Etwas über zwei Jahre sind seit meiner ersten allein und ohne Zelt in der Natur verbrachten Nacht vergangen. Ausgeheckt hatte ich die Idee damals mit der lieben Freundin M. (2). Beide übernachteten wir irgendwo an der Aare, sie dort, ich hier in der Nähe. Ein Erlebnis, das ich damals als sehr bereichernd erlebt habe und gerne als Inspiration weiterempfehle.
Ich brauche sie hin und wieder, diese Abenteuer außerhalb meines gewohnten Alltags. Ich brauche Wald, ich brauche Erde unter den Füßen. Ich brauche Abenteuer und Abwechslung, auch wenn es oft nur etwas relativ Kleines, zeitlich Kurzes ist – ein sogenanntes Mikroabenteuer also, wie Outdoorerlebnisse in nächster Nähe neuerdings heißen. Aber besser klein als gar nicht. Und ja, ich weiß, dass das ein Privileg ist. Privilegiert bin ich auch dadurch, dass ich auf dem Land, inmitten von Flüssen und Wäldern, wohne.
Seit einiger Zeit geistert die leise Idee in M.s und meinem Kopf herum, dass wir eigentlich auch mal zusammen eine Nacht in der Natur verbringen könnten. Anläufe genommen haben wir dazu schon einige, doch entweder spielte das Wetter nicht mit oder der einen oder anderen kam etwas Kurzfristiges oder die Befindlichkeit dazwischen.
Vor einigen Tagen war ich mit dem Gedanken aufgewacht, dass dieses Wochenende eigentlich ein neuer Anlauf fällig wäre. Vielleicht würde es ja endlich klappen. Irgendwie wunderte es mich so gar nicht, dass ich – als ich an jenem Morgen mein Mailprogramm öffnete – eine Mail von M. fand, die genau die gleiche Idee gehabt hatte. Nach ein paar Hin- und Hermails einigten wir uns darauf, uns am Samstag Nachmittag um 16 Uhr am Bahnhof Brugg zu treffen.
Kurz nachdem wir uns begrüßt haben, beichtet M. mir, dass sie später Lust auf ein Bierchen haben können würde. Ich meinerseits beichte ihr, dass ich nur eine Flasche Bier mitgenommen hätte, für mich, aber selbstverständlich würde ich diese gerne mit ihr teilen oder – noch besser – ich würde ihr schnell eine kaufen gehen. Für sie hätte ich darum keine mitgenommen, weil sie ja keinen bis nur sehr wenig Alkohol trinke. Ich hupse schnell in den nahen Laden und schon bald wandern wir los. Vorbei an Königsfelden, runter an die Aare. Wie erwartet tummelt sich dort viel Volk. Fast jede Badebucht ist besetzt. Für uns kein Problem, denn wir wollen ja eh weiter wandern, vorerst nordwärts zum Wasserschloss.
Inzwischen ist es richtig warm geworden und uns beiden ist nach einem baldigen Hupser in die Aare, die Reuss oder die Limmat. Sobald wie möglich verlassen wir die Straße und wählen aarenahe Waldweglein. Bei der Brugger Kläranlage überqueren wir die kleine Fussgänger:innenbrücke um auf der anderen Seite eine erste Badestelle zu finden.
Ab ins Wasser, wie gut das tut! Ein Nebenarm der Aare, lauschig, wohltuend kühl. Erfrischend.
Nach einer kleinen Pause gehen wir über die Brücke zurück und schlagen uns auf schmalen Pfaden zum Wasserschloss durch, wie der Zusammenfluss der Reuss in die Aare heißt. Hier gilt es nun, eine Entscheidung zu treffen. Rechts, der Reuss entlang Richtung Süden, links der Aare entlang Richtung Stroppelinsel.
Seit ich diese Halbinsel vor einigen Jahren zufällig entdeckt habe, ist sie rasch eine meiner liebsten Badestellen geworden. Zwar sind immer ein paar Menschen dort, aber immer sehr angenehme. Auch ist sie nie überlaufen, denn man kommt nicht direkt mit dem Auto hin. Selbst das Fahrrad muss draußen warten, denn um auf die Wiese zu kommen, muss man durch ein Drehkreuz. Eingezäunt ist der Zipfel der Halbinsel, weil auf dem Grasland eine Herde Hochlandrinder weidet. Friedliche, sanfte, zottelige Tiere mit schönen, riesigen Hörnern. Und ja, auch mit M. war ich schon das eine und andere Mal hier und so wundert es mich nicht, dass sie sich für diesen Platz entscheidet. Eine falsche Entscheidung kann es hier eh gar nicht geben.
Ich lotse uns also über die Eisenbahnbrücke nach Vogelsang und schließlich quer durch Wohnquartiere zum Anfang des Wanderwegs, der in die Badestelle am nördlichen Zipfel der Halbinsel mündet.
Unterwegs überlegen wir, wo wir später unser Lager aufschlagen könnten. Die Badewiese noch außerhalb der Kuhweide ist, so denken wir, eine erste ernsthafte Alternative. Dass wir auf der weitläufigen Weide übernachten könnten, ist noch kein Thema. Schließlich sind wir fast die einzigen, die sich an diesem Samstagspätnachmittag noch hier aufhalten. Angenehm ruhig ist es. Schnell klettern wir in die Schwimmanzüge und stürzen uns ins die Nicht-Fluten. Ah, herrlich! Genau die perfekte Temperatur. Wohltuend kühl, aber nicht kalt.
So langsam macht sich ein kleiner Hunger breit. Wir arrangieren ein Picknickbüffet auf der Wiese und genießen die mitgebrachten Leckereien. Und Bier. Und mal wieder eine Zigarette oder zwei.
Inzwischen sind alle anderen Menschen, die da gewesen oder nach uns gekommen sind, wieder weg. Und so langsam kommt die Müdigkeit. Die letzten Nächte habe ich nicht sonderlich gut oder viel geschlafen. Wir beschließen also, solange wir noch genug sehen, unsere Lager auszubreiten. Unterlagen, Matten, Schlafsäcke. Die Rucksäcke stellen wir vorsorglich an einen nahen Baum, an welchem auch unsere nassen Badesacken hängen. Ein tolles Lager das!
Zähneputzen, Pinkeln und ab ins Bett. Langsam ist es kühler geworden, der Schlafsack wärmt. Wir genießen den Sonnenuntergang, die Abendstimmung, erzählen einander von anderen Wildübernachtungen. Das Feierabendkonzert der Vögel untermalt unser Gemurmel. Die äsenden Rinder, eben noch weit weg, näheren sich einer Futterstelle mit Heu. Immer noch ziemlich weit weg. Ich strecke mich aus – ah – und schließe mich entspannend die Augen. M. sagt: Du, da sind zwei Kühe.
Wie jetzt? Huch, die sind ja direkt hinter uns und dann auch schon direkt neben mir. Nein, ich habe keine Angst. Nicht um mein Leben jedenfalls. Respekt aber schon, denn ich möchte nicht wirklich und unbedingt so nahen Kuhbesuch. Das dann doch nicht. Der Bulle und die Kuh haben sich nun zwischen mich und den Baum geschoben und schnuppern an unseren Rucksäcken herum. Sie gehen sehr behutsam und bewegen sich unendlich langsam. Von ihnen geht keine Bedrohung aus. Weil ich dennoch Respekt vor den großen Hörnern, halte ich mir den Arm übers Gesicht, wir verhalten uns ruhig. Da der Bulle immer näher kommt und mich nun ein bisschen anstupst, wirklich nur ganz sachte, aber bei jeder Kopfbewegung die Hörner mitbewegt, wird es mir doch ein bisschen mulmig (da wusste ich übrigens noch nicht, dass es ein Bulle ist). Ich rede ruhig mit den Tieren und bitte sie, doch woanders hinzugehen. Die einzige Angst, die ich habe, ist, dass die Rinder meine Luftmatratze betreten und sie so kaputt machen. Ganz langsam schlüpfe ich aus meinem Schlafsack, umkreise M., die noch links von mir in ihrem Lager liegt, und gehe von vorne auf die Tiere zu. Ich versuche, die Technik, wie man Pferde ohne Peitsche, mit bloßem Gegenübertreten, zu Rückschritten bringt, auf die Kühe anzuwenden, doch ich scheitere. Ich bin zu wenig überzeugend. Und zu wenig überzeugt. Schließlich sind wir hier die Gäste. Die beiden schauen mich mit lieben Augen an und warten einfach ab, was wir zu tun gedenken.
Inzwischen ist auch M. aufgestanden und wir versuchen gemeinsam mit sanftem Bitten die beiden Tiere wegzuschicken. Als wir auch zusammen keinen Erfolg haben, ziehen wir unsere Schlaflager, soweit es geht, aus dem Einflussgebiet der großen Kuhfüße. An meine Turnschuhe komme ich nicht ran, die liegen genau zwischen den beiden Tieren. Auch M.s Flipflops müssen wir liegen lassen, ebenso wie unsere Rucksäcke und die Badesachen am Baum. Den Rest packen wir so gut es geht zusammen und spazieren mit dieser ersten Ladung – es ist schon nach Sonnenuntergang, doch noch hell genug, um den Weg zu sehen – zum nördlichsten Zipfel der Wiese und der Insel. Dahin, wo sich die Insel verjüngt, mit unmittelbarem Blick auf den Zusammenfluss von Limmat und Aare. Eine wunderbare Stelle, flacher als der erste Lagerplatz. Absolut perfekt. Hier wollen wir bleiben.
Mit wieder leeren Händen gehen wir nochmals zurück, um zu sehen, ob wir an unsere restlichen Sachen herankommen. Können wir. Einzig M.s Flipflops bleiben irgendwo unter dem Bullen liegen, denn ja, der Bulle hat sich genau da hingelegt, wo eben noch M.s Lager war. Oke. Die wollen ja nur schlafen. Gut so, gut für uns.
Als M. später nochmals nachschauen geht, liegt die ganze Herde genau dort, wo wir eben noch lagerten. Ob diese Tiere immer am gleichen Ort schlafen? Ob wir ihre Lieblingsstelle besetzt hatten? Oder ob es für die Rinder deshalb dort so spannend war, weil wir uns dort hingelegt hatten? Wir werden es nie erfahren.
Noch eine ganze Weile liegen wir kichernd undzuweilen prustend in den Schlafsäcken und erzählen uns das Erlebte immer wieder neu. Herrlich, trotz des Schreckens. Als es immer dunkler wird, zündet der volle Mond wie ein Suchscheinwerfer direkt auf unser Nachtlager. Wow! Hat was.
Später, ich bin das erste Mal eingedöst, höre ich plötzlich Menschenstimmen und Ghettoblaster-Musik. Ganz nahe. Huch, da sind ja doch Menschen!, sage ich erwachend. Ein paar Taschenlampen leuchten zu uns. Die Musik verstummt. Flüsternde Stimmen junger Menschen, die sich wieder entfernen und sich woanders einen Platz suchen. Später hören wir Stimmen, nicht laut; junge, rücksichtsvolle Menschen, die sich vermutlich ein Nachtbad gönnen wollen. Später Gitarrenklänge und Gesang, weit genug weg um nicht zu stören.
Ich schlafe in Etappen. Das Rauschen der beiden Flüsse, der Tinnitus, Frösche, Enten, irgendwann größtmögliche Stille. Sterne am Himmel. Der wandernde Vollmond. Der Geruch von Gras und Erde und Wasser. Und ein bisschen Kuhmist, ja, das auch.
Gegen Morgen sehe ich die orangefarbene Sonne hinter den Bäumen, wie schön!, doch ich döse erneut ein. Gegen sieben ist die Blase dann bereit für eine erste Leerung und so ziehe ich mir die warme Jacke an und schlüpfe in die geretteten Turnschuhe. Für barfuß ist es mir doch noch ein klein bisschen zu kühl. Ein erster kleiner Spaziergang. Wie schön es ist. Wie still. Wie friedlich. Wie schön doch so ein Sommermorgen ist! Diese saubere Luft.
Die Rinder sind bereits am futtern und auf unserm ehemaligen Lagerplatz liegen einsam und verlassen M.s Flip-Flops, die ich mitnehme, im Fluss wasche, die Wassertemperatur teste und ein Bad zu nehmen beschließe.
Zurück beim Lager ist M. auch aufgewacht. Sie hat Cold Brew-Kaffee dabei, ich eine Thermosflasche mit gestern gekochtem Heißwasser für meinen Tee (zur Nachahmung empfohlen), sodass wir beide mit unseren Aufwachgetränken in den Tag starten können. Schließlich das Morgenbad, wohltuend, erfrischend. Schnell in die Kleider, bevor ich friere.
Ich bekomme fast nicht genug von dieser Insel, spaziere herum, genieße die Stimmung, die Sonne, die langsam zu wärmen beginnt.
Es ist halb neun, als wir unsere Sachen gepackt haben und loswandern wollen. Während ich noch die letzten Dinge verstaue, merke ich gar nicht, dass eine der Kühe sich uns genähert hat. Nummer 3802, unser Abschiedskomitee. Neugierig beschnuppert sie meinen Rucksack. Ich kann es nicht lassen und muss unbedingt ein Bild schießen. Irgendwie mag ich diese sanften, diese beharrlichen Tiere.
Barfuß spaziere ich neben M. zurück zur Straße. Bevor wir wieder ein Stück durch die Quartierstraßen gehen müssen, ziehe ich mir die Schuhe wieder an. Auf weichen Wegen gehe ich sehr gern barfuß, Straßen aber sind nichts für mich.
Als wir wieder zurück über der Eisenbahnbrücke sind, schlage ich vor, dass wir der Reuss entlang zurückzuwandern könnten. Zurück durchs Kunzareal und am Wehr vorbei über eine weitere Brücke. Bei der Gebenstorfer Reuss-Badi hupsen wir nochmal kurz ins kühle Nass. Diesmal ist es die Reuss. Es ist bereits wieder heiß geworden und wir schwitzen. Eine junge Frau, die einzige Anwesende auf dem Platz, warnt uns vor der starken Strömung, weshalb wir nicht schwimmen, sondern nur ein kleines Reintunk-Erfrischugsbad nehmen und uns anschließend unter die Duschen stellen. Aaaah. Wie gut das tut. Ich beschließe, das Badekleid anzubehalten, da wir ja eh bald daheim sind.
Dort gibt es Frühstück. Und endlich noch mehr Kaffee, diesmal heißen, für die liebe M.; was muss, das muss.
Was für ein tolles Abenteuer das war! Aber, äh, so Mikro nun auch nicht, nein, eigentlich richtig groß und in 3D.