all diese Ismen, die Minderheiten, Menschengruppen, Eigenschaften zu Feinbildern stilisieren. Sind wir genug, sind wir noch mehr, sind wir noch viele?

Und da hinein noch eine weitere Schreckensbotschaft. Ein lieber Freund hatte einen Herzinfarkt und liegt auf der Intensivstation. Er ist jünger als wir zwei. Er hat es wohl gerade nochmal geschafft und ist dem Tod von der Karre gesprungen. Hoffentlich.

Geht das jetzt immer so weiter mit diesen häufiger werdenden Einschlägen, während wir alle älter werden? (SPOILER: Ja.)

Mir ist schlecht.

Studie zum #Teilen | #ME/CFS

Unsere liebe Freundin S. ist vor über 20  Jahren nach einem Infekt an ME/CFS erkrankt. Ein langer Leidensweg liegt hinter ihr. Seit wegen LongCovid viele Menschen an ähnlichen Symptomen leiden, wurde und wird zwar ein wenig mehr an dieser chronischen Krankheit geforscht, doch immer noch viel zu wenig. Umso größer ist darum ihre Hoffnung, dass dank dieser Studie – Links siehe unten – weiter und umfassender denn je geforscht werden kann. Sie hat uns gebeten, ihr Anliegen zu teilen. Was ich hiermit sehr gern mache. Und euch ebenfalls darum bitte.

An der Universität Edinburgh hat vor kurzem eine große genetische Studie zu ME/CFS begonnen. Unsere Freundin hat zum ersten Mal seit langem die Hoffnung, dass es mit Hilfe dieser Forschung gelingen kann, die Krankheit besser zu verstehen – eine Voraussetzung dafür, endlich wirksame Behandlungsmöglichkeiten zu finden.

Da die Teilnahme von zu Hause aus stattfindet und sogar vom Bett aus möglich ist, können auch schwer und schwerst Betroffene mitmachen. Um erfolgreich zu sein, braucht die Studie zehntausende Teilnehmer*innen – und Leute, die helfen, genügend Teilnehmer*innen zu finden.

Wenn Du mithelfen möchtest, gibt es verschiedene Möglichkeiten:

Auf der Website der Studie kann man einen Text für Facebook, Mastodon und andere Soziale Medien kopieren. Der Text wendet sich direkt an von ME/CFS Betroffene, die im Vereinigten Königreich leben.

Link zur DecodeME Website:

https://www.decodeme.org.uk

https://www.decodeme.org.uk/ways-to-share

Oder Du kannst einen Brief weiterleiten, den unsere Freundin für Familie und Freund*innen geschrieben hat, bei denen sie sich aufgrund ihrer Einschränkungen lange nicht gemeldet hat (siehe unten).

Der Aufruf soll vor allem Leute im Vereinigten Königreich erreichen. Auch wenn Du keine direkten Kontakte dort haben solltest – jedes Teilen oder Weiterleiten erhöht die Chance, dass ein*e potenzielle*r Teilnehmer*in von der Studie erfährt.

Danke für Deine Mithilfe!

Infos zum Teilen auf Deutsch, als PDF

Infos zum Teilen auf Englisch, als PDF

Brief unserer Freundin, englisch/deutsch, als PDF

Veränderbar, aber wir müssen es wollen

Unsere Körper gehorchen natürlichen Gesetzmäßigkeiten, körpereigenen Strukturen. So und so funktioniert ein Körper, so und so hat er sich seit Anbeginn der Zeit entwickelt.

Würde die Menschheit – die gesamte menschliche Gesellschaft – wie so ein Körper funktionieren, wie sähe da wohl die natürliche Struktur und Gesetzmäßigkeit aus? Gibt es eine allen Säugentieren übergeordnete Struktur? Wohl kaum, ich glaube, wir müssen da näher hinzoomen und jede Spezies gesondert betrachten.

Wie viele tausend Jahre tun wir Menschen nun bereits so, als wären Patriarchat und Frauenunterdrückung naturgemäße Strukturen und Gesetzmäßigkeiten? Selbst heute, mit all den Erkenntnissen, die wir inzwischen haben, leben wir gemäß verinnerlichten monotheistischen und patriarchalen Weltbildern, die so gar nichts mit der wahren Natur des Menschseins gemein haben. Vielmehr ist es doch die weibliche, die matriarchale Struktur, die der Natur entspricht: Nähren, hegen, wachsen, gemeinsam leben fördern.

Dennoch leben wir alle so, als wären diese patriarchalen Strukturen unabänderlich. Wir verhalten uns diesen verinnerlichten Regeln gemäß, haben sogar (oft) sehr gründlich aufgehört, darüber nachzudenken, wie sich Grundsätzliches verändern ließe, zu tief ist das Gewohnte in all unserm Tun verankert. Zeit und Kraft fehlen, zu sehr sind wir mit dem Erhalt des Status Quo, den wir so gar nicht unbedingt richtig finden, beschäftigt. Mangels Alternativen (aber da bin ich eben gar nicht so sicher. Es gäbe sie, aber wir kennen sie noch nicht).

Ich sehe diese patriarchalen Strukturen, diese Weltbilder, wann immer ich Nachrichten und Bücher lese, Filme gucke. Sie funktionieren ganz automatisch. Die Darstellung von Männer und Frauen – in der Berichterstattung ebenso wie in der Fiktion – vorhersehbar: Die Frau, oft hilfsbedürftig und in der Opferrolle, von physischer, struktureller und/oder sexueller Gewalt bedroht – in den Nachrichten und Krimis ebenso wie in Gesellschaftsromanen. Der Mann, oft stark und nicht selten gewaltbereit. Ausnahmen gibt es zum Glück immer mehr, in der Realität ebenso wie in der Fiktion, doch meistens wissen alle Mitspielenden, wo ihr Platz ist.

Ich sehne mich nach neuen Geschichten. Ich habe zuweilen sogar Lust, selbst eine neue Geschichte zu schreiben. Sie müsste, ahne ich, irgendwo in der (hoffentlich nahen) Zukunft angesiedelt sein, da auf matriarchalen Strukturen basierendes Alltagsleben noch Theorie und Utopie ist. Vielleicht  gibt es ja bald ein neues Untergenre von Fantasy? Hoffentlich.

Mit solchen Gedanken beschäftigte ich mich gestern Abend, nachdem ich mir einen weiteren Teil der vierteiligen Miniserie ’Unorthodox’ auf Netflix angeschaut hatte. Ich ertrage es, zugegeben, nur sehr schlecht, Esther und den anderen jungen Frauen beim Leben in ihrer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York zuzuschauen. Am schwersten auszuhalten ist für mich, wie manche Frauen ’das traditionellen Wissen’ an die jüngeren Frauen weitergeben. Wissen à la ’Wie macht man einen Mann glücklich?’ Dabei bleibt die natürliche weibliche Lust auf der Strecke – denn sie ist sündig. Eine Frau ist in erster Linie Gebärmaschine. Wenn ich von dieser einen Gemeinschaft den Blick weite und all die unzähligen Gesellschaften rund um den Erdball betrachte, in denen Frauen keine oder kaum Rechte auf eigene Bedürfnisse und Entfaltung haben (Iran, Afghanistan, Asien, Afrika), wird mir das Herz schwer. Für mich persönlich am schlimmsten empfinde ich es dort, wo die Regeln (angeblich) aus monotheistischen Quellen stammen – von männlich gelesenen Göttern diktiert. Genitalverstümmelungen und andere Verbrechen am weiblichen Körper. (Wie können Menschen an Götter glauben, die solche Dinge von den Menschen verlangen?)

Ob ich noch Hoffnung für die Menschheit habe? Ein bisschen. Wenn wir das Betriebssystem von patriarchal auf matriarchal zu drehen vermögen, könnte es funktionieren. Vielleicht.

Neues ist manchmal ganz schön anstrengend

Neulich haben wir meinen Laptop rundumerneuert. Nach einigen Querelen ist jetzt alles so, wie es soll. Und das bleibt hoffentlich so. Aber anstrengend war es. Neues fordert mich heraus. Ich hänge am Alten, am Vertrauten – und vermutlich bin ich damit nicht allein.

Das Einleben im neuen Betriebssystem auf meinem Rechner ist eigentlich fast wie das Einleben in einer neuen Wohnung. Oder in einem neuen Dorf. Oder in einem neuen Netzwerk. So ähnlich habe ich es erlebt, als ich mich – virtuell gesprochen – im dezentralen, nicht proprietären und darum unverkäuflichen Netzwerk namens Fediversum eingerichtet habe.

Ich bin im Frühling umgezogen, hatte mir allerdings bis vor Kurzem im Zwitscherhaus ein Plätzchen warm gehalten. Mit den Alteingessenen und anderen Frühlingsneulingen hatte ich es mir zwischen Frühling und Herbst schön kuschelig gemacht. Ich kam gut hinterher mit lesen, was die andern erzählten, und vor allem auch mit kommunizieren. Genau das machte für mich schließlich den größten Mehrwert aus, seit ich mich im Vogelhaus rar gemacht hatte: Diese geistreichen, spannenden, witzigen, philosophischen Gespräche da und dort, privat oder öffentlich, mit einer nach und nach organisch wachsenden neuen Blase von Menschen. Etwas, das ich früher auch mal so ähnlich auf Twitscher erlebt hatte. Doch nach und nach hatte ich aus Selbstschutzgründen dort damit begonnen, mich bedeckt zu halten ind nur noch über Allgemeines und/oder Politisches zu schreiben.

In umgekehrter Reihenfolge fing ich auf Mastodonien allmählich damit an, mich eben nicht mehr so bedeckt zu halten, sondern auch mal etwas Persönliches zu erzählen, mich wieder als Mensch zu fühlen, mich auch mal verletzlich zu zeigen … Ja, eine richtig gute Zeit war das gewesen zwischen Frühling und Herbst.

Schließlich wurde das marode Twitscherhauses doch noch an einen habgierigen Milliardär, dessen Namen ich nicht nennen mag, verkauft und ganz viele Menschen flohen deshalb ins Fediversum, um wieder so etwas wie eine neue virtuelle Heimat zu finden.

Nicht nur ich habe auf Mastodon diese Welle Neuer mit einer Art Flüchtlingswelle verglichen. In vielerlei Hinsicht verhielten sich nämlich die Flüchtenden und die Alteingessenen ähnlich wie wenn das hier eine richtige, eine physische Massenflucht gewesen wäre.

Manche Fedi-Menschen haben gelästert, einige geweint und getrauert darüber, dass jetzt die Neuen unser langsam gewachsenes Ökosystem zunichte machten. Die Neuen sollen sich doch jetzt bitte an uns anpassen, sagten viele und beschrieben, wie das gehen soll. Umgekehrt stellten die Neuen zuweilen ganz schön hohe Ansprüche. Das müsse doch jetzt bitteschön so und so funktionieren und wie geht dies und wie geht das – und viele lästerten und andere verglichen. Warum denn so und nicht so und überhaupt. Gräben taten sich zuweilen auf und es war nicht mehr ganz so kuschelig, wie ich es mich inzwischen gewöhnt war.

Und ja, klar, auch ich forderte am Anfang, dass sich doch alle bitteschön an gewisse Regeln halten sollten. Eine davon – Bilder für Sehbeeinträchtigte zu beschreiben – rufe ich immer wieder gern in Erinnerung, solange sich noch immer viele nicht daran halten.

Was ich inzwischen aus meiner Sicht sagen kann: Es ist wieder recht friedlich und freundlich geworden auf der Metaebene des Wie-geht-was? Der Umgangston ist freundlich. (Ich vermute, dass 500 Zeichen weniger Missverständnisse zulassen als 280; das ist allerdings – wie gesagt – nur eine Vermutung.)

Wie ich da und dort lesen kann, freuen sich die Neuen mit uns Mittelalten und Alten, dass es gute, konstruktive und viel weniger aggressive Diskussionen zu wichtigen Themen gibt. Ob alle Neuen glücklich sind, weiß ich natürlich nicht, aber von manchen, denen ich schon vorher auf Zwitscher, Ello und anderswo gefolgt bin, weiß ich, dass sie sich ziemlich bis sehr wohlfühlen.

Rein technisch und organisch gesprochen wächst das Fediversum vermutlich gerade viel zu schnell. Viele Server müssen von jetzt auf gleich nachgerüstet werden, sind zuweilen dennoch manchmal überlastet und darum langsam; und die Administrator*innen der einzelnen Instanzen haben gerade viel Arbeit, um die neuen Anmeldungen bewältigen zu können. Sie tun dies meist ehrenamtlich und auf Spendenbasis.

Für mich ist das Fediversum wie ein Dorf, das nun zu einer Stadt heranwächst. Vorher kannte jeder jeden, wenigstens vom Sehen, doch jetzt wird es auf einmal unübersichtlich und ein verändertes Umgehen miteinander ist notwendig geworden.

Konkret heißt das für mich, dass ich mich anders organisieren muss, um mich weiterhin wohlfühlen zu können. Ich legte mir Listen an, die so illustre Namen wie Familie (= der engste Kreis), Flauschis und News tragen. So verliere ich hoffentlich die neuen liebgewonnenen Leute nicht aus den Augen. Selten gelingt es mir, meine vollständige TL zu lesen. Und nein, das muss ich auch nicht. Ich muss nicht alles mitbekommen. Aber mich interessieren die Nachrichten meiner Lieben, darum brauche ich Listen. Aufregung brauche ich übrigens nicht mehr. Seit ich nicht mehr auf anderen SocialMedia-Plattformen agiere, bin ich viel weniger newssüchtig und – tadaaa! – ich vermisse es noch nicht einmal. (Ist wie mit Kristallzucker: Ist der erstmal aus dem Körper raus, gierst du nicht mehr danach.)

Manche Themen – Ballspieldingsis zum Beispiel – filtere ich raus. Weil ich es kann. Weil ich auf Mastodon ja einen Teil meiner Freizeit verbringe. Und in meiner Freizeit will ich keine Sportveranstaltungen kommentiert bekommen. Ich bin auf Mastodon vor allem, um zu kommunizieren. Am Anfang, nach der Großen Welle, kam ich kaum mehr hinterher, jedenfalls nicht mehr so wie vorher. Erst nach und nach kam das alte Gefühl wieder.

Und dennoch ist das Entscheidende für mich: Es darf etwas Neues entstehen! Ich lasse mich ein und verbinde das eine mit dem anderen, das Vorherige mit dem Jetzt-Zustand. Ich integriere, so gut es eben geht, das Neue und die Neuen in meinem persönlichen kleinen Fediversum. Vermutlich geht so Gesellschaft.

Um nochmals auf das Bild mit Dorf und Stadt zurück zu kommen:
Ich sehe zwei Bilder vor mir. Ein Platz mit Menschen drauf. Auf dem ersten Bild stehen zehn Menschen an ihren Lieblingsorten, auf dem zweiten stehen hundert Menschen auf ihren Plätzen auf dem Platz, jetzt ist es ein bisschen wuselig und weniger kuschelig. Die zehn Menschen vom ersten Bild stehen noch immer am gleichen Ort wie zuvor, doch ich sehe sie jetzt nicht mehr so gut wie vorher, weil die anderen neunzig eben auch noch da rumstehen. So irgendwie ist es jetzt. Und jetzt habe ich die Wahl: Ich kann mich weiterhin nur mit den zehn von vorher bekannten Menschen auszutauschen oder aber ich kann unter den neunzig anderen weitere Menschen finden, mit denen ich mich gern austauschen möchte.

Da meine Ressourcen begrenzt sind, kann ich mich mit den ersten zehn nicht mehr mit der gleichen Hingabe austauschen. Aber ich werde merke, was mir gut tut und welchen Austausch ich vertiefen will.  Auch das ist Gesellschaft. Wir leben in einer Zeit, über die in Geschichtsbüchern geschrieben werden wird. Jedenfalls, wenn die Menschheit die aktuellen Krisen und Katastrophen überlebt.

Es ist, wie es ist.
Das Neue und das Alte.
Eine sich stetig verändernde Gesellschaft.
Postkapitalismus wird von Open-Source abgelöst.
Resignation neben Hoffnung.
Zukunftsangst versus Zukunfshoffnung.

Wir hier

Wir hier – diese zwei Worte sind es, mit denen wir ausdrücken, wenn wir uns irgendwo heimisch fühlen. Es sind gute Worte irgendwie. Es sind gefährliche Worte irgendwie anders.

Mit Wir grenzen wir uns von denen ab, die nicht Wir sind. Und mit hier von denen, die woanders sind. Denn mit Wir hier meinen wir selten alle, weder alle Menschen noch alle Wesen auf dieser Erde.

Mit Wir hier stellen wir Bedingungen. Wir, die wir hier dies und das miteinander erleben, erschaffen, die wir einander auf die eine oder andere Weise nützlich sind, Beziehungen spielen lassen. Und ja, natürlich stellen wir Bedingungen. Bedingungslos? Das wäre ja noch schöner!

In den letzten Tagen ist dieses Wir-gegen-Die beinahe eskaliert. Und ich gebe zu, dass auch ich mich da und dort habe mitreißen lassen. Wir hier im Fediversum gegen die dort auf Twitter. Auch ich habe versucht, Menschen auf Twitter meine neue Heimat Fediversum schmackhaft zu machen und sie vor den bösen Worten derer, die das kleine Feine nicht zu würdigen wissen, zu beschützen. Ich weiß es ja schließlich besser, ich weiß, dass das Fediversum ein guter Ort ist, auch wenn er sich nicht auf Anhieb jeder und jedem erschließt, auch wenn zuerst ein paar Schwellchen überwunden werden müssen. Aber dann, wenn du erstmal dort bist, dann …

Ich habe mir den Mund fuselig geredet, weil ich meine Lieben aus den Fängen des proprietären, alles fressenden Monsters E. M., der Twitter gekauft hat, reißen wollte. Beste Absichten hatte ich, liebe Menschen geradezu vor dem Untergang zu retten. Dennoch schoss ich zuweilen übers Ziel hinaus. Na ja, irgendwann habe ich es zum Glück gemerkt. Und mich erinnert, denn wenn ich im Laufe meines Lebens etwas gelernt habe, dann dass sich niemand gegen seinen Willen retten lässt. Freier Wille und so.

Ich denke dieser Tage viel nach: Was genau suchen wir eigentlich in den Sozialen Medien? Tief innen. Aufmerksamkeit? Sehen und gesehen zu werden? Austausch? Nun ja, wem es um viele Klicks geht, um viel Aufmerksamkeit, um viel Publikum geht, wer seine Posts nach Gesetzen der Nützlichkeit für seine Anliegen publiziert, wird vielleicht tatsächlich im Fediversum nicht glücklich. Im Fediversum läuft nämlich alles ganz ohne Algorithmen streng chronologisch. Die neusten Posts sind ganz zuobert. Posts, die geboostet ­ – heißt: geteilt – werden, bekommen mehr Aufmerksamkeit als jene, die von den Lesenden mit einem Stern versehen werden. Der Stern heißt alles Mögliche. Zum Beispiel Das gucke ich mir später in Ruhe an oder Das berührt mich.

Die Anzahl der Sterne, die ein Post – ein Toot, ein Tröt – erhält, ist ohne Bedeutung. Hier kommt nicht der oder die mit der lautesten Stimme weiter, sondern Menschen, die über Dinge schreiben, die von vielen gelesen, gemocht und geteilt werden.

Ich gestehe, dass ich trotz bester Absichten erst beim dritten Anlauf ‚warm‘ mit Mastodon geworden bin. Angemeldet habe ich mich dort bereits vor über vier Jahren. An den Anlass des Massenexodus von Twitter zu Alternativen erinnere ich mich nur noch vage, doch ich wollte bereits damals Twitter verlassen. Auf Ello und Mastodon fand ich einen Zweit- und Drittwohnsitz. Damals konzentrierte ich mich mehr auf Ello als auf Mastodon, weil die Menschen, die ich dort fand, damals mehr zu mir passten. Auf Ello fand ich eine eher künstlerische, sprachaffine Blase, während ich auf Mastodon kaum Menschen mit ähnlichen Interessen antraf. Vermutlich, weil ich zu wenig suchte, zu wenig fragte, mich zu wenig einbrachte fand ich auf Mastodon vor allem IT-affine Techniknerds. Bestimmt hat es schon damals dort Menschen gegeben, die über Alltägliches redeten.

Die meisten Menschen, die damals mit mir Twitter verlassen wollten, sind doch wieder zurückgekehrt. Auch ich wurde wieder auf Twitter heimisch, es war wohl neben der Bloggosphäre mein längstes virtuelles Zuhause, zumal ich dort im Laufe der Jahre viele Menschen kennen und schätzen gelernt hatte – auch persönlich. Ich lebte ich einer Blase mit vielen Schnittmengen und Themen und pflege regen Austausch über Sprache, Literatur, Politik und Alltägliches.

Doch allmählich veränderte sich der Wind. Vor oder während der ersten Pandemiejahre wurde der Ton immer harscher. Ich schrieb immer weniger Persönliches, teilte dafür immer mehr Infos zu diesem oder jenem Thema. Fast unmerklich geschah das. Meine Timeline zu lesen überforderte mich längst, irgendwann hatte ich ein paar wenige Lieblingsleute in eine Liste gepackt und las Twitter nur noch innerhalb dieser Liste.

Im Frühling, als sich E. M. überlegte, Twitter zu kaufen, beschloss ich, meinen vier Jahra alten Mastodon-Zweitwohnsitz als Hauptwohnsitz zu reanimieren und Twitter zum Zweitwohnsitz zu machen. Nicht, weil es gerade alle taten und das chic war, sondern weil ich dringend etwas anderes brauchte.

Ich sehnte mich nach einem Ort, wo miteinander nicht aneinander vorbei gesprochen wurde. Nicht nur debattiert, diskutiert, geschrieen, sondern geredet, einander zugehört. Ich sehnte mich nach einem Netzwerk, nach Reden ohne Goldwaage, mit Respekt. Und mit Humor. Nach mehr Netzwerk und weniger Medium sehnte ich mich. Dass mir – von Anfang an schon – der Open Source-Gedanke hinter dem Fediversum gefiel und noch immer gefällt, muss ich wohl nicht extra erwähnen? Ich arbeite ja schon seit vielen Jahren gern mit Linux (Ubuntu) und seinen vielen Open Source-Programmen und möchte nicht mehr tauschen.

Also versuchte ich vor einem halben Jahr, mich auf Mastodon einzurichten. Technisch war bald alles klar, doch inhaltlich war ich die erste Zeit überfordert. Wem sollte ich bloß folgen? Jene, die ich vor vier Jahren abonniert hatte, waren größtenteils gar nicht mehr da. In meiner noch verbliebenen Timeline wurde hauptsächlich nerdisch gesprochen oder dann waren es Leute, die sich untereinander schon so gut kannten, dass ich mich da unmöglich einfädeln und reingrätschen konnte und wollte. Don‘t stopp a running system. Heute weiß ich: Doch, das hätte ich gedurft.

Es war eine Zeit der Unsicherheit. Ich fühlte mich so unendlich neu hier, einsam, unsichtbar. Doofe Pausenhofgefühle. Bis ich irgendwann begann, Fragen zu stellen. Und da und dort auf Posts zu reagieren. Manchmal kam etwas zurück und ich begann jenen zu folgen, deren Posts mich ansprachen. So wuchs meine Timeline und schließlich fand ich nach und nach über Hashtags (mit Themen wie Bücher, Lesen, vegan etc.) Menschen, die ich gern las und mit denen ich je länger je mehr ins Gespräch kam. Über Alltägliches ebenso wie über zutiefst Existentielles. Was ich ganz besonders mag an Mastodon: Mitten in einem Gespräch, das immer persönlicher wird, kann ich bei jedem meiner Posts entscheiden, ob es für andere oder nur für Folgende, womöglich sogar nur für die Person, mit der ich gerade spreche, sichtbar ist.

Nein, es war wirklich keine einfache Zeit. Phasenweise fühlte ich ich überhaupt nicht mehr irgendwo zugehörig. Dort nicht mehr, hier noch nicht. Aber ich wollte es. Ich wollte wirklich Teil dieses Netzwerks werden. Ich sehnte mich danach, außer meiner analogen Welt, wieder einen Ort des Austauschens zu haben, einen virtuelle Raum, wo immer jemand zum Schwatzen, Trauern oder Lachen aufgelegt ist.

Allmählich stelle ich fest, dass mein Selbstschutzpanzer, den ich mir auf Twitter zugelegt hatte, nicht mehr so dick ist, dass ich wieder weicher und vertrauensbereiter geworden bin. Ich erholte mich von den Blessuren und begann mich wieder menschlich unter Menschen zu fühlen (jaja, ich übertreibe hier ein wenig). Vielleicht darum ertrage ich Twitter je länger je schlechter. Ich ging bis vor kurzem immer nur schnell gucken, was meine Lieblingstwitternden schrieben, teilte ab und zu etwas, das mir wichtig war und gut. Kaum mehr persönliche Posts.

Im Mai habe ich innerhalb von Mastodon die Instanz gewechselt und bin nun auf einem Server, dessen Inhaber ich persönlich kenne. Das ist ein gutes Gefühl. Theoretisch hätte ich meine ganzen Follower mitnehmen können, doch ich beschloss, dort bei Null anzufangen. Natürlich bin ich manchen wieder gefolgt, doch es war dennoch ein Neuanfang, denn alle, die mir folgen wollten, mussten mich neu abonnieren. Bei Twitter wusste ich schon gar nicht mehr, wem ich warum gefolgt bin und wer mir warum. Schon wieder dieses Nützlichkeitsdenken!

Heute abonniere ich Menschen unter dem Kriterium, wer mir gut tut. Mit wem kann ich gut? Die ist mir sympathisch. Der hat einen guten Humor.

Ich gestehe mir ein, dass das hier eine Art Fluchtort ist. Hier will ich nicht in erster Linie – shameonme – über Schrecken, Krieg und Katastrophen lesen. Obwohl diese Themen hier auch vorkommen, natürlich, doch hier kann ich besser dosieren, da heikle Themen idealerweise mit einem CW (Content warning) und heikle Bilder mit einer NSFM-Marker versehen werden – wer trotzdem lesen und gucken will, kann die Texte und Bilder durch Draufklick öffnen. Wir nehmen Rücksicht auf anderem, denn wir dürfen uns schützen. Doomscrolling nützt niemandem und mitfühlen können wir auch dann, wenn wir nicht ständig über Katastrophen lesen.

Seit Twitter verkauft worden ist, ist es für mich übrigens auch eine politische Haltung und ich bin soo kurz davor, meinen Twitteraccount zu löschen. Ich entscheide selbst, wo und wie ich mich vernetze.

Wir brauchen Orte, wo wir aufatmen, wo wir Quatsch machen und lachen können. Und philosophieren. Reden miteinander. Und diesen Ort habe ich auf Mastodon gefunden. Ich teile ihn gern und wünsche mir, dass ihn andere ebenfalls finden können. Wir alle brauchen solche Orte. Je länger je mehr.

»Jede noch so kleine Fläche wird mit einem Solarpanel bestückt«

Wie so ein Schutzgitter aus ganz feinem Draht fühlt es sich an, was ich da um mich herum gesponnen habe vor den Ferien. Ich nenne es nicht digitales Entgiften – weder auf Deutsch noch auf Englisch – denn es ist ja nicht alles Gift. Es war einfach alles zu viel. Im nicht-virtuellen Leben ebenso wie im virtuellen, im persönlichen ebenso wie im öffentlichen. Zu viele Informationen, zu viele Katastrophen, zu viele Eindrücke und Reize, und darum herum auch zu viel Hitze.

Es war eine leise und eher halbbewusst getroffene Entscheidung, mich während der Ferien von jeglichen Nachrichtenfluten fernzuhalten und mich einfach mal nur auf das für mich Wesentliche zu fokussieren.

Da war die Wanderung. Der nächste Schritt, immer nur der nächste Schritt. Im Kleinen ebenso wie im Größeren: Wie sieht der nächste Streckenabschnitt aus? Muss ich meine Wasserflasche ganz füllen oder kann ich mich von Brunnen zu Brunnen satttrinken? Wo picknicken wir? Wo bauen wir das Zelt auf? Wo pinkle ich, wo kaufen wir ein, wo lassen sich unsere Solarpanels hinlegen oder aufhängen, damit wir unsere Handys laden können? Solche Dinge.

Das Nachrichtenfasten ist mir ziemlich gut gelungen, ich habe nicht einmal die Nachrichtennewsletter geöffnet. Außerdem gab es ja auch vor und nach der Rückkehr ins heimische Nest genug schwierige Nachrichten im persönlichen Umfeld, die mich, die uns beschäftigt haben.

Je näher nun mein Alltag mit Terminen und Arbeit wieder rückt, desto dünner wird mein Schutzgitter aus feinem Draht, das ich mir vor den Ferien gesponnen habe. Es erinnert mich an das Blasenpflaster, das ich mir in Naters gekauft und an die Ferse geklebt hatte. Eine dünne, durchsichtige Kunststoffhaut war das und es hieß dabei ausdrücklich, dass es nicht vor seiner Zeit abgelöst werden solle, denn es löse sich von allein ab. Tatsächlich. Die vorherigen Blasenpflaster, schon älteren Datums, hatten sich jeweils nach einem Tag mit Wasserkontakt und Wanderschuhstrapazen abends wieder gelöst und ein neues Pflaster erfordert, um die Blase zu schützen, die sich hartnäckig an meinem linken Fersenknöchel hielt.

Das neue Pflaster aber hielt fast eine Woche und als ich es schließlich dann doch entfernte, hatte sich darunter bereits neue Haut gebildet.

Unter meinem dünnen Schutzgitter, in das ich mich Anfang Ferien gesponnen habe, ist womöglich auch eine Art neue Haut entstanden, die mir hilft, dem Alltag wieder gelassener zu begegnen als davor, da meine eh schon dünne Haut noch dünner geworden war.

Gestern Morgen öffnete ich das erste Mal seit Ferienbeginn den samstäglichen Republik-Wochenend-Newsletter, überflog ihn und öffnete einen Artikel. In »Das Ziel Nummer zwei« erzählt Simon Shuster, wie es Olena Selenska nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine ergangen ist und wie sie sich heute schon auf die Traumafolgen der Menschen nach dem Krieg stark macht, indem sie unter anderem Weiter- und Ausbildungen für Therapeut*innen aufgleist, die den vom Krieg traumatisierten Menschen helfen werden. Da ist so viel verzweifelte Hoffnung in diesem Ansinnen. Das Ende des Krieges wird kommen. Hoffentlich bald.

Und ic? Ich habe, beschämenderweise, auch diese Katastrophe, diesen Krieg bereits in meinen Alltag integriert, irgendwo neben all den anderen Katastrophen, weil da kein Platz mehr für noch mehr Krise ist.

Der erwähnte Text hat mich jedenfalls zutiefst berührt und ist mir unter die neue, ein bisschen nachgewachsene Haut gefahren.

Mir geht es aktuell, und sogar schon eine ziemliche Weile, ziemlich gut. In mir drin, mit mir und in meiner kleinen Blase, habe ich meistens Boden unter den Füßen – trotz der schwierigen Dinge im nahen Umfeld, die mich mitbetreffen. Dennoch, nein, habe ich wenig Hoffnung, dass die Welt sich irgendwie noch zum Guten verändern könnte, grundsätzlich, langfristig. Gucke ich auf das Kleine, sehe ich viel Schönes, Gutes, Ermutigendes, Heilsames, aber der Blick auf das Große und Ganze zeigt ziemlich viel ScheiXXe.

Es fühlt sich an, sage ich zum Liebsten, als hätte ich fast zwei Wochen unter einer Decke gelebt, mich feige vor der Realität versteckt.

Wie kann ich (wie können wir) mit der Nachrichtenflut umgehen, ohne uns entweder vor Mitgefühl selbst zu zerfleischen und kaputt zu machen oder aber zu abgestumpften, nicht mehr mitfühlenden Menschen zu entwickeln? Wie könnte der Mittelweg aussehen?

Funktionieren Mittelwege überhaupt noch angesichts all der Katastrophen; müsste ich nicht viel konkreter denken, leben, handeln? Und wenn ja, wie? An welchem kleinen Ort wäre mein Handeln möglich, für mich, und sinnvoll, hilfreich?

Die Wasserfässer in Irgendlinks Garten sind noch recht gut gefüllt. Das im Winter und Frühling vom Dach gesammelte Regenwasser hat gute Ernten ermöglicht. Was aber, wenn es einfach nicht mehr regnet (oder schneit) und die Quelle hier oben auf dem Einsames-Gehöft-Berg versiegt, wie schon manche Flüsse?

Wir haben eigentlich nur eine Chance zu überleben: Es muss den Forschenden bald gelingen, das Meerwasser trinkbar zu machen. Außerdem braucht es auf allen Hausdächern, über allen Parkplätzen, auf jedem Stück Brachland und wo immer es möglich ist, Solaranlagen, die für Energie sorgen. Und Windräder an allen möglichen Stellen. Und Bäume. Überall. Teerplätze müssen aufgebrochen und an jeder freien Stelle Bäume gepflanzt werden.

»Jede noch so kleine Fläche wird mit einem Solarpanel bestückt«, sage ich.
»Jede Glatze!«, sagt der Liebste.
»Genau Glatzen! Und Hüte. Und Schirme. Jacken. Kleider. Und überall Powerbanken, die die Energie unmittelbar speichern. Das sollte doch möglich sein.«

Neulich schrieb ich auf Mastodon:

»Die Schweizer Flüsse haben noch gut Wasser.
versus
Die Schweizer Gletscher schmelzen so unaufhaltsam und endgültig wie die Polkappen.
Fertig mit Ewiges Eis.«
(Quelle)

und

»Es hat ganz schön abgekühlt da draußen. Die ganze Nacht war Durchzug. Auch die Wohnung ist nun wieder kühl. Es riecht nach Regen.
Dankbarkeit.

Dennoch denke ich oft: „Wir leben in der Galgenfrist!“ und „Lieber Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?“«
(Quelle)

Dennoch habe ich noch Träume:

»Ich habe heute Nacht von schweizweit (oder auch andere Länder) flächendeckenden |en Sonntagen geträumt. Also ganzjährig, immer & überall. Nur noch ÖV lief.
War echt schön!«
(Quelle)

Vielleicht sind es doch die kleinen Dinge, mit denen wir es doch noch schaffen werden? Gemeinsam. Vielleicht.

Was alles nicht sein kann

Was alles nicht ist, aber sein könnte, wenn.
Unendlich viele ungelebte unlebbare Parallelleben.

Was wäre aus dem jungen Mann, der später mein Vater wurde, geworden, wenn er nicht die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges, mit 18 oder 19, zur Rekrutenschule eingezogen worden wäre, um die Schweizer Grenze im Tessin zu bewachen?

Was wäre aus der jungen Frau, die später meine Mutter wurde, geworden, wenn sie nicht jene einschneidenden, übergriffigen Erfahrungen gemacht hätte, über die sie nie gesprochen hat und die ich darum nicht wirklich ermessen kan?

Was wäre aus der jungen Frau, die ich einst war, geworden, wenn sie nicht jenem einen Menschen begegnet wäre, dessen traumatisierende Handlungen ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt haben – und zwar so nachhaltig, dass sie noch immer daran leidet?

Was wäre aus dem jungen Menschen geworden, wenn er nicht diesen schlimmen Infekt bekommen hätte, der zu einer schweren chronischen Erkrankung wurde, die ihn nun schon seit vielen Jahren ausbremst?

Was wäre aus der jungen Frau geworden, wenn bei ihrer Geburt die richtigen Maßnahmen hätten ergriffen werden können? Ob sie heute gehen könnte und wie dann ihr Leben aussähe?

Was wäre aus dieser jungen Mutter geworden, die nun mit ihren zwei Kindern in einem kleinen deutschen Dorf sitzt, fernab von ihrem Mann, dem Vater ihrer Kinder, der sein Land vor russischen Soldaten verteidigt?

Was wäre aus diesem junge Mann geworden, der mit einer Waffe ausgestattet gegen seine tiefe pazifistische Überzeugung in einen Krieg geschickt wurde, den er nicht will?

Und vergessen wir die Tiere und Pflanzen nicht, denn was wären wir ohne sie!
Was wäre aus all diesen Hühnern, Schweinen, Kälbern geworden, wenn Menschen sie nicht in Schlachthäuser gebracht hätten, um ihren Fleischhunger zu stillen?

Was wäre aus all diesen Bäumen geworden, wenn Menschen sie nicht gefällt hätten, um an ihrer Stelle Häuser, Straßen oder Monokulturen anzubauen?

Gestohlene, verlorene Leben nenne ich das für mich.

Wir alle, jedenfalls fast alle, haben gestohlene, verlorene, nicht wahrgenommene Möglichkeiten. Kleinere und größere. Und je nachdem, wann diese Ereignisse eintreten und mit welcher Wucht, kann das unsern ganzen Lebensentwurf grundlegend verändern.

Letztlich ist es Zufall, ob wir ein Leben in Würde führen können.
Es ist Zufall, wo wir geboren werden, mit welcher Hautfarbe, mit welcher gesundheitlichen Konstitution, mit welcher mentalen Ausstattung, mit welcher sexuellen Präferenz, mit welchen Talenten.
Es ist Zufall, ob wir dort, wo wir geboren wurden, entsprechend unserer Identität leben können.

Manche von uns schaffen es trotz schlimmster Voraussetzungen ein gutes, ein zufriedenes Leben zu leben.
Manchen fehlen dazu die Kraft und die Fähigkeit.
Anderen das Vertrauen.
Vielen die Perspektive
Fast allen die Liebe.

Was wohl aus all diesen Kindern wird, die heute irgendwo auf dieser Erde unterwegs auf der Flucht sind – vor einem Krieg oder weil ihr Land verdorrt ist, überschwemmt, unbewohnbar geworden?

Was wäre, wenn?
Wäre das andere, das ungelebte, das unlebbare Leben ein besseres?

Leben im Konjunktiv.
Anders geht nicht.
Leben in der Vorläufigkeit.
Weil Leben nie zuverlässig, nie vorhersehbar ist.

Der Traum vom Ideal.
Die Sehnsucht nach Freiheit.
Der Wunsch nach Zufriedenheit und HappyEnd.

Nichts davon haben wir auf sicher.

Falsche Rücksichten

Manchmal wünsche ich mir die Naivität zurück, die ich noch vor wenigen Jahren hatte: Den ziemlich festen Glauben daran, dass wir als Gesellschaft das Steuer nochmals herumreißen können. Die Illusion, dass wir alle es im Grunde gut miteinander meinen und unser Bestes geben, um die Welt einen lebenswerten Ort sein zu lassen oder sie wieder zu machen.

Die letzten zwei Jahren haben meine Naivität und meine Illusionen nachhaltig zerstört.

Die aktuelle Lage ist desolat. In vielerlei Hinsicht. Klimakatastrophe und Pandemie. Das Virus breitet sich wieder fast ungezügelt aus. Es bräuchte dringend Maßnahmen. Für alle. Leider auch für jene, die geimpft sind. Doch unsere Regierungen sind stagniert, resigniert vermutlich, und lassen uns im Stich.

Ich habe ehrlich gesagt Angst davor, dass wir da nie wieder rauskommen, weil es immer wieder Menschen gibt, die sich dagegen sperren, solidarisch zu sein. Spaltung!, rufen sie. Und genau jene Menschen, die über Spaltung jammern, tragen meiner Meinung nach am meisten zur Spaltung bei. (Ob diese meine Meinung objektiv wahr ist, lässt sich wohl nicht feststellen.) Am meisten auf die Nerven geht mir die Diskussionen auf den einseitigen Anspruch auf Schonung jener, die sich impfen lassen könnten, es aber nicht tun.

Sollen wir also lieber weiterhin Rücksicht auf
a.) die wenigen Lauten und Gesunden, welche die Impfung (angeblich) ’nicht brauchen’ und darum unerwünschterweise an der Durchseuchung der Gesellschaft arbeiten,
nehmen, oder sollen wir uns wieder, wie am Anfang auf
b.) jene konzentrieren, die des Schutzes wirklich bedürfen, weil die Impfstoffe bei ihnen unzureichend wirken, weil sie krank, alt oder zu jung für eine Impfung sind, oder aus anderen Gründen besonders verletzlich.

Nein, es sind nicht die die Schwächsten der Gesellschaft, die sich heldenhaft nicht impfen lassen wollen (Betonung auf wollen), denn sie haben eine Wahl und bekunden mit ihrer Weigerung ihren freien Willen.

Die Schwächsten sind die, die keine Wahl haben. Kinder, Alte, Menschen in Pflegeheimen …

Ich freue mich für alle, die geimpft oder ungeimpft ihre Covid-Infektion gut überstanden haben. Gratuliere! Ihr seid privilegierte Menschen. Doch leider haben nicht alle so viel Glück. Es gibt nämlich keine Garantie für einen milden Verlauf und es ist nicht euer Verdienst, wenn eure Erkrankung glimpflich verlaufen ist, es ist schlicht ein Privileg.

Denn Gesundheit – machen wir es uns mal wieder bewusst –, Gesundheit ist ein Privileg, ein Geschenk, vielleicht Veranlagung und Erbe, vielleicht Zufall, aber Gesundheit ist sicherlich kein Verdienst. (Obwohl es natürlich helfen kann, wenn wir gut zu uns zu schauen in der Lage sind.) Trotzdem zählt vor dem Virus Vorgesundheit nicht wirklich und nicht immer. Manch vorher superfitter gesunder Mensch hatte einen schlimmen Verlauf. Oder zwar einen milden, leidet aber noch viele Monate später unter LongCovid – ohne Garantie, ob sich der Körper je wieder von diesem Infekt erholen wird.

Denn Krankheit ist etwas, das allen passieren kann. Auch jenen, die sich Sorge tragen. Krankheit ist keine Strafe. Kein Selbstverschulden.

Vor zwei Jahren, also noch vor der Pandemie, hat der Journalist Christian Kreil für Der Standard einen sehr spannenden Artikel über den Graben zwischen der sogenannten Schulmedizin und der Alternativen Medizin geschrieben. Und über die Impffrage. ( https://www.derstandard.de)

So viel ist klar: Ich werde den Begriff Schulmedizin nicht mehr verwenden, da ich jetzt seine heikle Herkunftsgeschichte kenne.

Ich zitiere:

»Impfgegner aus alternativen, grünen und veganen Milieus reagieren in der Regel verschnupft bis empört, wenn sie auf diese Geistesverwandtschaft angesprochen werden. Allerdings gedeiht die Attitüde der Seuchenfreunde nicht im ideologischen Vakuum. Die sprichwörtliche Anti-Vax-Mom der Gegenwart, die ihr Kind mit keinem “Giftcocktail” von “Big Pharma” “vollspritzen lassen” will, die stand schon 1933 Modell – in einem Sonderdruck des Nazi-Hetzblatts “Stürmer”. Die Anti-Vax-Mom der Nazis ist blond und hält ein deutsches Baby am Arm. Der “naturferne und verirrte Mediziner” hat eine Spritze in der Hand und eine Hakennase. Der Stürmer legt der Frau die Worte in den Mund: “So ist mir sonderbar zumut – Gift und Jud tut selten gut.”

[…]

Der Rechte wünscht sich die Auslese der Lebensunwerten durch die Natur, was uns nicht umbringt macht uns stärker. Das vulgär-darwinistische Denken hat überdauert. Wer heute in “impfkritischen” Foren Diskussionen verfolgt, wird das entlang zweier Phänomene beobachten: Zynismus gegenüber Kranken und Verklärung von Krankheit.

Die Natur sortiert Schwache aus – das gefällt Impfgegnern

Maserntote von heute sind nicht etwa Opfer der Impfmüdigkeit. Sie hätten – Impfungen hin oder her – ohnehin eine zu “schwache Konstitution.” Mit anderen Worten: Die Natur putzt aus, die Schwachen bleiben zurück. Die Krankheiten der eigenen Kinder werden als Stahlbad eines natürlichen Erwachsenwerdens verklärt, mitunter mit bizarren Vergleichen. Die von der Anthroposophie begeisterte Schauspielerin Sara Koenen vergleicht die Masern ihrer Kinder in einem Aufsatz mit einer Bergtour. “Wir feiern die gesunde Wiederkehr von der großen Masern-Bergtour.” Während der Masern musste eines ihrer Kinder mit Fieberschüben jenseits der 40 Grad übrigens im Krankenhaus versorgt werden. Trotzdem schwärmt Koenen rückblickend: “Mit Ehrfurcht erfüllt mich der Berg. Manche sind umgekehrt. Manche haben es nicht geschafft.” Das sind die Schwachen, und das ist damals wie heute offenbar gar nicht so schlecht.«

Quelle: Standard.at