Was alles nicht sein kann

Was alles nicht ist, aber sein könnte, wenn.
Unendlich viele ungelebte unlebbare Parallelleben.

Was wäre aus dem jungen Mann, der später mein Vater wurde, geworden, wenn er nicht die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges, mit 18 oder 19, zur Rekrutenschule eingezogen worden wäre, um die Schweizer Grenze im Tessin zu bewachen?

Was wäre aus der jungen Frau, die später meine Mutter wurde, geworden, wenn sie nicht jene einschneidenden, übergriffigen Erfahrungen gemacht hätte, über die sie nie gesprochen hat und die ich darum nicht wirklich ermessen kan?

Was wäre aus der jungen Frau, die ich einst war, geworden, wenn sie nicht jenem einen Menschen begegnet wäre, dessen traumatisierende Handlungen ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt haben – und zwar so nachhaltig, dass sie noch immer daran leidet?

Was wäre aus dem jungen Menschen geworden, wenn er nicht diesen schlimmen Infekt bekommen hätte, der zu einer schweren chronischen Erkrankung wurde, die ihn nun schon seit vielen Jahren ausbremst?

Was wäre aus der jungen Frau geworden, wenn bei ihrer Geburt die richtigen Maßnahmen hätten ergriffen werden können? Ob sie heute gehen könnte und wie dann ihr Leben aussähe?

Was wäre aus dieser jungen Mutter geworden, die nun mit ihren zwei Kindern in einem kleinen deutschen Dorf sitzt, fernab von ihrem Mann, dem Vater ihrer Kinder, der sein Land vor russischen Soldaten verteidigt?

Was wäre aus diesem junge Mann geworden, der mit einer Waffe ausgestattet gegen seine tiefe pazifistische Überzeugung in einen Krieg geschickt wurde, den er nicht will?

Und vergessen wir die Tiere und Pflanzen nicht, denn was wären wir ohne sie!
Was wäre aus all diesen Hühnern, Schweinen, Kälbern geworden, wenn Menschen sie nicht in Schlachthäuser gebracht hätten, um ihren Fleischhunger zu stillen?

Was wäre aus all diesen Bäumen geworden, wenn Menschen sie nicht gefällt hätten, um an ihrer Stelle Häuser, Straßen oder Monokulturen anzubauen?

Gestohlene, verlorene Leben nenne ich das für mich.

Wir alle, jedenfalls fast alle, haben gestohlene, verlorene, nicht wahrgenommene Möglichkeiten. Kleinere und größere. Und je nachdem, wann diese Ereignisse eintreten und mit welcher Wucht, kann das unsern ganzen Lebensentwurf grundlegend verändern.

Letztlich ist es Zufall, ob wir ein Leben in Würde führen können.
Es ist Zufall, wo wir geboren werden, mit welcher Hautfarbe, mit welcher gesundheitlichen Konstitution, mit welcher mentalen Ausstattung, mit welcher sexuellen Präferenz, mit welchen Talenten.
Es ist Zufall, ob wir dort, wo wir geboren wurden, entsprechend unserer Identität leben können.

Manche von uns schaffen es trotz schlimmster Voraussetzungen ein gutes, ein zufriedenes Leben zu leben.
Manchen fehlen dazu die Kraft und die Fähigkeit.
Anderen das Vertrauen.
Vielen die Perspektive
Fast allen die Liebe.

Was wohl aus all diesen Kindern wird, die heute irgendwo auf dieser Erde unterwegs auf der Flucht sind – vor einem Krieg oder weil ihr Land verdorrt ist, überschwemmt, unbewohnbar geworden?

Was wäre, wenn?
Wäre das andere, das ungelebte, das unlebbare Leben ein besseres?

Leben im Konjunktiv.
Anders geht nicht.
Leben in der Vorläufigkeit.
Weil Leben nie zuverlässig, nie vorhersehbar ist.

Der Traum vom Ideal.
Die Sehnsucht nach Freiheit.
Der Wunsch nach Zufriedenheit und HappyEnd.

Nichts davon haben wir auf sicher.