Warum wir planen sollten | Orientierung #ADHS

Diese Woche hatte ich meine dritte Coaching-Sitzung zum besseren Umgang mit ADHS. Zu Beginn der Sitzung erzähle ich meiner Ärztin – nennen wir sie doch einfach Frau Dr. ADHS –, wie es mir die letzten drei Wochen mit dem Planen meiner Wochen-Lebenszeit ergangen ist, wo ich Probleme hatte, was gelungen und was mir aufgefallen ist.

Ich gestehe ihr, dass ich den Plan selten einhalten konnte. Meistens habe ich »gemogelt« und meine nicht geschafften Post-it-To-dos abends auf die restlichen Wochentage umverteilt. Manchmal lag es an der zu kurz bemessenen Zeit, manchmal an fehlender Lust und meistens daran, dass neue Aufgaben dazu gekommen sind, die dringender waren. Definitiv gut für mich ist, dass mich mein Wochenplan ruhiger macht. Die Dinge bekommen, dadurch dass sie benannt und als Aufgaben definiert sind, in meinen Augen mehr Wert und eine Art Daseinsberechtigung, insbesondere jene Dinge, die vorher immer unter dem Radar gelaufen sind, all jene Dinge, die ich bisher zwischendrin erledigt habe. Problemlösungen technischer Art zum Beispiel, wie ich sie in der vorletzte Woche gehäuft zu erledigen hatte.

Ich erzähle davon, wie ich inzwischen immer besser Aufgaben, die sich mir spontan in den Weg stellen, entschieden und bewusst auf später verschiebe, weil ich an etwas dran bin. Ich merke sie mir aber als Zu-Erledigendes, indem ich mir sie ein paar Mal vorsage. (Z. B.: »Diese Ecke räume ich nachher auf!«) Auch gelingt mir das Feierabendmachen irgendwie besser, seit ich den Wochenplan habe.

Meine Ärztin hört aufmerksam zu. Sie betont, dass wir diese Pläne nicht machen, um sie voll und ganz einzuhalten – was selbst bei bester Planung gerade mal zu 60 % gelinge, wie Erfahrungen zeigen. Wir erstellen solche Pläne zu unserer Orientierung. Wir machen sie, damit wir wissen, sehen, uns bewusst machen können, wann was zu tun ist. Um uns einen Überblick über das System Zeit, in der wir leben, zu verschaffen. Weitere Ziele sind, ein Gespür für Dauer, Energieaufwand und beste Tageszeit für die jeweiligen Aufgaben zu bekommen.

Dr. ADHS erinnert mich daran, dass es nicht nur um die Planung von Arbeit geht, sondern darum, unser Leben zu planen, Ziele zu haben, es nicht dem Zufall und den Umständen, spontanen Ideen und den Gewohnheiten zu überlassen. Es geht darum, realistisch planen zu lernen, also so, dass ich die Dinge, die ich tun will und soll (Arbeit und Freizeit), so plane, dass sie zeitlich aufgehen und dass ich sie erledigt bekomme, WENN nichts dazwischen kommt. Angefangen mit Fixterminen und Fristen, die eingeplant werden müssen. Anschließend werden die Tage mit den flexiblen Dingen, Aufgaben, Haushaltdingen, Freizeitdingen »aufgefüllt«.

Wir brauchen ja nicht noch ein neues Korsett mehr, sondern Werkzeuge, um unseren Alltag einfacher zu machen. Ich spreche Selbstdisziplin an, die mir, so sage ich, deutlich leichter fällt, seit ich das Medikament nehme. Sie findet den Begriff schwierig, negativ behaftet, spricht lieber von Zuverlässigkeit, von Verlässlichkeit. Stimmt, so kann ich es tatsächlich auch sehen; ich kann mich wirklich inzwischen besser auf mich verlassen, seit ich das Medikament nehme. Das Hirn hat genug Dopamin.

Ich lerne laufend dazu, gehe neue Wege, etabliere und trainiere neue Verhaltensmuster, nach und nach entstehen so neue neuronale Verbindungen im Hirn. Diese greifen allmählich auch dann, wenn ich das Medikament nicht nehme oder am Abend, wenn das Medikament eh nicht mehr wirkt.

ADHS-Betroffene, so sagt Frau ADHS, neigen dazu, ihr »Versagen« zu betonen, sich selbst zu blamen, einfach, weil wir sind, wie wir sind, anders eben als ein großer Teil der Bevölkerung. Das sei, sagt sie, pure Energieverschwendung. Wir sollten uns besser auf die Schulter klopfen für alles, was wir trotz erschwerter Lebensbedingungenschon geschafft haben. Ja, und uns auch gegenseitig ermutigen, sagt sie, als ich das Thema Peer groups anschneide. Frau ADHS findet es sehr gut, sich auszutauschen und voneinander zu lernen, sich auch virtuell zu vernetzen.

Jetzt sprechen wir über meine Ungeduld, denn am liebsten würde ich ja fast forward drücken und alles, was da noch zu lernen ist, schon gelernt haben. Frau ADHS schaut in ihren Laptop und rechnet mir vor, wie lange ich nun schon bei ihr bin (noch kein Jahr) und wie lange ich schon die Medikamente nehme (erst knapp ein halbes Jahr). Na also, das ist doch noch nicht lange und ich hätte, so sagt sie, bereits so viel gelernt. Wir sprechen über den Druck, den Therapieerfolgserwartungen bei uns auslösen. Letztlich sind und bleiben wir doch immer uns selbst, das sollten wir nicht vergessen. Wir können nicht jegliche Fortschritte auf Dritte oder Medikamente delegieren. Es ist immer noch unser Leben und wir die Akteur*innen. Erwartungen lösen unnötigen Stress aus, führen zu Ungeduld. Gesünder wäre es, uns für die einzelnen Schritte Respekt zu zollen, uns mit Geduld zu begegnen. Und wenn uns jemand erzählt »So geht es mir auch!«, wenn wir von unseren Symptomen erzählen, können wir getrost sagen: »Du hast das ab und zu, aber ich habe es immer.«

Als wir über Erwartungshaltung sprechen, sage ich, dass ich immer mal wieder gefragt werde, wie es denn mit der Abhängigkeit bei ADHS-Medikamenten sei. Dabei geraten wir in ein kleines philosophisches Gespräch. Süchtig nach Methylphenidat können wir, sagt sie, nur werden, wenn wir es überdosieren. Wenn wir nicht beim gewünschten und eigentlichen Dopamin-Effekt bleiben, sondern die für uns Betroffene unerwünschten Nebenwirkungen durch zu viel Dopamin – wie Dauerwachsein, Aufgedrehtsein, Appetitlosigkeit, Hyperhochfokussiertsein – erleben. Bei Überdosierung komme nämlich weniger der eigentliche, gewünschte Dopamineffekt, sondern die Substanz an sich, die wachhält, zum Tragen. Wer ständig überdosiert sei und dann das Mittel pausiere, könne durchaus Entzugserscheinungen haben, die allerdings eher einer Art Rebound* geschuldet seien. Wenn wir uns, sobald wir das Mittel pausieren, depressiver fühlen, sei das nicht ein eigentliches Entzugssymptom. Wir bleiben auch mit der Medizin die Menschen, die wir sind mit all unseren Eigenschaften. Falsche, überhöhte Erwartungen an das Mittel oder die Therapie an sich seien, wie schon gesagt, Stressoren, die uns sehr unter Druck setzen können.


*In der Pharmakologie bezeichnet das Rebound-Phänomen eine überschießende Gegenreaktion des Organismus bei abruptem Absetzen eines Medikaments. Quelle
Als Rebound-Effekt oder Absetz-Effekt (von engl. rebound ‚Rückprall‘) wird das verstärkte Wiederauftreten von Symptomen infolge des Nachlassen der Medikamentenwirkung (vornehmlich Stimulanzien) bezeichnet. Bis zu einem Drittel der mit Stimulanzien behandelten ADHS-Patienten erleben beeinträchtigende Rebound-Effekte. Quelle

Wie wir Ziele erreichen können | Pläne machen #ADHS

Letzte Woche, in meiner zweiten Coaching-Sitzung, sprachen wir über die kurz- und mittelfristige Planung meiner Lebenszeit. Dieses Coaching soll mir dabei helfen, mit ADHS – dank Verhaltensanpassung und Medikamenten – stressfreier und gelassener zu leben.

Zuerst reden wir kurz über meine Selbstbeobachtungen mit der Selbststeuerung – dem Thema und der Aufgabe aus der letzten Sitzung – und ich sage, dass ich für mich einen anderen ersten Fragesatz gefunden habe. (Statt wie geht es mir JETZT? lautet meine erste Frage: Welches Gefühl ist JETZT am stärksten? Das passt bei mir besser.)

Ich erzähle auch von meiner Erkenntnis, dass ich letztlich tatsächlich mehrheitlich impulsiv oder aber rituell handle. Wenn alles in meinem Alltag den vertrauten Abläufen folgt, ist es gut für mich. Da aber, wo es keine solchen gibt, entscheide und handle ich spontan, impulsiv eben, ohne mir groß Gedanken über Folgen, Zeitaufwand und Zusammenhänge zu machen. Rückblickend frage ich mich, ob ich es anders hätte hinbekommen sollen oder können, na ja, besser halt irgendwie.

Meine Ärztin meint dazu, dass ich mein Verhalten nicht rückblickend bewerten und beurteilen solle. Es sei allerdings durchaus sinnvoll, aus der aktuellen Perspektive zu schauen, ob der vertraute Ablauf und/oder das Ritual jetzt noch gültig und sinnvoll seien oder ob es eine Anpassung brauche. Doch Rituale seien gerade für ADHS-Betroffene sehr sinnvoll, da sie uns Strukturen geben. Wir haben sie uns ja genau darum einst ausgedacht. (Ich nenne übrigens ritualisierte Abläufe, insbesonder wenn es Arbeitsdinge betrifft, auch gern Arbeitsoptimierungen, denn ich suche bei Arbeiten, die sich wiederholen, immer auch nach Wegen, die Arbeit mit möglichst wenig Kraft- und Energieaufwand und wenig Anstrengung erledigen zu können.)

Schließlich sprechen wir über Planung. Ich erzähle, wo meine Schwierigkeiten liegen, mich an exakte Zeitpläne zu halten. Hirnbedingt handle ich, wie gesagt, situativ und spontan, was dem Plänemachen grundsätzlich zuwider läuft. Also reden wir über hilfreiche Techniken.

Eine Wochenplanung sei das Sinnvollste, sagt meine Therapeutin aus langjähriger Erfahrung. Dabei wichtig: Keine Puffer einplanen. Pausen ja, Puffer nein, denn bei Puffern fallen ADHS-Menschen aus der besten Planung raus. Ebenso seien stundengenaue, zeitlich definierte Planungen nicht zielführend, denn sie bewirken das Gegenteil von dem, was wir anstreben, sie machen Stress statt Gelassenheit. Es gehe beim Planen immer darum, mehr Ruhe reinzubringen und das gute Gefühle zu erleben, dass wir das erreichen können, das wir wollen.

Ich solle mir alle Aufgaben und Will-ich-tun-Dinge der nächsten Woche aufschreiben und auf die Wochentage realistisch verteilen. Und daraufhin wirklich versuchen, sie einzuhalten. Es geht, das mache ich mir immer wieder bewusst, nicht primär um den Leistungsgedanken, sondern entspannter zu tun, was getan werden soll und will.

Idealerweise geht der Plan, ohne Störungen von außen, auf. Ist das der Fall, habe ich gut geplant. Störungen durch Unvorhergesehenes kommen aber natürlich immer vor. Werden wir gestört, können wir entscheiden, wie wir mit dem Störfall umgehen. Ein längerer Anruf oder zum Beispiel ein technisches Problem, das sofort gelöst werden muss, können wichtiger sei als die ungewaschene Wäsche, die auf dem Wochenplan steht etc.. Solche Entscheidungen müssen wir situativ treffen.

Als ersten Schritt soll ich mir von Woche zu Woche einen Plan machen und schauen, wie es mir damit geht.

»Ich könnte einen physischen Wochenplan machen«, sage ich, »und mit Post-it die Aufgaben draufpappen, so dass ich sie verschieben kann.«

»Genau das!«, sagt meine Ärztin, »so habe ich es gemeint.« Es sollen alle Sachen drauf. Einkaufen. Duschen. Solche Dinge. Am Abend solle ich gucken, ob es geklappt hat.

Das ist jetzt der Adlerblick, über welchen wir in der letzten (der ersten) Coaching-Sitzung gesprochen haben. In einem späteren Schritt werden wir uns anschauen, wie es mit den einzelnen Aufgaben aussieht. Dabei werden wir wieder mehr ins Detail gehen.

Ich erwähne, dass ich mir für unser Coaching auch das Ding mit der »neuen Vergesslichkeit« anschauen möchte. Sie hört zu und meint, dass das Problem vermutlich aufgetaucht sei, weil ich eben nicht mehr immer alles gleich wie früher erledige, wenn es sich mir in den Weg stellt, sondern im Kopf auf später vertage. (Was ja an sich ein Fortschritt ist, da ich besser filtern kann und nicht mehr alles prioritär erkläre). Nun besteht jedoch die Gefahr, dass ich Dinge vergesse, weil ich mich ja nun auf das konzentriere, was ich jetzt mache. Damit verschwindet das andere Zu-Tun aus meinem Fokus. Für Nicht-ADHS-Menschen ist es vermutlich normal, die Dinge nicht sofort zu tun und sie sich für später zu merken, für mich ist das neu. Ich muss also jetzt eine Strategie entwickeln, wie ich mir Dinge, die ich nicht jetzt machen will und kann, merken kann. »Das üben wir später!«, verspricht mir mein kluges Gegenüber.

Eine Strategie, die ich mir selbst ausgedacht habe, geht so, dass ich mir das zu erledigende Ding ein paar Mal aufsage und mir gleichsam inwendig eine Art Post-it aufklebe und dazu den kleinen Zauberspruch denke: »Wenn es wichtig ist, wird es mir später wieder einfallen«. Das funktioniert tatsächlich manchmal. Vielleicht sogar immer öfter.

Auch der Wochenplan hilft tatsächlich, dachte ich gestern Abend, als ich die zwei vollbrachten Tage betrachtete. Ich hatte zwar noch zu viele Will-und-sollte-ich-tun-Dinge auf dem Plan, doch die Tatsache, dass die Dinge da stehen und ihren Platz haben, ließ mich gestern und vorgestern tatsächlich konzentrierter und entspannter arbeiten. Ich switchte weniger hin und her und es gelang mir, das, was ich wirklich machen wollte, auch wirklich zu tun.

Leute, die von Natur aus genug Dopamin im Hirn haben, können sich vermutlich gar nicht vorstellen, wie schwierig es für uns ADHSys ist, nur schon direkt von A nach B zu gehen. Denn zwischen A und B gibt es ja sooo viele spannende Dinge, die gesehen und ausprobiert werden wollen.

 

Wie wir Entscheidungen treffen | Selbststeuerung #ADHS

So langsam wird der neue Therapieort zur Routine. Ich habe nicht mehr jedes Mal Angst davor, keinen Parkplatz zu finden, einer von dreien war bisher immer frei.

Mein ADHS-Medikament passt inzwischen. Ich habe die für mich richtige Dosis gefunden. Dennoch bin ich herausgefordert, mit dem Mehr an Dopamin, das meinem Hirn den erhofften Reizfilter ermöglicht, meinen Alltag neu zu gestalten. Diese andere neue Wahrnehmung meiner Umwelt hat weitreichende Auswirkungen. Ich bin zum Beispiel zwar weniger verzettelt, habe dadurch aber auch nicht mehr überall und  gleichzeitig alle Fäden in der Hand. Ich bekomme nicht mehr alles mit, weil ich viele Nebenschauplätze, nicht mehr wahrnehme. So verpasse ich manches und wirke vergesslich.

Doch die Vorteile genieße ich sehr. Beispielsweise habe ich viel mehr freien Arbeitsspeicher im Hirn, da dieser nicht mehr von unwichtigen Dingen vollgestellt ist. Weil ich tagsüber weniger müde bin und mich ausruhen muss, schlafe ich besser, weil ich abends müder bin. Ich fühle mich überhaupt irgendwie entknitterter und kann besser zu mir und meinem Raumbedarf stehen. Ich erlaube mir, so zu sein, wie ich bin un mache mich nicht mehr so klein wie davor, passe mich nicht mehr ständig an, nur weil ich die Welt anders wahrnehme als die Mehrheit.

Außerdem habe ich wirklich Glück mit meiner Ärztin. Sie hat mir nicht nur mit dem Finden der optimalen Medikation geholfen, sondern sie coacht und lotst mich nun auch durch die neuen Gewässer.

»Alles ist eine Frage der Steuerung, der Selbststeuerung«, sagt sie und fragt, ob sie wieder eine Grafik anfertigen solle. Ich bitte darum, habe mir sogar schon selbst den Block auf die Schreibunterlage gelegt, weil ich mir diesmal wirklich Notizen machen will. Jetzt fängt nämlich endlich das thematische Coaching so richtig an. Sie sagt, dass ich gern mitschreiben könne. Da platze ich mit der Frage heraus, ob es eigentlich auch ADHS sei, wenn eine immer etwas mit den Händen machen müssen, schreiben, kritzeln, etwas kneten … Ich kenne die Antwort eigentlich, dennoch will ich es gern auch von ihr hören. Hören will ich es vor allem, weil es noch immer da ist, obwohl ich doch das Medikament nehme. Ja, immer noch muss ich fast ständig an etwas »herumfingern«.

»Ja, das ist es«, sagt sie, »und das bleibt meist auch trotz des Medikaments so. Und es ist gut, wichtig und richtig, den Körper irgendwie zu beschäftigen, denn es hilft uns, den mentalen Fokus zu behalten. Es ist ein Werkzeug der Übersteuerung, womit Sie dem Denken etwas Physisches entgegensetzen können. Ich empfehle auch gern, wenn es andere stören sollte oder Sie selbst befürchten, andere zu stören, einfach mit den Füßen Bewegungen in den Schuhen zu machen.«

»Ich habe«, sage ich, »tatsächlich schon erlebt, dass es andere gestört hat, wenn ich – zum Beispiel in einer Sitzung – beim Zuhören vor mich hin kritzelte.« Wir schweifen ab zu Anpassung an sogenanntes Normverhalten und ich gestehe, dass ich jetzt, wo ich endlich weiß, dass ich ein ADHS-Hirn habe, mich nicht mehr immer so zusammenreiße wie vor der Diagnose. Dass ich mir erlaube, eben auch mal herumzappelnde Finger haben zu dürfen. Dass ich eben nicht mehr nur mit den versteckten Zehen in Bewegung bin, sondern die Hände nicht mehr immer verstecke, wenn ich sie biege, dehne und strecke oder mit etwas herumspiele …

Meine Ärtzin vertritt die Ansicht, dass die sich auftuenden Gräben zwischen neurotypisch und neurodivers niemandem helfen. Sie findet, dass ADHS-Betroffene mithilfe ihrer Medikamente sich bestmöglich anpassen sollten, damit das soziale Miteinander für alle einfacher sei. Überhaupt: letztlich seien ja alle Hirne anders, unterschiedlich, neurodivers, oder – noch besser, noch passender – neuroplastisch.

»So viel Anpassung finde ich nicht unbedingt soo gut«, sage ich, »ich finde sogar, dass es wichtig ist, dass wir alle lernen, nicht nur die Norm (ich denke an die Gaußsche Normalverteilung) sondern die ganze Palette von Verschiedenheiten als zum Leben zugehörig zu verstehen.« Und ich füge hinzu, dass ich es inzwischen toll finde, jeden Morgen die Wahl zu haben, ob ich heute lieber mit genug Dopamin oder lieber mit knapp oder wenig Dopamin leben will. »Ich habe die Wahl und ich habe mich mit meinem ADHS inzwischen ziemlich ausgesöhnt«, sage ich. Ich habe inzwischen verstanden, was genau mich warum vor der Diagnose so angestrengt und erschöpft hat. Warum ich so schlecht priorisieren konnte und warum ich mir immer so viel Druck gemacht habe. Auch diese ganze Anpassung und Maskierung … puh. Mit dem Erkennen der Zusammenhänge ist viel Druck von mir abgefallen.

Schließlich fängt meine Ärztin mit der Beschriftung eines neuen Papieres an. Steuerung ist das Thema, kurz für Selbststeuerung. Sie schreibt und erklärt mir, was wie zusammenhängt. Das Blatt Papier ist eine willkommene visuelle Lernhilfe.

Bis anhin hat ES (= der Dopaminmangel) mich gesteuert, via Impuls. Ich habe meine Entscheidungen impulsiv getroffen. Aus dem Moment heraus.

Mit der Diagnose und der Medikation wechsle ich aber nicht bloß vom einen ES (Mangel) zum nächsten ES (genug Dopamin), sondern ich bin auch in der Lage, zu entscheiden, was ich jetzt warum tun will.

Sie zeichnet die zwei uns beeinflussenden Ebenen auf das Blatt. Oben das Situative, der gegenwärtige Alltag, unten die mittel- und langfristige Planung, bestehend aus den gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen wie Stunden, Wochentage, Monate. Beides bedingt und beeinflusst sich gegenseitig.

Zuerst schauen wir uns das Situative an, da es quasi das erste und das beste Übungsfeld für das zukünftig zu lernende Planen ist. Habe ich ein Ziel (Bikinifigur), esse ich womöglich jetzt anders, als wenn ich dieses Ziel nicht habe. Nur so als Beispiel zur Veranschaulichung der Zusammenhänge. Dank genug Dopamin mich selbststeuern könnend, bin ich in der Lage, dem Impuls (jetzt ein Eis zu essen) anders zu begegnen: selbst entscheidend.

Hier kommt das 4-Schritte-Modell – das Situative Bewusstseinsmodell – ins Spiel, das ich jetzt üben soll. Immer mal innehalten soll ich, und mir folgende Fragen überlegen.

1.) Wie geht es mir jetzt? (Gefühl, alles berücksichtigen, was jetzt hineinspielt: Hormone, Dopamin ebenso wie Konflikte, Schlaf, soziales Umfeld)
2.) Was ist jetzt sinnvoll? (Vernunft, Verstand)
3.) Entscheiden
4.) Verhalten

Ich kann und soll jeweils aufgrund der Antworten, die ich mir auf Frage 1 und 2 gebe, entscheiden, was ich jetzt tun will und mich dann entsprechend verhalten. Und diese Entscheidung ist dann auch immer jetzt die richtige. Ich soll mir die Bewusstheit wie einen Schieberegler vorstellen, den ich zwischen Gefühl und Verstand hin und her bewege, nämlich genau da hin, wo ich hin will. Der Schieber steht metaphorisch dafür, dass ich nun in der Lage bin, meine Entscheidung unabhängig vom Dopaminmangel zu treffen, nicht mehr jedem Impuls ausgeliefert seiend.

Ich stehe weniger denn je neben mir, erkenne ich dieser Tage immer wieder. Unter anderem merke ich es daran, wie ich rede; dass ich weniger Zeit brauche, um reagieren zu können. Es sind nicht mehr so viele Tabs in meinem Hirn offen, so dass ich weniger ablenkbar bin.

Für die Übung der Selbststeuerung will ich mir einen Schieberegler aus Karton basteln, etwa handtellergroß, mit den zwei Fragen drauf. Zur Erinnerung und als Fingerspielzeug zugleich.

Ich bin echt gespannt auf die nächsten Themen der Lerneinheiten meines Coachings.