3. Juli 2019
Endlich bin ich doch wieder eingedöst, als es leise zu tröpfeln beginnt. Man weiß ja nie, was aus so einem Tröpfeln wird, überlegt Irgendlink, kriecht aus dem Zelt und baut das Außenzelt, das ich Stunden vorher wegen der Hitze abgebaut habe, wieder auf. Der Regen ist schnell vorbei und fast ebenso schnell ist es Morgen. Gut schlafen geht anders, doch da wir uns mit Monika um halb sieben Uhr zum Frühstück verabredet haben, stehen wir auf. Auch die Morgenkühle will ja ausgekostet werden
Das wird jetzt schwierig!, sage ich zu Irgendlink, da ich im Alltag ziemlich morgenmufflig bin und am Morgen reden und zuhören so gar nicht mein Ding sind. Dazu setzt sich langsam Kopfschmerz im Hinterkopf fest. Trotz allem ist es dann aber doch gemütlich mit unserer Gastgeberin. Wir tauschen Adressen und verabschieden uns herzlich.
Zurück an der Aare müssen wir erst ein kleines Stück aareaufwärts gehen, bis wir die Brücke entdecken, die uns auf die rechte Aareseite bringt, denn auf der linken endet der Wanderweg vorläufig. Auf einmal fällt mir ein, dass ich mitten in der halb schlaflosen Nacht in meiner Achselhöhle eine Zecke ertastet habe. Irgendlink versucht, das Mistvieh herauszuziehen, doch es will mich nicht ganz loslassen. Nun denn … besser halb als gar nicht.
Auf der anderen Aareseite ist der Weg bis Jaberg, wie uns Monika prophezeit hat, richtig schön und wir fühlen uns wie in eine Zwischenwelt Eingetauchte. Einmal tröpfelt es sogar ein wenig und die Temperatur ist am Vormittag sehr angenehm. Wir sehnen uns, als es gegen Mittag heißer wird, nach einem erfrischenden Bad und überlegen, den Gerzensee, mit dem wir schon die ganze Zeit liebäugeln, in die heutige Tagesetappe einzubauen. Aus dem Gedankenspiel wird schließlich eine konkrete Aktion, denn so weit ist es ja nun auch wieder nicht. Allerdings geht es steil bergan, denn der zu in einem Naturschutzgebiet gehörende See liegt auf einem Hügel.
So wechseln wir nach Jaberg irgendwo wieder die Aareseite und entscheiden uns für jenen Wanderweg, der uns am längsten der Aare entlang gehen lässt. Es ist inzwischen wieder brutal heiß als wir den waldigen Aarewanderweg verlassen und den Hügel aufwärts wandern. An einem Bauernhofbrunnen füllen wir die leergetrunkenen Wasserflaschen. Durch Felder, über Wiesen und fast ohne Schatten gehen wir, bis wir schließlich erschöpft und verschwitzt am Badeplatz des Gerzensees anlangen. Es ist heiß, so heiß. (Und ja, wir wissen, dass der See eigentlich nur für die Einheimischen ist. Wegen Naturschutz und so.) Bedingt nachvollziehbar; doch da wir ja sorgsam sind, nichts liegenlassen und keinen Lärm machen, erlauben wir uns, wann immer wir hier in der Gegend sind, dem See einen Besuch abzustatten.
Das Schwimmen tut einfach sooo gut. Später picknicken wir und erfreuen uns an diesem friedlichen Platz. Einzig ein einzelner Junge, der Kopfsprünge übt, ist da, als wir eintreffen. Später kommen seine Kumpels und die vier Buben spielen sehr friedlich miteinander. Eine später eintreffende, sehr sympathische Frau – keine Einheimische, wie sie uns zuflüstert – lädt uns im Laufe eines angeregten Gesprächs ein, am Abend bei ihr und ihrer Familie zu übernachten. Wie lieb! Wir nehmen ihre Adresse dankbar mit. Wer weiß, vielleicht sind wir ja später froh drum?
Nach einer Weile packen wir unsere Sachen wieder und kehren zurück an die Aare. So jedenfalls der Plan. Auf dem Weg dorthin stellt sich uns allerdings eine Schattenbank in den Weg, eine mit wunderschöner Aussicht auf den Gerzensee. Hm. Ein Nickerchen, das wäre doch was?, sagen wir und legen uns auf die Wiese. Ich bin leider zu aufgekratzt zum Schlafen, doch die Ruhe tut trotzdem gut, das Dösen entspannt ein wenig.
Zurück an der Aare wechseln wir wieder auf die rechte Seite. Der Weg ist mal waldig, mal schattenlos und je näher wir Münsingen kommen, desto mehr Leute sind unterwegs. Mit Fahrrädern oder zu Fuß oder badend. Die Dichte der Bänklein steigt im Gleichschritt mit meiner Müdigkeit.
Also so richtig-richtig. Nicht nur müde wegen zu wenig Schlaf, sondern auch so richtig in den Beinen. Teer gabs heute mehr als auch schon, dazu die Hitze, das Bergaufwandern zum Gerzensee. Dazu das Dauerrauschen der Autobahn.
Müde, so müde … doch da ist kein möglicher Lagerplatz in Sicht. Im Naturschutzgebiet wollen wir eher nicht lagern, außerhalb des Naturschutzgebiets sind überall Siedlungen. Vielleicht dann doch zur See-Bekanntschaft? Aber dann müssten wir ein Stück zurück und durch ein feierabendverkehrlautes Dorf wandern. Hm. Nein. Machen wir nicht. Aber, so schlägt Irgendlinkr vor, er könne ja mit dem Zug nach Thun fahren und unser Auto holen. Finito Wanderung. Weil ich so erschöpft bin.
Ich lasse den Gedanken zu. Aber ich merke, dass es sich nicht richtig anfühlt. Es wäre wie ein Aufgeben. Ein Scheitern.
Wir reden über Aufgebendürfen, über Scheiterndürfen. Wir sitzen auf einer Bank ohne Schatten. Ich habe die Schuhe ausgezogen, bade zum zigsten Mal meine heißen Füße. Spiele mit den Steinen, ziehen einen besonders prächtigen, großen, roten Stein aus dem Wasser. Wie schön er ist! Selbst als er trocken ist, ist er noch rot. Er fühlt sich so angenehm an. So kühl. Schon immer liebte ich Steine und schon immer habe ich Steine gesammelt. Mich von ihnen getröstet und gehalten gefühlt. Dieser hier macht mir irgendwie Mut, weiterzugehen. Ich lege ihn auf einen anderen Stein, einen noch größeren, und wir wandern weiter, denn auf einmal ist da wieder ein bisschen Kraft.
Schließlich erreichen wir die Badi Münsingen, wo ich – wie mir auf einmal wieder einfällt – damals fast ertrunken bin. I’m just kidding. Ich hatte einmal wegen der starken Strömung den Ausstieg* verpasst oder nicht rechtzeitig zu fassen bekommen und musste mich deshalb am Gestrüpp ans Ufer ziehen. Lange her.
Wir gehen über die Brücke und sehen am Brückenpfeiler ein kaputtes, wie zusammengefaltet aussehendes Boot. Eins, das es nicht geschafft hat. Hoffentlich ist bei diesem Unfall niemand ertrunken, sagen wir zueinander. Die Strömung ist durch die hitzebedingt riesigen Schmelzwassermengen sehr stark. So stark, dass ich bisher keine Lust auf einen Aareschwumm habe. Jedenfalls gab es bisher noch keine Stelle, an der ich mich sicher genug gefühlt hätte, unbeschadet wieder herauszukommen.
Auf der anderen Aareseite bin ich oft mit dem Rad lang gefahren. Vieles kommt mir bekannt vor. Wieder so ein Tag voller Erinnerungen. Und wieder spüre ich meine Grenzen. Diese unglaubliche Müdigkeit. Erschöpfung. Ich-mag-nicht-mehr.
Unser aktuelles Wegstück hat verschiedene Parallelwege, Rad- und Wanderwege, Bänklein, ein dichter Wald zur Linken … Und Mücken. Soo viele Mücken wie bisher noch nie. Innert kürzester Zeit habe ich mindestens zehn neue Mückenstiche. Schnell sprühen wir uns mit Mückenschutz ein.
Bei einem Holzlagerplatz überlegen wir, ob wir überhaupt noch im Naturschutzgebiet sind und ob es hier nicht vielleicht irgendwo doch ein Plätzchen für uns gäbe. Tut es. Ein kleiner Sackgasse-Weg ist wie geschaffen für uns. Es ist vielleicht nicht der schönste aller Lagerplätze, aber es ist hier sehr ruhig. Nur Kuhgebimmel und leises Autobahnrauschen. So bauen wir, vom Hauptweg unsichtbar, unser Zelt auf. Der Boden ist hart. Irgendlink zaubert einen Stein aus seinem Rucksack.
»Wie jetzt? Du hast meinen roten Stein mitgenommen? Boah, der ist doch so schwer! Daanke!« Wieder einmal fehlen mir die Worte.
Als das Zelt steht, holen wir mit dem Wassersack Wasser aus der Aare und kochen uns müde unser Abendessen. Pilzrisotto und Tomatensalat.
Beim Feierabendbier stelle ich fest, wie stolz ich bin, meinen Erschöpfungstiefpunkt überwunden zu haben. Aber das war vermutlich nur möglich, weil ich die Möglichkeit des Aufgebens hatte in Betracht ziehen und mir zu scheitern hatte erlauben können.
Heute schlafe ich tief und fest.
Bilder von Tag 11
4. + 5. Juli 2019
Wir erwachen wie gewohnt früh und freuen uns, dass die Mücken offenbar weniger morgenaktiv sind als wir. Nach einem kleinen Frühstück wandern wir weiter Richtung Bern. Die Rucksäcke waren auch mal schwerer, sagen wir. Wie jeden Morgen. Überhaupt: Wie wir uns jeden Morgen neu das Gewicht des Rucksacks leichtreden. Gewichtleichtrederei muss die Schönfärberei unter Wandernden sein.
Es ist unklar, wie und wo wir die nächsten Tage verbringen. Sollen wir unsere Wanderung in Bern beenden oder aber durch Bern hindurch weiter der Aare entlang wandern? Es ist erst Donnerstag und wir haben theoretisch bis Samstag Zeit.
Ich stelle fest, dass ich – bei aller Liebe zu Bern – keine Lust auf Stadt habe. Nicht mit dem schweren Rucksack jedenfalls. Aare plus Bern bedeutet nämlich viele Menschen, viele Badestellen, viel Gewusel. Von Berns südlichen Ausläufern bis zum nächsten Campingplatz am Wohlensee wären es bestimmt zwei Tagesetappen, überlegen wir.
Erst nach und nach kristallisiert sich heraus, dass es da diesen einen Punkt in Bern gibt, an dem wir unsere Fernwanderung elegant abrunden könnten. Im Eichholz, diesem Ort, an dem wir uns vor fast genau zehn Jahren das erste Mal im echten Leben begegnet sind. Perfekt als Finale dieser Wanderung.
»Eichholz, Eichholz, schpick mi furt vo hie!«, dichten wir einen der berühmtesten Songs von Patent Ochsner um, als wir an Bälpmoos (Flugplatz Belpmoos, Ausgangsort besagten Songs) vorbei wandern.
Wieder machen wir viele Pausen. Hundegassigänger*innen und Wandergruppen kreuzen unseren Weg und seit wir entschieden haben, die Tour im Eichholz zu beenden, fühlt sich alles wieder richtig, gut und leicht an. Die Stadt macht mir keine Angst mehr. Fast beiläufig klärt sich auch die Frage nach der Rückkehr nach Hause, denn mein Bruder lädt uns für den Abend auf einen Campingplatz am Neuenburgersee ein, wo er heute Nachmittag seinen kleinen Segelkatamaran ausladen wird. Die Freunde, die unser Auto hüten, schreiben, wo sie den Schlüssel deponieren, da sie unterwegs sind, und so geht auf einmal alles auf.
Bald erreichen wir das Ende das Waldes. Vor uns ein Wanderweg unter freiem Himmel, ohne Schatten, nur da und dort ein Baum. Wir rasten am Wegrand. Ein Passant sagt, dass es nur etwa ein Kilometer so weiter gehe. Oke, einen Kilometer, das schaffen wir, sprechen wir uns Mut zu. Doch der Kilometer ist etwa drei Kilometer lang und der Weg – ohne Zweifel ein schöner – führt durch ein weiteres sehr schönes Naturschutzgebiet namens Dammknick. Ein Knick führt uns dann auch in einem Bogen ein Stück weg von der Aare, durch eine künstlich angelegte Auenlandschaft. Leider sind die Bäume darin noch zu klein zum Schattenspenden. Wir kriechen buchstäblich durch die Hitze und genießen jeden noch so kleinen Schattenpunkt.
Später, auf einer schattigen Bank kurz vor Bern-Eichholz, picknicken wir unsere letzten Vorräte und schauen den hier zahlreichen Aareschwimmenden zu. Wir fantasieren, wie sie in ihren wasserdichten Schwimm-Taschen ihre Buisnessklamotten mitnehmen und per Aareschwumm zum nächsten Geschäftstermin am anderen Stadtende gelangen. Oder wie sie in der Aare Geschäfte abschließen. Oder wie Liebesgeschichten beim Schwimmen ihren Anfang nehmen. Die Aare als Verbindung von Mensch zu Mensch sozusagen.
Und dann sind wir da. Im Eichholz. Viele Menschen auf Wiesen. Frisbees. Gummiboote. Kinderlachen. Sonnenmilch in der Luft. Unter schattigen Bäumen unmittelbar an der Aare, einen Steinwurf vom Campingplatz entfernt, ziehen wir unsere schweren Rucksäcke aus.
Unser Plan ist einfach: Irgendlink fährt mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Thun-Steffisburg und holt das Auto. Sodann holt er mich, die ich derweil das Gepäck hüte, hier ab, und gemeinsam fahren wir zu meinem Bruder an den Neuenburgersee.
Ich kaufe Irgendlinks Ticket online, da das günstiger ist, als wenn er Tram, Zug und Bus einzeln lösen müsste. Doch auch so ist es immer wieder erstaunlich, wie viel so eine kleine Zugfahrt kostet. Dank guter Verbindungen hat Irgenlink nur eine knappe Stunde bis zum Auto und etwas mehr als eine halbe Stunde bis zurück ins Eichholz. Was wir ins zweieinhalb Tagen gewandert sind, lässt sich in vierzig Autominuten fahren. Keine Pointe.
»Als wir hier vor zehn Jahren unser kleines Bloggerkennenlerntreffen hatten – Irgendlink war auf Schweiz-Radtour – legten wir unwissentlich den Grundstein für all die tollen Wanderungen und Reisen der letzten Jahre.
Der beste Weggefährte ever, « twittere ich, als Irgendlink sich auf den Weg gemacht hat.
Und: »Krähen spazieren vorbei, der Bagger schweigt und der Schatten wandert statt meiner.
Aareschwimmende juchzen vorbei.
Im Kopf ein Song von Züri West und A hard day‘s night (vo Aafang aa).«
Zwei junge Frauen bitten mich, ihre Sachen zu hüten, während sie ein Stück aareaufwärts spazieren und zurückschwimmen wollen. Aber klar, mach ich doch gerne. Überhaupt ist es ziemlich angenehm hier, obwohl es viele Leute hat. Ein rücksichtsvolles Miteinander. Sogar der Baustellenlärm vis-à-vis beim Dählhölzi-Tierpark ist moderat. Lärm und Pausen wechseln sich ab.
Bald ist Irgendlink wieder da und wir wandern zum Parkplatz, den er in einer kleinen Quartierstraße in der Nähe gefunden hat. Merkwürdig, auf einmal wieder in einem Auto zu fahren. Durch die Stadt zuerst, aus der Stadt hinaus, auf die Autobahn, dann über Landstraßen.
Schön ist es mit meinem Bruder. Fürs Segeln reicht der Wind zwar nicht, doch Seebaden, eine kleine eBiketour zum Strandkneipchen, leckeres Essen und die Annehmlichkeiten eines Campingplatzes runden unseren letzten Wandertag ab.
Wären da nicht die lauten Nachbarn, die bis in die Nacht hinein plappern und lachen, könnte ich mich direkt daran gewöhnen, auf Campingplätzen zu zelten. Andererseits ist es deutlich unruhiger als im Wald, ich schlafe weniger gut als in der Natur und erwache mit sehr starkem Kopfweh und Übelkeit. Darum gönne ich mir am Freitagmorgen die erste Warmdusche seit zwölf Tagen. Sie tut gut. Kopfweh und Übelkeit sind danach fast weg.
Wir dürfen nochmals die Leih-eBikes benutzen, um die nähere Umgebung zu erkunden. Mit Freier-Eintritt-Karten für die kulturelle Aktionen in der ganzen Region, die wir an der Campingkasse bekommen haben, gönnen wir uns zwei Museumsbesuche in Le Locle. Zum einen gehen wir in die Unterirdischen Mühlen, zum anderen ins Kunstmuseum. Ein gelungener Ferienabschluss!
Auf der Rückfahrt nach Hause realisere ich, dass für mich immer wieder diese Wechsel, diese Übergänge – dieses Auflösen des einen Aggregatzustandes zugunsten eines anderen – sehr schwierig sind. Dieses kleine ständige Loslassen des eben noch Seienden. Es bereits als Gewesenes betrachten. Als Echo. Wie ein Pflaster, das entfernt wird. Übergangsschmerz.
Bilder von Tag 12 (und ++)
Lest gerne auch Irgendlink über Tag 11 und über Tag 12 unserer Wanderung (Texte folgen)
Kartenlink Tag 11
+
Kartenlink Tag 12
Zur Karte der letzten drei Tage:
[googlemaps https://www.google.com/maps/d/embed?mid=1rE8pHFFgtQRkSOewN_JNsOp3T9aG7zY2&w=640&h=480]
*An den klassischen Badestrecken gibt es für Aareschwimmer*innen alle zehn, zwanzig Meter Bügel, Haken oder Stufen, um sich an Land ziehen zu können