Der Tod macht uns Angst. Wir gucken weg. Dabei ist es gar nicht der Tod an sich, der böse ist und der uns Angst macht, sondern es ist die Lücke, die er in unser Leben reißt. Sie ist es, die weh tut. Sie hinterlässt ein Vakuum und sie spricht von der endgültigen Abwesenheit des geliebten Menschen oder der erträumten Erfüllung eines Herzenswunsches.
Der Tod – auch jener von Illusionen, Träumen, Wünschen und Hoffnungen – reißt eine Lücke, die nie wieder zuwächst. Nie wieder wird das Leben sein wie zuvor. Tote Menschen und tote Lebensträume wachsen nicht nach. Dennoch leben wir irgendwie weiter. Auch mit Lücke lässt es sich weiterleben; an Lücken stirbt man in der Regel nicht. Ausnahmen gibt es. Manche von uns können besser mit ihnen leben, andere dagegen leiden mehr. Vergleiche sind müßig.
Alle haben wir unsere Lücken. Große, kleine. Wobei die Größe nichts über die Wirkung auf das jeweilige Leben aussagt. Manche stopfen sie mit Materie, manche mit Arbeit und noch mehr Arbeit, manche mit Suchtmitteln, manche lenken sich ab, verdrängen, gucken weg. Wieder andere stopfen sie nicht, sondern tänzeln darum herum. Andere wiederum versuchen, sie zu überbrücken und mache balancieren auf Seilen unter Lebensgefahr über ihren Abgründen.
»Bist du noch immer nicht drüber hinweg? Ist das noch immer wegen deines Sohnes?« So irgendwie fragte mich kürzlich jemand, als ich kurz meinen gesundheitlichen und materiellen Zustand geschildert hatte. Die Zusammenhänge und das Zusammenspiel von mentaler und körperlicher Versehrtheit und deren unmittelbare Folgen: Krankheit und Armut.
Nein, sagte ich, ich bin noch immer nicht drüber hinweg. Und ja, indirekt ist das noch immer wegen meines Sohnes. (Wie lange darf man traurig sein und wer bestimmt das?)
Und ja, sage ich mir heute, hier und jetzt, ich weiß, ich muss da auch nicht drüberhinwegkommen. Weil es das gar nicht wirklich gibt und geben kann, dieses Drüberhinwegkommen. [Nur wer selbst ein Kind verloren hat, kann vermutlich ahnen, wovon ich hier spreche (und vielleicht noch jene, die selbst Kinder haben und dazu viel Phantasie). Und nein, das wünsche ich niemandem.]
Es ist nicht der Tod. Den Tod habe ich akzeptiert. Und vermutlich sogar die Lücke, die er gerissen hat. Es ist eher das, was nicht sein konnte und die dabei entstandene Lücke, die heute noch immer so brutal schmerzt. Es ist diese andere Lücke – eine andere, als die unmittelbare, die nach einem Tod entsteht –, die sich als bisher unheilbare herausgestellt hat.
Ich wünsche mir so sehr, dass wir alle in unseren Köpfen von diesem Zeit-heilt-alle-Wunden-Ding wegkommen, denn nein, Zeit heilt keine Wunden. Auch Noch-und-noch-immer-Wunden heilt die Zeit nicht. Dieser Satz ist so müßig wie die darin liegenden subtilen Vorwürfe, dass man, wenn man nach langer Zeit noch immer nicht wieder heil und funktionstüchtig geworden ist, etwas falsch gemacht haben muss.
Wunden heilen bestenfalls, wenn wir sie pflegen. Manche reißen dennoch immer wieder auf. Und manche heilen auch bei bester Pflege nicht. Manche heilen ein wenig. Bei manchen wirkt das eine, was bei anderen nicht wirkt.
Und nein, bei dem ganzen Wunde-&-Heilung-Ding geht es nicht um Schuld, nicht um Strafe, und auch nicht um Verdienst und erst recht nicht darum, zu wenig oder das Falsche gedacht, getan oder geglaubt zu haben. Ist es dann einfach Schicksal? Strafe gar? Und Gnade, wenn es besser wird?
Vielleicht müssen wir einfach akzeptieren, dass es viele Dinge gibt, auf die wir keinen Einfluss nehmen können. Die einfach passieren. Wie ein Sturm. Wie eine Überschwemmung. Wie das Wetter.
Folglich bin ich nicht schuld daran, dass es ist, wie es ist. Fast fällt es mir schwer, das zu schreiben, da in unserer Leistungsgesellschaft schließlich alljene, die das mit dem Leben im Hamsterrad nicht auf die Reihe bekommen, generell selbst schuld daran sind. Die mit den psychischen Krankheiten sogar noch ein bisschen mehr als die mit den körperlichen Gebrechen. Die psychisch Beschädigten sind doch eh alle nur arbeitsscheue Weicheier und Mimosen. Die sollen sich doch einfach ein bisschen zusammenreißen. (Ja, solche Sätze habe ich in meinem Leben oft gehört.)
Die Scham darüber, dass ich wegen der Umstände, die mir das Leben bereitet hat, chronisch krank geworden bin, ist im Grunde überflüssig, ebenso wie die Scham darüber, dass ich wegen dieser Umstände seit einem Jahr unter dem Existenzminimum lebe. Dennoch ist diese Scham noch immer da und frisst – ebenso wie die Exstenzangst – ganz schön viel Energie, die ich gerne für andere Dinge einsetzen würde. Ich bin schließlich keine Maschine, die Muster wie Angst, wie Scham, wie Schmerz einfach abschalten kann (und ja, ich arbeite dran).
Krankheit und Armut kommen auch in unseren Breitengraden vor. Viel häufiger als wir denken. Leider sehen wir meistens nur die Fassaden der Menschen, außerdem halten sich Arme und Kranke bedeckt – nicht zuletzt aus (zwar überflüssiger, aber gesellschaftlich erworbener) Scham. Ich gestehe, dass ich, als ich noch ein normal funktionierendes, verdienendes und konsumierendes Mitglied dieser Gesellschaft war, vieles als selbstverständlich nahm. Dinge, die ich heute nicht mehr als gegeben ansehen kann. Einfach mal da ein Buch oder dort ein neues T-Shirt kaufen geht heute zum Beispiel nicht mehr (von Steuerrechnungen rede ich hier lieber nicht).
Heute ist dafür Zeit mein Luxusgut. Ich liebe es, mit mir und meinen Worten Zeit zu verbringen. Ich bestimme, wann ich eine Pause brauche, arbeite, wenn ich dazu in der Lage bin, so viel oder so wenig wie es eben heute, hier und jetzt geht, und habe so zu meinem eigenen Tagesrhythmus gefunden. Und ich mag ihn, meinen ganz persönlichen Alltag. Die Arbeit am neuen Buch zum Beispiel oder die Arbeit an Bildern.
Ich webe mein Leben und lebe mit meinen Lücken.
Ich fühle meine Lücken.
Manchmal fülle ich meine Lücken mit Worten.
Ich arbeite an und mit meinen Lücken und um sie herum.
Die Lücken sind da und gehören zu mir.
Wenn ich mit meinen Lücken leben kann, geht es mir gut.
Wenn von mir erwartet wird, dass ich mich wie eine Unbeschädigte verhalte, geht es mir schlecht.
Ich arbeite gerne, wenn meinen Lücken auch ihren Platz haben dürfen.
By the way: Wer hat eigentlich den blöden Spruch ’erst die Arbeit, dann das Vergnügen’ in die Welt gesetzt? Wieso wird in den Köpfen mancher Menschen Arbeit von Vergnügen separiert und wieso soll Arbeit kein Vergnügen sein dürfen?
Ich kann nur sagen: Meine aktuelle Arbeit ist mir ein Vergnügen. Ich schreibe, also bin ich. Und ich ahne, dass diese Welt eine andere wäre, wenn Arbeit für mehr Menschen ein Vergnügen wäre. Eine Lebenswertere.