»Der Mord an meiner Tochter fühlt sich wie die Amputation meines rechten Beins an«, sagt sie. »Und das, was jetzt ist – die posttraumatischen Folgen, die Erinnerungen an den Knall, die Träume und die Angst vor ihnen – das ist so, als wäre seither mein linkes Bein immer lahmer geworden.« Sie streicht sich über das rechte, dann über das linke Bein. Ganz normale Beine. Von außen ist ihr nichts anzusehen.
Sie erzählt ihm, was mit ihr geschieht, wenn Menschen – wohlwollende Menschen, nette Menschen, tolerante Menschen sogar – von ihr forderten, sie solle sich zusammenreißen. Sie müsse eben bei Durststrecken auf die Zähne beißen. Es werde schon wieder besser. Sie dürfe die Hoffnung nicht aufgeben. Und solle positiv denken. Etwas komme immer. Etwas warte immer hinter der nächsten Kurve.
Nun ja, das mit der Hoffnung mochte stimmen. Andernfalls wäre sie ja nicht mehr hier. Auf einmal sind auf die Unterschiede zwischen körperlichen und mentalen Krankheiten gekommen. Er hat ihr von seinem Hodenkrebs erzählt und wie sich damals alle mit ihm solidarisiert und ihm Hilfe angeboten hatten. Zuerst hatte er damals nicht darüber sprechen wollen, doch irgendwann war es nicht mehr anders gegangen. Die Therapien hatten ihn gefordert, oft genug überfordert, und er war nicht nur körperlich, sondern auch oft seelisch erschöpft. Die Erkrankung hatte ihm – wie noch nie zuvor – deutlich gemacht, wie intensiv Körper und Seele voneinander abhingen, sich gegenseitig beeinflussten. Keine Frage, er hatte sich gefreut, wenn ihm die anderen Mut und Kraft gewünscht und ihn zum Kämpfen aufgefordert hatten, doch zugleich hatte es ihn auch gestresst. Vor allem am Anfang, als noch nicht klar war, wie die Heilungschancen standen. Diese Kampfparolen hatten ihn in eine Rolle gedrückt, die ihm nicht behagte. So viel Einmischung in sein Leben hatte ihm zusätzlich zur Krankheit unter Druck gesetzt. Sterben wäre, so verstand er seine Mitmenschen jedenfalls, sein ganz persönliches Versagen gewesen. Ein Zeichen dafür, dass er nicht genug gekämpft hätte. Alle schienen sowieso besser zu wissen, wie er mit seiner Krankheit richtig umgehen sollte. Ja, das war ihm oft zu viel Druck gewesen, zu viel gesellschaftliche Erwartung.
»Hast du gekämpft – und wenn ja, wie?«, fragt sie.
»Nun ja«, antwortet er. »Eher war es wohl ein Hoffen gewesen. Und irgendwann habe ich sogar akzeptiert, dass ich an diesem Krebs sterben könnte. Oder vielleicht einfach, dass ich sterblich bin. Weißt du, man hat die Metastasen bei mir eher zufällig und relativ spät gefunden.« Er seufzt. »Was ich damals aber begriffen habe: Körperliche Leiden und Wunden werden höher bewertet als seelische. Weil sie sichtbar sind. Weil die Schmerzen dadurch besser vorstellbar sind. Wusstest du übrigens, dass das Wort Metastasen von Wanderung kommt? Krebszellen, die auf Wanderschaft gehen sozusagen. Ich habe mir das immer ziemlich bildlich vorgestellt.« Nun lächelt er. »Und ja, ich war froh, als ich den Bescheid bekommen habe, dass die Krebszellen verschwunden sind. Natürlich können sie wiederkommen. Aber ich lebe noch. Ich habe überlebt. Und ich lebe gerne. Und wohl seither auch anders.« Er hebt seine Tasse wie zum Trinkspruch: »Wir zwei, wir sind zwei Überlebende.«
Jetzt ist es an ihr zu lächeln. »Ja, stimmt. Ich lebe seit dem Trauma auch anders. Nun ja, vielleicht nicht wirklich besser. Ich nage noch immer am Verlust an sich. Meine Tochter fehlt mir auch heute noch. Noch mehr leide ich aber an alledem, was daraus gewachsen ist. Diese Sehnsucht nach dem Leben, das ich nicht leben kann, zum Beispiel. Und obwohl ich schon seit Jahren in Therapien bin, kommen die depressiven Schübe wieder und wieder. Trotz der Medikamente. Seelenkrebs hat es einmal ein Freund genannt. Ich stelle mir auch das durchaus bildlich vor. Ich sehe die Metastasen, wie sie durch meine Seele wandern. Sich überall ausbreiten. Sich zwischen Denken und Fühlen drängen. Meta. Mittendrin. Metametastasen sozusagen. Da sind auch immer wieder diese irrationalen Ängste. Zum Beispiel davor, dass es nie mehr besser wird. Dass ich nie mehr auf eigenen Füßen werde stehen können, aber keine Hilfe bekomme. Dass die Versicherungen auf stur machen.«
»Wären deine Wunden körperlich sichtbar – das eine Bein ab, das andere lahm –, wäre dir weit mehr Hilfe sicher. Ja, das sehe ich auch so.«
»Danke, es tut gut, dass du mich verstehst. Ich wünschte mir, dass die Gesellschaft anders mit seelischen Krankheiten umgehen würde. Diese Ängste wären, würde ich sie auf den Körper übersetzen, vielleicht wie einer dieser Bandscheibenvorfälle, von denen du nicht weißt, ob er schlimmer wird. Oder besser. Oder ob es nun immer so bleibt.«
»Ein guter Vergleich. Ängste sind – von jenen, die das Überleben sichern – ja für andere meist nicht nachvollziehbar. Irrational. Dennoch wirken sie.«
»Genau. Und du weißt natürlich, dass du sie therapieren kannst – es gibt heute ja für fast alles eine Therapie – aber du schaffst es nicht, an allen Baustellen gleichzeitig zu arbeiten. Weil es so viele sind. Und sobald du an einer nicht mehr arbeitest, weil dir die Kraft dazu fehlt, wächst dort das Unkraut nach. Das stresst. Vor allem, weil deine Zwangsstörung dir kaum erlaubt, Hoffnung zu schöpfen. Wäre sie körperlich sichtbar, dann vielleicht als Ekzem, das deinen ganzen Körper überzieht und mal mehr mal weniger juckt. Und die ganzen Salben wirken nicht. Manche Medikamente werden überschätzt.«
»Das kannst du laut sagen. Bei mir haben auch die angeblich wirksamsten Medikamente überhaupt nicht angeschlagen. In dieser Phase war es, dass ich dachte ’jetzt werde ich sterben’. Was beim Einen wirkt, muss beim Anderen nicht automatisch auch wirken.« Er seufzt. »Dann fängst da an, an dir zu zweifeln. Ich gestehe, dass ich oft gehadert habe.«
»Ha! Wem sagst du das? Und natürlich weißt du die ganze Zeit, dass das alles nicht du bist. Dass es Krankheiten sind, die du hast. Aus Gründen, die du vielleicht verstehst. Oder auch nicht. Wie ein Bein, das bei einem Unfall gebrochen ist. Oder warum auch immer. Aber das bist nicht du, das alles ist etwas, das dir geschieht. Mit dir geschieht. Und du weißt – in meinem Fall – sogar, dass die Ursachen, die Auslöser im Kopf hocken und mit deinen Erlebnissen zu tun haben, mit deinen Erfahrungen. Mit Verletzungen, die du dir im Leben zugezogen hast. Manche Ursachen kannst du benennen, manche nicht. Und all das macht dich leiden. Psychosomatisch. Dein Körper bildet ab, was die Seele quält. Wenn dein Herz rast, ohne dass du ein reales Problem am Herzen hast. Und wenn du keine Luft bekommst, aber weder Asthma, noch eine Allergie noch sonst was auf der Lunge hast. Im Gegenteil. Rein organisch bist du vielleicht sogar richtig fit, obwohl natürlich auch dein Körper Abnutzungserscheinungen zeigt. Die Gelenke werden ja auch nicht jünger. Du bist verspannt. Du hast oft Schmerzen, weil du beim Sitzen in dich zusammensinkst, weil deine Körperhaltung deine innere Unruhe und Angst spiegelt. Und auch wenn du das alles weißt, ist dein Leiden nicht weniger real. Deine Schmerzen sind real.«
»Ich wage sogar zu behaupten, dass körperliche Schmerzen besser auszuhalten sind, weil sie sich erklären lassen. Eine Erklärung hilft oft beim Akzeptieren schwieriger Umstände …«.
»Ja, Erklärungen helfen zu verstehen. Es ist immer gut, wenn du die Zusammenhänge kennst«, sagt sie. »Manchmal denkst du: Es ist, wie es ist. Sag ja dazu! Doch manchmal zerreißt es dich beinahe in tausend Stücke. Was sage ich? In so viele, dass niemand es je wieder zusammensetzen könnte. Denn was du wahrnimmst, ist für dich wahr und wirkt. Selbst wenn es noch so falsche Glaubenssätze sind, die du dir schon als Kind hinter die Ohren und ins Herz hast tackern lassen. Und auch wenn du weißt, dass vieles davon falsch ist. Trotzdem wirkt es. Langzeitgift.« Sie seufzt.
»Es wird nie ein für alle anwendbares Rezept dagegen geben. Aber wem sag ich das?« Er trinkt den letzten Schluck seines Tees und schaut ihr in die Augen. »Ich wünsche uns – dir, mir, der Welt da draußen – vor allem eins: dass wir uns selbst wieder mehr zu vertrauen lernen. Und so herausfinden, was wir wirklich brauchen. Was uns genau jetzt wirklich gut tut. Sei es noch so unkonventionell.«
Diese Geschichte ist ein Beitrag für die Blogaktion #Schattenklänge . Zu den Spielregeln geht es hier → lang.