Abschied nehmen

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Es klingt immer relativ einfach in den Filmen, wenn die Angehörigen beschließen, die Maschinen auszuschalten. Dann geht sie hin, die Ärztin, drückt ein paar Knöpfe und der Patient schläft friedlich ein.

In Tat und Wahrheit ist es ein harter Kampf, der bei Freund S. aka Journalist F. über einen Monat gedauert hat. Vor etwa einem Monat hat er sich selbst ins Krankenhaus eingewiesen, weil die Schmerzen unerträglich geworden sind. Ein Quäntchen Hoffnung auf Besserung hatte er damals noch gehabt. Darauf, dass eine OP seine tauben Hände vielleicht noch retten und ihm ein wenig der in den letzten Monaten verlorenen Autonomie wieder zurückbringen könnte. Er willigte ein. Was hatte er auch für eine Wahl? Die Lähmung war – zusätzlich zu all den anderen Einschränkungen und Krankheiten – täglich schlimmer geworden. Seine Hände gehorchten ihm nicht mehr. Die Unterschrift unter die OP-Einwilligung konnte er – ich stelle es mir bildlich vor – wohl eher schlecht als recht kritzeln, sehen tat er ja auch kaum mehr und ob er, wegen seiner starken Schwerhörigkeit, die Infos zur OP und ihren möglichen Folgen verstanden hat, wissen die Göttinnen. Hatte überhaupt jemand an die Hörgeräte und funktionierende Batterien gedacht?

»Ich habe alles unterschrieben!«, sagt er zu Irgendlink, der ihn am vermeintlichen Vorabend zur großen OP besucht. Zusammen nehmen die beiden sicherheitshalbe eine Audio-Patientenverfügung auf, in der naiven Hoffnung, dass das reicht, falls die OP nicht gelingt.

Am nächsten Tag fährt Irgendlink für vier Tage zu mir in die Schweiz, naiv hoffend, dass der Operierte am Abend bereits wieder fitter ist. Ist er nicht. Im Gegenteil. Die OP fand nicht statt. Irgendlink überlegt, am nächsten Tag mit meinem Autochen von der Schweiz aus nochmals die 300 Kilometer zur Klinik zu fahren, um mit den Ärzten zu reden. Aber zum Glück ist das nicht nötig, der Arzt (oder war es eine Ärztin?) kann telefonieren. Die OP sei auf die folgende Woche verschoben worden – warum auch immer.

Unser aller Freundin F. besucht S. und überbringt ihm unsere lieben Wünsche, informiert ihn. Aber es geht ihm da bereits sehr schlecht. Kaum mehr erträgliche Schmerzen. Wir überlegen, weit weg in der Schweiz, ob er wohl jetzt von seinem Notfallplan Gebrauch machen wird. Als Dialytiker, so hat er uns immer wieder erzählt, werde er – wenn er keine Hoffnung mehr auf Besserung seines Zustandes habe und ein gewisses Maß an Lebensqualität nicht mehr erreichbar sein werde – die Dialyse verweigern, sich in Palliativpflege begeben und sich vom Leben verabschieden.

Über diese Möglichkeit und Absicht hatte er besonders im letzten Jahr immer wieder gesprochen, immer häufiger, je schlimmer der körperliche Zustand geworden war. Und der seelische auch gleich, denn die Depressionen waren wieder sehr präsent geworden. Bei unserm letzten Besuch im Pflegeheim – Mitte April – hatte er mich gebeten, seinen Betreuenden zu sagen, dass er dringend eine Therapie brauche. Jemanden zum Reden, jemanden, der ihm – außer uns Freund*innen – helfe, seine Last zu tragen, die der Schmerzen, die des mentalen Drucks, der Angst vor einem Hirnschlag (CovidseiDank), vor noch mehr Schmerzen, vor noch mehr Einsamkeit, mentaler Unterforderung und fehlender Stimulation … Ich sprach diese eine Betreuerin, die mit dem Hundchen, direkt darauf an und sie versprach, sich zu kümmern. Doch so weit kam es ja dann gar nicht mehr, da Journalist F. nach einer seiner dreimal wöchentlich stattfindenden Dialysen gleich im Krankenhaus blieb. Die tauben Hände waren noch tauber geworden. Jeden Tag ein wenig mehr.

Die OP (Spinalkanalstenose) kam vermutlich zu spät.

Es folgten viele Tage auf der Intensivstation, viele, fast tägliche Besuche dort, viele Gespräche mit Pflegenden und Ärzt*innen. Irgendlink, als Freund S.s Betreuer/Beistand, der sich mit der Ethikkommission anlegt und schließlich gewinnt. Der Gewinn? Dass Journalist F. würdig und ohne Maschinen sterben darf.

Am Freitagnachmittag wurde er von der Intensiv- auf die Palliativstation verlegt. Gestern Morgen, um 8:00 rum, ist S. dort friedlich und für immer eingeschlafen.

Ich durfte gestern bei der Arbeit früher gehen, belud mein Autochen und fuhr 300 Kilometer zum Liebsten. Gemeinsam haben wir gestern S. ein letztes Mal besucht und uns von seiner irdischen Hülle verabschiedet. Er hat nun keine Schmerzen mehr, weder seelische noch körperliche. Darüber sind wir froh. Aber traurig, dass wir nicht mir mit ihm reden, lachen, philosophieren und blödeln können.

Wie er daliegt. Bereits irgendwie durchscheinend, wächsern … So werden wir alle daliegen, tot, eines Tages, denke ich. Du. Ich. Irgendlink und ich halten uns aneinander fest. S. fehlt. 🖤

Ich werde nie mehr Hörbücher auf sein Handy laden. Keine Heimbesuche mehr. Wir werden nie mehr mit ihm lachen. Nie mehr mit ihm durch den schönen Park des Pflegeheims rollen. Nie mehr Witze über die anderen Insassen reißen. Nie mehr über das miserable Essen lästern, nie mehr mit ihm rauchen, nie mehr Obst, Nikotinkaugummis, Ibuprofen und Hörgerätebatterien für ihn kaufen. Der berühmte Erinnerungsfilm läuft bei mir seit Tagen auf Hochtouren.

Ich sitze auf dem Stuhl neben seinem Bett in diesem sehr schönen, hellen, sauber duftenden Zimmer und begreife erst allmählich die Endgültigkeit. Sein hart erkämpftes Sterbendürfen – statt von Maschinen künstlich erhaltenes Lebenmüssen ohne Hoffnung auf Besserung – ist erlösend für ihn, erleichternd für uns und dennoch unglaublich schmerzhaft.

Auf dem Nachttisch stehen eine Engelskultpur und eine schwarze Kerze. Auf S.s Bauch liegt eine Blume. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.

Die sehr herzliche Schwester auf der Palliativstation sagt, dass wir jederzeit anrufen und Fragen stellen dürfen. Und dass S. doch bitte zeitnah von einem Bestattungsunternehmen unserer Wahl abgeholt werden solle. Darum kümmert sich die Schwester, sagt Irgendlink. Wie gut es doch ist, dass er und F. sich bei dieser gemeldet haben, als S. noch lebte. So konnten noch Worte des Verzeihens und der Vergebung ausgesprochen werden.

Ein Leben ist vollbracht, so, genau so, fühlt es sich an. Kein ’zu früh’, sondern ein ’genau richtig’.

Danke, lieber Freund!

+++

Ich glaube ja, den Himmel haben sich die Menschen nur ausgedacht, weil sie mit der Tatsache und Endgültigkeit des Todes nicht klarkamen. Aus dem gleichen Grund haben sie sich Gott ausgedacht. Sie brauchen jemanden, dem sie die letzte Verantwortung und all die ungelösten und unlösbaren Fragen in die Schuhe schieben konnten.

Eigentlich anders

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Eigentlich wollte ich dieser Tag hier einen liebevollen, begeisterten, einladenden Text über das geplante Live-Kunst-Reiseprojekt des liebsten Irgendlink schreiben. Einen Text über seine Pläne, via Helsinki ein weiteres Mal ans Nordkap zu radeln. Einen Text über die Umsetzung eines Traumes, der seit Mitte Pandemiezeit immer konkreter wurde und dieses Jahr in die Wirklichkeit geholt werden sollte.

Uneigentlich ist alles ganz anders. Gestern Nachmittag fand ein Gespräch statt, von dem wir uns erhofft hatten, dass danach unser lieber Freund S. endlich und seinem Wunsch, seiner mündlichen Patientenverfügung, entsprechend, von seinen unheilbaren Schmerzen befreit wird.

Diese existentielle Fragen liegen uns schwer auf Mägen und Herzen. Es geht um Würde und Autonomie bis zuletzt, und es geht um Fragen zu Lebenmüssen und Sterbendürfen. Um Entscheidungen, die wir für einen lieben Menschen treffen müssen, der sich nicht mehr zu Wort melden kann. Ich bin ja ’nur’als Mitmensch und langjährige Freundin im Boot, der Liebste jedoch als Beistand. Schwere Entscheidungen. Wir machen es uns keineswegs leicht.

Mein Herz ist schwer. So viele Erinnerungen an unseren lieben Freund S. tauchen auf, während ich an seinem Bett stehe. Die letzten Besuche im Pflegeheim. Mein letzter vor dem aktuellen Klinikaufenthalt war jener, bei welchem wir ihm das von Freunden finanzierten E-Mobil geliefert hatten. Das er aber, weil er von seiner zweiten Covid-Erkrankung noch so geschwächt war, noch gar nicht hatte probefahren können.

Leider hat das gestrige Gespräch nicht das erhoffte Ergebnis bewirkt, nämlich das Freund S. von seinen Leiden erlöst werden darf. Nochmals neun Tage Abwarterei. Heute oder jedenfalls bald bekommt S. einen Luftröhrenschnitt, dann soll das Morphin ausgeschlichen werden und alsdann soll S. bitteschön höchstpersönlich sagen, dass er nicht mehr weiterleben will. Obwohl wir eine Tonaufnahme von eben dieser Aussage haben. Und diese auch in verschriftlichter Form vorliegt. Und der Liebste immerhin S.s juristischer Beistand ist. Dass S. vor einem Monat jener einen OP zugestimmt habe, die ihn von seiner zunehmenden Lähmung erlösen sollte, sei doch Zeichen dafür, dass S. weiterleben wolle. Dass die OP eher nicht erfolgreich war, wird ignoriert.

Es ist ein Trauerspiel. Wir geben nicht auf.

Des Liebsten Reise ist jedenfalls gecancelt. Aber vielleicht ist ja aufgeschoben nicht aufgehoben. Bestimmt würde sich S. sogar freuen, wenn Irgendlink nochmals vom Nordkap in die Ferne gucken könnte. Ganz bestimmt sogar.

Alltagsbilder

Ich mag sie, diese erste Stunde. Obwohl es recht früh ist, neun Uhr. Meine monatliche Samstagsschicht in der Bibliothek beginnt meistens ganz ruhig. Ich lüfte, starte die für die Ausleihe notwendigen Programme, putze die Bücher aus der Rücknahme und stelle sie in die Regale. Dabei schaue ich die Neuheiten im Regal durch. Ob ich eins davon ausleihen und besprechen soll? Erfahrungsgemäß kommen vor zehn Uhr nur ein paar wenige Leute. Meistens ältere Damen.

Gerade habe ich eine ältere Dame bedient und verabschiedet und das Buch eines jungen Mädchens mit einem sehr schönen Vornamen eingescannt, als wir über Vornamen zu reden beginnen. Ich hatte nach der richtigen Aussprache ihres Namens gefragt, da auch mein Vorname oft falsch ausgesprochen wird. Da meldet sich die alte Dame, die am Tresen ihre Bücher einpackt, zu Wort. Sie hasse ihren Namen, sagt sie, immer schon, die Abkürzungen seien schrecklich und der Zweitname mache alles noch schlimmer. Sie erzählt von Auslandjahren und von ihren Erfahrungen. Innert weniger Minuten hat sie uns ihre Geschichte erzählt, die Kürzestfassung. Das Mädchen und ich hören zu, stellen ab und zu Fragen. Drei Frauengenerationen, die sich über ihren Platz in der Welt austauschen. Die alte Dame könnte meine Mutter sein und das Mädchen meine Tochter. Ein feines Gespräch. Auch die anderen Kundinnen nutzen heute die Gunst der Stunde. Es ist ruhig, es ist Zeit zum Reden da. Ich höre zu, berate manchmal zu Büchern, empfehle zuweilen Liebgewordenes. Dem Pensionär mit seiner Vorliebe für die Schärenkrimis empfehle ich den eben ausgelesenen Lapplandkrimi der gleichen Autorin, deren Bücher er zurückgebracht hat. Da und dort Gespräche über Lieblingsautor*innen. Und hat jener Autor eigentlich noch andere Bücher geschrieben? Haben Sie die da?

Die alten Leute kennen sich zumeist nicht mit der digitalen Suche an unseren PCs aus. Ich helfe gern.

Später fasse ich neben der Kollegin, die mir von ihren Kajak-Erfahrungen und von ihrem zukünftigen Studi-WG-Zimmer in Bern erzählt, neue Bücher in Folie. Eine sehr meditative Arbeit. Friedliche Stimmung.

Ach, und inzwischen scheint die Sonne. Endlich mal wieder Sonne! Wie gut das tut.

Auf dem Heimweg fahre ich durchs Quartier zum Supermarkt. Zwei Männer haben ein rotes Auto aufgebockt und wechseln das linke Vorderrad. »Hab ich auch eben erst gemacht, Jungs!«, denke ich beim Vorbeiradeln, »und nein, auch nicht allein!«

Im Supermarkt eine superliebe Kassiererin, die ins Plaudern kommt. Vermutlich steht es auf meiner Stirn: »Ich bin heute in Plauderlaune.«

Auf dem Rückweg sind die Jungs noch immer am gleichen Rad. Vorne links. Tse.

Mobil unter Brücken und an Tischen

Schon wieder zwei Tage her, dass ich zum Liebsten gefahren bin. Dreihundert Kilometer sind es ungefähr. Das eine Hörbuch reichte, wie zuhause berechnet, bis Colmar. Das zweite werde ich entweder dieser Tage oder auf dem Rückweg weiter hören. Aus Erfahrung komme ich hier aber eher selten zum Lesen/Hören.

Unterwegs kaum Schwerverkehr, dafür viele Menschen mit Kisten auf ihren Kisten, andere mit Wohnmobilen und Wohnwägen. Vorwärts, vorwärts. Wir fahren alle wohin, manche von uns, um uns zu erholen, uns mit lieben Menschen zu treffen, uns zusammenzusetzen.

Vor mir ein Auto, dessen Nummernschild nur noch an der linken Ecke festklebt. Ich sollte, ich will den Fahrenden Zeichen geben, aber zugleich nicht die Geschwindigkeitsbegrenzug überschreiten. Was kann ich tun? Welches Signal könnte die Fahrerin, den Fahrer auf das Problem aufmerksam machen? Noch während ich nach einer Lösung suche, fällt das Nummernschild ganz ab und fliegt direkt vor meiner Autonase vorbei in den Straßengraben auf der rechten Seite. Unbemerkt von den Menschen im Auto, das eh schneller als ich fahren will. Tant pis. Tut mir leid, aber.

Unter einer Brücke, irgendwo in der elsässischen Provinz wird es gewesen sein, dann diese zwei Menschen, die von oben den Autos auf der Gegenfahrbahn zuwinken. Ich folge ihnen mit meinem Blick im Rückspiegel. Jetzt hampeln sie sogar herum und ich hoffe, dass sie ein paar Zurückwinkende begeistern können.

Es ist genau vier Uhr, als ich das lothringische Städtchen Philippsbourg quere. Die Kirchenglocken bimmeln die Gläubigen herbei. Carefreitag ist es ja, fällt mir auf einmal ein. Eine Frau hastet auf den letzten Drücker mit Schönschuhchen und Handtäschchen den Kirchhügel bergan. Was bin ich froh, dass ich raus aus solcherlei Dingen bin!, denke ich.

Als ich eine Dreiviertelstunde später auf des Liebsten Hofplatz in eine herzliche Umarmung falle, bin ich einfach nur froh, hier zu sein.

Den Samstagnachmittag nutzen wir, um Freund S. aka Journlist F. im Pflegeheim aufzusuchen. Er bekommt wieder ein paar neue Bücher aufs Handy, für die Ohren, damit er während seiner offlinen Dialysezeiten nicht vor Langweile stirbt. Das nächste Mal werden wir ihm Obst mitbringen, denn das Essen im Heim ist unter aller Sau. Gesund geht anders. Ein Lichtblick ist darum das Elektromobil, das eine alte Dame verkaufen will. S’. freundlicher Behindertentaxifahrer kennt die Dame und hat zwischen S. und ihm eine Brücke geschlagen. Sogar ein spontaner Sponsor ist in Sicht. Man darf auch einmal Glück haben! Wir zwei werden heute hinfahren, die alte Dame besuchen, gucken, ob das Mobil zu Freund S. passt und falls ja, für einen Transport sorgen.

Denn ja, ’Wieder mehr Mobilität für Freund S.’ ist auch für uns wirklich ein Lichtblick. Die Besuche im Pflegeheim machen mich langfristig demütig. Obwohl es ein eher okayes Heim ist, liegt da so viel im Argen. Zu wenig Zeit, zu wenig Geld, zu wenig …

Noch trauriger aber macht mich, dass kaum mehr jemand Freund S. besucht. Ja, klar, es gibt prickelndere Zeitvertreibe als Besuche im Pflegeheim. Dennoch … es tut weh. Mir vorzustellen, dass ich vielleicht auch einmal in einer ähnlichen Institution landen könnte, wo niemand auf meine Unverträglichkeiten und Bedürfnisse Rücksicht nimmt, weil Zeit und Geld fehlen … es ist zum Heulen.

Vorhin hat der Liebste seine Mama am anderen Hofende besucht und ist mit einem Osterkörbchen voller Leckereien zurückgekommen, von denen ich zwar nichts vertrage, aber die Freude über diese kleine Aufmerksamkeit ist herzerwärmend. Wie gut es uns doch geht!

Jetzt sitzen wir beide an unseren Rechnern, an unseren Kopf-Mobilen, und hacken Blogtexte. Nachher werde ich noch einen Freundinnentext redigieren, dessen Deadline leider schon am Dienstag ist; und die Freundin soll ihn ja noch überarbeiten können vor der Abgabe. Da ich solche Arbeiten mag, ist das aber kein Problem für mich.

Das eben frisch gebackene Brötchenzöix sieht lecker aus. Für mich histaminfreie Brötchen, für den liebsten ein Backpulverbaguette, unter anderem mit Roggenmehl.

Gleich Frühstückszeit. Und ein erster Schritt, hier wieder mehr einfach drauflos zu schreiben.

11 Antworten auf 11 von 1000 Fragen

Ich habe heute auf Mastodon um zehn ein- bis dreistellige Zahlen gebeten und beantworte nachfolgend die entsprechenden Fragen einer Fragenliste mit »1000 Fragen an dich selbst«. Es sind schließlich elf Zahlen geworden. Und elf Antworten.

Du findest die ganze Liste übrigens hier (Link).

776. Welche Note von 0 bis 100 [wobei 0 für schlecht und 100 für perfekt steht] würdest du deinem Leben geben?

Ich kenne wirklich noch keine Person, die ihrem Leben die vollen 100 Punkte geben würde und bis vor wenigen Jahren wäre ich nie auf die Idee gekommen meinem Leben mehr als 50 Punkte zu geben. Inzwischen kann ich mir das aber doch so langsam vorstellen. Nicht aufs Ganze gesehen, da gab es zu viel Schweres, aber ab einem Wendepunkt. Und jedenfalls, wenn es bei mir jetzt so weitergeht. (Hier ist die explizit persönliche Lebensqualität gemeint, nicht das globale Ganze – falls sich das überhaupt trennen lässt.)

877. Wer beschützt dich?

Brauche ich denn eine*r Beschützer*in außerhalb meiner selbst? Außer, falls ich es selbst nicht kann? Nun ja, falls doch, dann ist es wohl erstens mein Liebster, der vor allem besonders dann gut zu mir schaut, wenn ich es selbst gerade nicht gut hinbekomme. Und zweitens: Alle lieben Menschen in meinem Leben, die mir gut und Gutes tun. Allen voran meine besten Freundinnen (U., L., M. und noch ein paar mehr).

12. Was möchtest du dir unbedingt irgendwann einmal kaufen?

Ein Beamgerät/einen Portschlüssel, das/der mich (und wer immer mich begleiten möchte) ganz ohne Energie und Abgase an meine Lieblingsorte und zu meinen Lieblingsmenschen beamt.

324. Wie alt fühlst du dich?

Innerlich jünger als ich mir früher siebenundfünfzig Jahre alt zu sein vorgestellt habe. Körperlich allerdings manchmal ganz genauso alt.

8. In welchem Punkt gleichst du deiner Mutter?

In manchen, in manchen nicht. Sie guckte zum Beispiel auch gerne Krimis.

509. Wie trinkst du deinen Kaffee am liebsten?

Das ist die bisher leichteste Frage: Weder stehend noch liegend, weder aus einem Becher noch aus einer Tasse, weder Instant noch aus der Kapsel oder dem Espressokocher, weder mit noch ohne Milch oder Zucker. Schlicht: Gar nicht.

42. Warst du gut in der Schule?

Durchschnittlich wohl im obersten Viertel, was die Noten angeht. Ich war ein ziemlich neu- und lernbegieriges Kind – jedenfalls bei den Dingen, die mich interessiert haben. Das hat sich bis heute nicht geändert.

666. Wer hat dir in deinem Leben am heftigsten wehgetan?

Meine Mutter und ein Ex-Mann.

21. Ist es wichtig für dich, was andere von dir denken?

Leider noch viel zu sehr, ja. Da arbeite ich dran.

279. Machst du leicht Versprechungen?

Eher nicht, weder mir noch anderen. Da mir sehr bewusst ist, wie rasch sich alles ändern kann, verspreche ich eher selten Dinge. Ich verspreche eigentlich nur, was ich auch halten kann oder hoffe, halten zu können.

371. Was würdest du gerne einmal tun, vorausgesetzt dass es nicht schiefgehen wird?

Im Alltag denke ich immer mal: Wenn ich jetzt mutiger wäre, würde ich das tun. Oder jenes nicht mehr tun. Vielleicht lautet darum die Antwort schlicht: Mutiger sein.


Zur Liste > hier klicken.

Die Fragen gespendet haben:
@cochise
@lakritze
@Alpha
@kropbenesch
@Pollos_Hermario
@DasNest
@DerEmil
@Schreddergeld
@viennawriter
@Tami
@t0fur0cker


Angeregt wurde dieser Blogtext durch die gnädige und sich wundernde Frau (hierlang).

Fertig lesen oder gucken? Oder doch lieber nicht?

Gestern Abend wieder dieses Dilemma. Ich bin in eine Serie geraten, die ich im Grunde kaum aushalte. Dennoch muss ich wissen, wie sie ausgeht. Es sind noch fünf von acht Folgen. Etwa sechs Stunden schiere Unerträglichkeit – will ich mir das antun?

Ein Dilemma, das ich auch von mich langweilenden Büchern oder Filmen und Serien kenne. Nur dass es dort einfacher ist. Bei zu Langweiligem kann ich einfach aufhören. Mittendrin. Bei Spannendem, aber kaum Erträglichem ist das schon schwieriger.

Das Gucken oder Lesen von Geschichten muss mir Spaß machen, mich irgendwie packen und/oder mich zumindest sehr gut unterhalten, damit ich nicht abbrechen oder nicht vorwärtsspulen muss oder will. Kurz gesagt: Der Weg zur Auflösung, zum Finale einer Geschichte, muss sich für mich lohnen, dieses Erlebnis muss mich mit Qualität belohnen. Ganz so bedingungslos wie ich gern wäre, bin ich nämlich nicht.

Anfang Dezember habe ich mir zum ersten Mal in meinem Leben ein Netflix-Abo eingerichtet. Geplant ist das Ganze erstmal für einen Monat. (Falls länger, werde ich es aber in Deutschland abschließen, da es dort doch ein paar Franken respektive Euronen günstiger zu haben ist.)

Ich wusste es natürlich schon vorher: Es macht süchtig, so viele Möglichkeiten zu haben. Meine Liste der Gucken-Will-Filmen und -Serien wird immer länger. Das fühlt sich ähnlich an wie meine vielen Stapel mit den unzähligen ungelesenen Büchern. Solche Fülle macht mal glücklich mal überfordert sie mich, dann macht sie mich sogar unglücklich.

Zurück zur Serie, die ich gestern angefangen habe. Vermutlich werde ich mir die jeweiligen Zusammenfassungen am Anfang der einzelnen Teile anschauen und dann nur noch die letzte Folge gucken. So mein Plan.

Denn was mich vom Alltag ablenken soll, darf nicht zu sehr weh tun, nicht mehr jedenfalls als der Alltag. Ich muss definitiv nicht mehr jede angefangene Serie, jeden angefangenen Film oder jedes angefangene Buch unbedingt fertig lesen oder gucken, wenn es mir nicht gefällt oder mir nicht gut tut und/oder mich vom Schlafen abhält.

Ich kann mit unfertigen Geschichten leben. Es ist meine Lebens- und Freizeit, in der ich lese und Filme schaue. Und darum darf es nicht zu sehr weh tun. Und ja, ich weiß, dass das irgendwie egoistisch ist. Aber irgendwie eben auch notwendige Selbstfürsorge. Und vielleicht ist das hier gerade eine kleine Metapher für ein paar andere Dinge in meinem Leben.


Auch Herr Buddenbohm hat übrigens über das Zu-Ende-Lesen von Geschichten gebloggt.

Dezemberspaziergang

Wenn es Winter geworden ist und das erste Mal neuer Schnee fällt, der liegen bleibt, bin ich jedes mal von Neuem winterverzaubert. Obwohl ich Wintereigentlich nicht sonderlich mag und Frieren schon gar nicht. Dennoch. Und wenn dann noch die Sonne tut, was sie am besten kann, muss ich raus.

Neulich habe ich mich meiner guten alten Digitalkamera erinnert, die schon viele Jahre auf dem Buckel hat und im Alltag vom Handy der Bequemlichkeit halber abgelöst wurde. Zusammen sind wir am Sonntag also durch den Wald und über Felder gestreift und haben ein paar Bilder mitgebracht.

Ein Klick auf eins der Bilder öffnet die Galerie.

Gewidmet all jenen, die Schnee und Winter mögen, möglicherweise keinen Schnee haben und/oder aus Gründen nicht im Wald spazieren gehen können.

Neues ist manchmal ganz schön anstrengend

Neulich haben wir meinen Laptop rundumerneuert. Nach einigen Querelen ist jetzt alles so, wie es soll. Und das bleibt hoffentlich so. Aber anstrengend war es. Neues fordert mich heraus. Ich hänge am Alten, am Vertrauten – und vermutlich bin ich damit nicht allein.

Das Einleben im neuen Betriebssystem auf meinem Rechner ist eigentlich fast wie das Einleben in einer neuen Wohnung. Oder in einem neuen Dorf. Oder in einem neuen Netzwerk. So ähnlich habe ich es erlebt, als ich mich – virtuell gesprochen – im dezentralen, nicht proprietären und darum unverkäuflichen Netzwerk namens Fediversum eingerichtet habe.

Ich bin im Frühling umgezogen, hatte mir allerdings bis vor Kurzem im Zwitscherhaus ein Plätzchen warm gehalten. Mit den Alteingessenen und anderen Frühlingsneulingen hatte ich es mir zwischen Frühling und Herbst schön kuschelig gemacht. Ich kam gut hinterher mit lesen, was die andern erzählten, und vor allem auch mit kommunizieren. Genau das machte für mich schließlich den größten Mehrwert aus, seit ich mich im Vogelhaus rar gemacht hatte: Diese geistreichen, spannenden, witzigen, philosophischen Gespräche da und dort, privat oder öffentlich, mit einer nach und nach organisch wachsenden neuen Blase von Menschen. Etwas, das ich früher auch mal so ähnlich auf Twitscher erlebt hatte. Doch nach und nach hatte ich aus Selbstschutzgründen dort damit begonnen, mich bedeckt zu halten ind nur noch über Allgemeines und/oder Politisches zu schreiben.

In umgekehrter Reihenfolge fing ich auf Mastodonien allmählich damit an, mich eben nicht mehr so bedeckt zu halten, sondern auch mal etwas Persönliches zu erzählen, mich wieder als Mensch zu fühlen, mich auch mal verletzlich zu zeigen … Ja, eine richtig gute Zeit war das gewesen zwischen Frühling und Herbst.

Schließlich wurde das marode Twitscherhauses doch noch an einen habgierigen Milliardär, dessen Namen ich nicht nennen mag, verkauft und ganz viele Menschen flohen deshalb ins Fediversum, um wieder so etwas wie eine neue virtuelle Heimat zu finden.

Nicht nur ich habe auf Mastodon diese Welle Neuer mit einer Art Flüchtlingswelle verglichen. In vielerlei Hinsicht verhielten sich nämlich die Flüchtenden und die Alteingessenen ähnlich wie wenn das hier eine richtige, eine physische Massenflucht gewesen wäre.

Manche Fedi-Menschen haben gelästert, einige geweint und getrauert darüber, dass jetzt die Neuen unser langsam gewachsenes Ökosystem zunichte machten. Die Neuen sollen sich doch jetzt bitte an uns anpassen, sagten viele und beschrieben, wie das gehen soll. Umgekehrt stellten die Neuen zuweilen ganz schön hohe Ansprüche. Das müsse doch jetzt bitteschön so und so funktionieren und wie geht dies und wie geht das – und viele lästerten und andere verglichen. Warum denn so und nicht so und überhaupt. Gräben taten sich zuweilen auf und es war nicht mehr ganz so kuschelig, wie ich es mich inzwischen gewöhnt war.

Und ja, klar, auch ich forderte am Anfang, dass sich doch alle bitteschön an gewisse Regeln halten sollten. Eine davon – Bilder für Sehbeeinträchtigte zu beschreiben – rufe ich immer wieder gern in Erinnerung, solange sich noch immer viele nicht daran halten.

Was ich inzwischen aus meiner Sicht sagen kann: Es ist wieder recht friedlich und freundlich geworden auf der Metaebene des Wie-geht-was? Der Umgangston ist freundlich. (Ich vermute, dass 500 Zeichen weniger Missverständnisse zulassen als 280; das ist allerdings – wie gesagt – nur eine Vermutung.)

Wie ich da und dort lesen kann, freuen sich die Neuen mit uns Mittelalten und Alten, dass es gute, konstruktive und viel weniger aggressive Diskussionen zu wichtigen Themen gibt. Ob alle Neuen glücklich sind, weiß ich natürlich nicht, aber von manchen, denen ich schon vorher auf Zwitscher, Ello und anderswo gefolgt bin, weiß ich, dass sie sich ziemlich bis sehr wohlfühlen.

Rein technisch und organisch gesprochen wächst das Fediversum vermutlich gerade viel zu schnell. Viele Server müssen von jetzt auf gleich nachgerüstet werden, sind zuweilen dennoch manchmal überlastet und darum langsam; und die Administrator*innen der einzelnen Instanzen haben gerade viel Arbeit, um die neuen Anmeldungen bewältigen zu können. Sie tun dies meist ehrenamtlich und auf Spendenbasis.

Für mich ist das Fediversum wie ein Dorf, das nun zu einer Stadt heranwächst. Vorher kannte jeder jeden, wenigstens vom Sehen, doch jetzt wird es auf einmal unübersichtlich und ein verändertes Umgehen miteinander ist notwendig geworden.

Konkret heißt das für mich, dass ich mich anders organisieren muss, um mich weiterhin wohlfühlen zu können. Ich legte mir Listen an, die so illustre Namen wie Familie (= der engste Kreis), Flauschis und News tragen. So verliere ich hoffentlich die neuen liebgewonnenen Leute nicht aus den Augen. Selten gelingt es mir, meine vollständige TL zu lesen. Und nein, das muss ich auch nicht. Ich muss nicht alles mitbekommen. Aber mich interessieren die Nachrichten meiner Lieben, darum brauche ich Listen. Aufregung brauche ich übrigens nicht mehr. Seit ich nicht mehr auf anderen SocialMedia-Plattformen agiere, bin ich viel weniger newssüchtig und – tadaaa! – ich vermisse es noch nicht einmal. (Ist wie mit Kristallzucker: Ist der erstmal aus dem Körper raus, gierst du nicht mehr danach.)

Manche Themen – Ballspieldingsis zum Beispiel – filtere ich raus. Weil ich es kann. Weil ich auf Mastodon ja einen Teil meiner Freizeit verbringe. Und in meiner Freizeit will ich keine Sportveranstaltungen kommentiert bekommen. Ich bin auf Mastodon vor allem, um zu kommunizieren. Am Anfang, nach der Großen Welle, kam ich kaum mehr hinterher, jedenfalls nicht mehr so wie vorher. Erst nach und nach kam das alte Gefühl wieder.

Und dennoch ist das Entscheidende für mich: Es darf etwas Neues entstehen! Ich lasse mich ein und verbinde das eine mit dem anderen, das Vorherige mit dem Jetzt-Zustand. Ich integriere, so gut es eben geht, das Neue und die Neuen in meinem persönlichen kleinen Fediversum. Vermutlich geht so Gesellschaft.

Um nochmals auf das Bild mit Dorf und Stadt zurück zu kommen:
Ich sehe zwei Bilder vor mir. Ein Platz mit Menschen drauf. Auf dem ersten Bild stehen zehn Menschen an ihren Lieblingsorten, auf dem zweiten stehen hundert Menschen auf ihren Plätzen auf dem Platz, jetzt ist es ein bisschen wuselig und weniger kuschelig. Die zehn Menschen vom ersten Bild stehen noch immer am gleichen Ort wie zuvor, doch ich sehe sie jetzt nicht mehr so gut wie vorher, weil die anderen neunzig eben auch noch da rumstehen. So irgendwie ist es jetzt. Und jetzt habe ich die Wahl: Ich kann mich weiterhin nur mit den zehn von vorher bekannten Menschen auszutauschen oder aber ich kann unter den neunzig anderen weitere Menschen finden, mit denen ich mich gern austauschen möchte.

Da meine Ressourcen begrenzt sind, kann ich mich mit den ersten zehn nicht mehr mit der gleichen Hingabe austauschen. Aber ich werde merke, was mir gut tut und welchen Austausch ich vertiefen will.  Auch das ist Gesellschaft. Wir leben in einer Zeit, über die in Geschichtsbüchern geschrieben werden wird. Jedenfalls, wenn die Menschheit die aktuellen Krisen und Katastrophen überlebt.

Es ist, wie es ist.
Das Neue und das Alte.
Eine sich stetig verändernde Gesellschaft.
Postkapitalismus wird von Open-Source abgelöst.
Resignation neben Hoffnung.
Zukunftsangst versus Zukunfshoffnung.

Wir hier

Wir hier – diese zwei Worte sind es, mit denen wir ausdrücken, wenn wir uns irgendwo heimisch fühlen. Es sind gute Worte irgendwie. Es sind gefährliche Worte irgendwie anders.

Mit Wir grenzen wir uns von denen ab, die nicht Wir sind. Und mit hier von denen, die woanders sind. Denn mit Wir hier meinen wir selten alle, weder alle Menschen noch alle Wesen auf dieser Erde.

Mit Wir hier stellen wir Bedingungen. Wir, die wir hier dies und das miteinander erleben, erschaffen, die wir einander auf die eine oder andere Weise nützlich sind, Beziehungen spielen lassen. Und ja, natürlich stellen wir Bedingungen. Bedingungslos? Das wäre ja noch schöner!

In den letzten Tagen ist dieses Wir-gegen-Die beinahe eskaliert. Und ich gebe zu, dass auch ich mich da und dort habe mitreißen lassen. Wir hier im Fediversum gegen die dort auf Twitter. Auch ich habe versucht, Menschen auf Twitter meine neue Heimat Fediversum schmackhaft zu machen und sie vor den bösen Worten derer, die das kleine Feine nicht zu würdigen wissen, zu beschützen. Ich weiß es ja schließlich besser, ich weiß, dass das Fediversum ein guter Ort ist, auch wenn er sich nicht auf Anhieb jeder und jedem erschließt, auch wenn zuerst ein paar Schwellchen überwunden werden müssen. Aber dann, wenn du erstmal dort bist, dann …

Ich habe mir den Mund fuselig geredet, weil ich meine Lieben aus den Fängen des proprietären, alles fressenden Monsters E. M., der Twitter gekauft hat, reißen wollte. Beste Absichten hatte ich, liebe Menschen geradezu vor dem Untergang zu retten. Dennoch schoss ich zuweilen übers Ziel hinaus. Na ja, irgendwann habe ich es zum Glück gemerkt. Und mich erinnert, denn wenn ich im Laufe meines Lebens etwas gelernt habe, dann dass sich niemand gegen seinen Willen retten lässt. Freier Wille und so.

Ich denke dieser Tage viel nach: Was genau suchen wir eigentlich in den Sozialen Medien? Tief innen. Aufmerksamkeit? Sehen und gesehen zu werden? Austausch? Nun ja, wem es um viele Klicks geht, um viel Aufmerksamkeit, um viel Publikum geht, wer seine Posts nach Gesetzen der Nützlichkeit für seine Anliegen publiziert, wird vielleicht tatsächlich im Fediversum nicht glücklich. Im Fediversum läuft nämlich alles ganz ohne Algorithmen streng chronologisch. Die neusten Posts sind ganz zuobert. Posts, die geboostet ­ – heißt: geteilt – werden, bekommen mehr Aufmerksamkeit als jene, die von den Lesenden mit einem Stern versehen werden. Der Stern heißt alles Mögliche. Zum Beispiel Das gucke ich mir später in Ruhe an oder Das berührt mich.

Die Anzahl der Sterne, die ein Post – ein Toot, ein Tröt – erhält, ist ohne Bedeutung. Hier kommt nicht der oder die mit der lautesten Stimme weiter, sondern Menschen, die über Dinge schreiben, die von vielen gelesen, gemocht und geteilt werden.

Ich gestehe, dass ich trotz bester Absichten erst beim dritten Anlauf ‚warm‘ mit Mastodon geworden bin. Angemeldet habe ich mich dort bereits vor über vier Jahren. An den Anlass des Massenexodus von Twitter zu Alternativen erinnere ich mich nur noch vage, doch ich wollte bereits damals Twitter verlassen. Auf Ello und Mastodon fand ich einen Zweit- und Drittwohnsitz. Damals konzentrierte ich mich mehr auf Ello als auf Mastodon, weil die Menschen, die ich dort fand, damals mehr zu mir passten. Auf Ello fand ich eine eher künstlerische, sprachaffine Blase, während ich auf Mastodon kaum Menschen mit ähnlichen Interessen antraf. Vermutlich, weil ich zu wenig suchte, zu wenig fragte, mich zu wenig einbrachte fand ich auf Mastodon vor allem IT-affine Techniknerds. Bestimmt hat es schon damals dort Menschen gegeben, die über Alltägliches redeten.

Die meisten Menschen, die damals mit mir Twitter verlassen wollten, sind doch wieder zurückgekehrt. Auch ich wurde wieder auf Twitter heimisch, es war wohl neben der Bloggosphäre mein längstes virtuelles Zuhause, zumal ich dort im Laufe der Jahre viele Menschen kennen und schätzen gelernt hatte – auch persönlich. Ich lebte ich einer Blase mit vielen Schnittmengen und Themen und pflege regen Austausch über Sprache, Literatur, Politik und Alltägliches.

Doch allmählich veränderte sich der Wind. Vor oder während der ersten Pandemiejahre wurde der Ton immer harscher. Ich schrieb immer weniger Persönliches, teilte dafür immer mehr Infos zu diesem oder jenem Thema. Fast unmerklich geschah das. Meine Timeline zu lesen überforderte mich längst, irgendwann hatte ich ein paar wenige Lieblingsleute in eine Liste gepackt und las Twitter nur noch innerhalb dieser Liste.

Im Frühling, als sich E. M. überlegte, Twitter zu kaufen, beschloss ich, meinen vier Jahra alten Mastodon-Zweitwohnsitz als Hauptwohnsitz zu reanimieren und Twitter zum Zweitwohnsitz zu machen. Nicht, weil es gerade alle taten und das chic war, sondern weil ich dringend etwas anderes brauchte.

Ich sehnte mich nach einem Ort, wo miteinander nicht aneinander vorbei gesprochen wurde. Nicht nur debattiert, diskutiert, geschrieen, sondern geredet, einander zugehört. Ich sehnte mich nach einem Netzwerk, nach Reden ohne Goldwaage, mit Respekt. Und mit Humor. Nach mehr Netzwerk und weniger Medium sehnte ich mich. Dass mir – von Anfang an schon – der Open Source-Gedanke hinter dem Fediversum gefiel und noch immer gefällt, muss ich wohl nicht extra erwähnen? Ich arbeite ja schon seit vielen Jahren gern mit Linux (Ubuntu) und seinen vielen Open Source-Programmen und möchte nicht mehr tauschen.

Also versuchte ich vor einem halben Jahr, mich auf Mastodon einzurichten. Technisch war bald alles klar, doch inhaltlich war ich die erste Zeit überfordert. Wem sollte ich bloß folgen? Jene, die ich vor vier Jahren abonniert hatte, waren größtenteils gar nicht mehr da. In meiner noch verbliebenen Timeline wurde hauptsächlich nerdisch gesprochen oder dann waren es Leute, die sich untereinander schon so gut kannten, dass ich mich da unmöglich einfädeln und reingrätschen konnte und wollte. Don‘t stopp a running system. Heute weiß ich: Doch, das hätte ich gedurft.

Es war eine Zeit der Unsicherheit. Ich fühlte mich so unendlich neu hier, einsam, unsichtbar. Doofe Pausenhofgefühle. Bis ich irgendwann begann, Fragen zu stellen. Und da und dort auf Posts zu reagieren. Manchmal kam etwas zurück und ich begann jenen zu folgen, deren Posts mich ansprachen. So wuchs meine Timeline und schließlich fand ich nach und nach über Hashtags (mit Themen wie Bücher, Lesen, vegan etc.) Menschen, die ich gern las und mit denen ich je länger je mehr ins Gespräch kam. Über Alltägliches ebenso wie über zutiefst Existentielles. Was ich ganz besonders mag an Mastodon: Mitten in einem Gespräch, das immer persönlicher wird, kann ich bei jedem meiner Posts entscheiden, ob es für andere oder nur für Folgende, womöglich sogar nur für die Person, mit der ich gerade spreche, sichtbar ist.

Nein, es war wirklich keine einfache Zeit. Phasenweise fühlte ich ich überhaupt nicht mehr irgendwo zugehörig. Dort nicht mehr, hier noch nicht. Aber ich wollte es. Ich wollte wirklich Teil dieses Netzwerks werden. Ich sehnte mich danach, außer meiner analogen Welt, wieder einen Ort des Austauschens zu haben, einen virtuelle Raum, wo immer jemand zum Schwatzen, Trauern oder Lachen aufgelegt ist.

Allmählich stelle ich fest, dass mein Selbstschutzpanzer, den ich mir auf Twitter zugelegt hatte, nicht mehr so dick ist, dass ich wieder weicher und vertrauensbereiter geworden bin. Ich erholte mich von den Blessuren und begann mich wieder menschlich unter Menschen zu fühlen (jaja, ich übertreibe hier ein wenig). Vielleicht darum ertrage ich Twitter je länger je schlechter. Ich ging bis vor kurzem immer nur schnell gucken, was meine Lieblingstwitternden schrieben, teilte ab und zu etwas, das mir wichtig war und gut. Kaum mehr persönliche Posts.

Im Mai habe ich innerhalb von Mastodon die Instanz gewechselt und bin nun auf einem Server, dessen Inhaber ich persönlich kenne. Das ist ein gutes Gefühl. Theoretisch hätte ich meine ganzen Follower mitnehmen können, doch ich beschloss, dort bei Null anzufangen. Natürlich bin ich manchen wieder gefolgt, doch es war dennoch ein Neuanfang, denn alle, die mir folgen wollten, mussten mich neu abonnieren. Bei Twitter wusste ich schon gar nicht mehr, wem ich warum gefolgt bin und wer mir warum. Schon wieder dieses Nützlichkeitsdenken!

Heute abonniere ich Menschen unter dem Kriterium, wer mir gut tut. Mit wem kann ich gut? Die ist mir sympathisch. Der hat einen guten Humor.

Ich gestehe mir ein, dass das hier eine Art Fluchtort ist. Hier will ich nicht in erster Linie – shameonme – über Schrecken, Krieg und Katastrophen lesen. Obwohl diese Themen hier auch vorkommen, natürlich, doch hier kann ich besser dosieren, da heikle Themen idealerweise mit einem CW (Content warning) und heikle Bilder mit einer NSFM-Marker versehen werden – wer trotzdem lesen und gucken will, kann die Texte und Bilder durch Draufklick öffnen. Wir nehmen Rücksicht auf anderem, denn wir dürfen uns schützen. Doomscrolling nützt niemandem und mitfühlen können wir auch dann, wenn wir nicht ständig über Katastrophen lesen.

Seit Twitter verkauft worden ist, ist es für mich übrigens auch eine politische Haltung und ich bin soo kurz davor, meinen Twitteraccount zu löschen. Ich entscheide selbst, wo und wie ich mich vernetze.

Wir brauchen Orte, wo wir aufatmen, wo wir Quatsch machen und lachen können. Und philosophieren. Reden miteinander. Und diesen Ort habe ich auf Mastodon gefunden. Ich teile ihn gern und wünsche mir, dass ihn andere ebenfalls finden können. Wir alle brauchen solche Orte. Je länger je mehr.

Zumutbare Rücksicht

Wir sind zwar wieder negativ, der Liebste und ich, aber beide noch nicht wirklich wieder hergestellt. Wir husten noch immer und auch die Nasen sind noch nicht frei. Und beide sind wir nach selbst kleinsten Anstrengungen k. o. und brauchen viele Pausen. Offenbar hat die Des-Liebsten-Mama Covid besser weggesteckt als wir zwei – der ImpfungseiDank, sagt sie. Sie hatte wohl eine Art Erkältung, während wir beide je mehrere Tage mit Fieber flachgelegen sind. So gesehen stimmt die viel zitierte und meiner Meinung nach höchst fragwürdige und zudem ableistische Theorie, dass Covid ja ‘nur die Alten und Behinderten’ schlimm treffe, schon mal gar nicht.

Ich konnte die Argumente von Menschen, die Covid-Schutzmaßnahmen ablehnen, von Anfang an nicht nachvollziehen. Und jetzt, nach überlebter Covid-Erkrankung, noch weniger denn je. Das wünsche ich nun wirklich niemandem. Und wir hatten ja verglichen mit anderen noch immer ziemliches Glück und sind auf dem Weg der Besserung.

Der Mensch unterscheidet sich vom Tier unter anderem durch seinen Verstand und durch seine Vernunft und obwohl ich grundsätzlich an Evolution glaube, habe ich doch mit der sozial-darwinistischen Haltung – ‘the survival of the fittest’ (‘etwas Schwund ist immer’, ‘Kollateralschaden’) – schon immer meine Mühe. Wir sind den Menschenrechten verpflichtet, wir sind ethikfähige, vernunftbegabte Wesen, wir dürfen darum solche Haltungen nicht auf uns Menschen anwenden und das Wohl der Schwächsten für die Maßnahmen-Faulheit der großen Mehrheit opfern.

Ich fühle natürlich mit allen Betreuenden und Pflegenden mit, da es für sie besonders mühsam ist, sich bei der Betreuung von Covid-Patient*innen entsprechend zu schützen, aber für alle anderen hält sich mein Mitgefühl dafür, dass sie Rücksicht auf andere nehmen sollen, in Grenzen. Meistens sind es nämlich jene Leute, die das Glück hatten, entweder selbst noch kein oder wenn dann kein schlimmes Covid gehabt zu haben und/oder niemanden zu kennen, der entweder schlimm oder gar tödlich an Covid erkrankt ist, kurz gesagt: Privilegierte! Und genau diese Menschen wollen dann die weniger Privilegierten nicht mit-schützen. Und ja: natürlich hatte sozusagen die Mehrheit Glück. Beim Hochrechnen der eigenen Erfahrungen auf das große Ganze vergessen viele Menschen die nicht privilegierte Minderheit, die nicht so viel Glück hatte.

Mich stört, dass Rücksichtnahme je länger je mehr als etwas der breiten Masse Unzumutbares gehandhabt wird. Die, die keine Rücksicht nehmen wollen, verlangen, dass auf sie und ihr Nicht-Rücksichtnehmen-Wollen Rücksicht genommen wird. Wie paradox ist das denn?

Es lässt sich nämlich, wie wir inzwischen alle wissen (könnten), vorab nicht sagen, wen es wie schlimm trifft. Und bei wem nach Covid noch etwas übrig bleibt, PostCovid, LongCovid. Ich wünsche das niemandem.

Natürlich sind wir alle pandemiemüde und die vielen Menschen, die die Maßnahmen abschaffen wollen, sind mehr und darum lauter, aber rechtfertigt das wirklich, dass darum jene, die Rücksichtnahme bräuchten, einfach ignoriert werden und noch mehr in die Isolation gedrängt werden?

Nicht alles, was gerade weltweit im Argen liegt, hat mit der Pandemie zu tun. Die Pandemie ist meiner Meinung nach ‘nur’ eins der vielen Symptome, an welchem die Menschheit als globaler Körper erkrankt ist, denn letztlich hängt, da bin ich ziemlich sicher, alles zusammen. Der Überbegriff ist ‘soziale Ungerechtigkeit’, daran hängen Klima- und Energiekatastrophe, der Ukrainekrieg, die iranische Menschenrechtsrevolution, wieder aufkommender Faschismus (Regierungen in Italien, Schweden, etc.) und was alles noch im Argen liegt.

Es ist die menschliche Gier nach immer mehr, dieses Ich-zuerst!, immer auf Kosten der Ärmsten (die Menschen und Tiere, die Natur im globalen Süden leiden am meisten an der Klimaekatastrophe, obwohl genau diese am wenigsten dazu beigetragen haben, dass es soweit gekommen ist … das ist bei fast allen Themen so.).

Wir können nicht viel an den großen Stellschrauben machen, aber wir können immerhin im Kleinen versuchen, mitfühlend und solidarisch zu sein.