Wandlung

Danke, lieber Emil, für dein gestriges Rilke-Zitat. Ein Gedicht, das mich sehr anspricht, weshalb ich es hier auch gern teile.

Spaziergang

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an —

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.

Rainer Maria Rilke
Muzot, 1924


Es ist schwierig, den Blick im Hier und Jetzt zu belassen – nicht voran, nicht in die Ferne zu schauen –, wenn die Welt brennt. Darum sind Herr Irgendlink und ich letzten Freitag nach Aarau geradelt. Es war uns ein Anliegen, an einer der vielen internationalen Klimademos mitzulaufen. Think global, act local. Ein gut gealteter Slogan aus meiner Jugendzeit, der auf den Punkt bringt, wie die Prioritäten liegen sollen.

Wie schön es doch wäre, wenn Klimastreiks und Klimademos nicht mehr notwendig wären, weil die Regierungen rund um die Welt endlich begriffen hätten, dass keine Zeit mehr zum Zaudern ist. Wenn die  Kinder und jungen Menschen sich darauf verlassen könnten, dass ihre Regierungen alles dafür geben, um für sie – und für uns alle – ein Leben auf diesem Planeten auch in zwanzig, dreißig, hundert Jahren zu ermöglichen.

Im Hintergrund ein Gebäude mit einer meterhohen Mauer, die als Bühne dient. Darunter eine Parkwiese. Überall Menschen. Auf der Bühne die Rednerinnen, unten das Publikum. Darüber Sonne und ein Baumast, der ins Bild ragt.

Verständnis

Drei rotbemützte Bäume
Drei rotbemützte Bäume, verfremdet

Ich verstehe, warum wir uns Halstücher und Mützen anziehen. Krawatten werden mir wohl immer ein Rätsel bleiben.
Ich mag Barfußgehen auf der Erde und durch nasses Gras. Gehen in Stöckelschuhen tut mir nur schon beim Zuschauen weh.
Ich verstehe mich auf Schönheit und Ästethik. Nicht auf Effekthascherei.
Ich kann Stimmungen hinter der Schminke lesen. Von Maskeraden und Make-Up verstehe ich nichts.
Ich verstehe etwas von der Sprache der Liebe. Nichts aber von jener der Image- und Machtsymbole.
Ich erkenne, wenn jemand Hilfe braucht. Von Intrigen und Powergames habe ich keine Ahnung.
Ich liebe es, spontane Geschenke zu machen, aber mit Schenken-auf-Befehl kann man mich weit weg jagen.
Ich verstehe etwas von Gefühlen, mit dem Missbrauch derselben bin ich allerdings immer wieder überfordert.
Ich mag es, mir eine eigene Meinung zu bilden, sie aber als die einzig richtige zu betrachten, geht mir gegen den Strich.
Ich freue mich über Rückmeldungen für mein Tun. Auf Lob zu warten mag ich dennoch nicht.
Ich mag es, Herzblut und Zeit an Freundinnen und Freunden zu verschenken. Mich aber von Menschen ausnutzen und klein machen zu lassen ist überflüssige Kraft- und Zeitverschwendung.
Ich echauffiere mich immer mal wieder über Dinge, die andere tun oder lassen. Hasskommentare und Hassaktionen* gehen dennoch absolut nicht.
Ich verhalte mich solidarisch. Ausgrenzung und Ausbeutung toleriere ich nicht.
Ich stehe für Würde. Sie ist weder freiwillig noch ein Konjunktiv, sondern ein Menschenrecht.


*Bitte Petition unterzeichnen: Effektiver Opferschutz von Betroffenen der Onlinekriminalität
Danke im Namen der Betroffenen.

Leere und so.

Inspiriert von Ulli, die gestern über die Leerheit bloggte, habe ich mich auf die Findung nach einem uralten Text gemacht. Geschrieben vor siebzehn Jahren, in Zürich. In einem anderen Leben.

Hier ist er.

+++

jetzt

hier fülle
da leere
beschenkt erfüllt vollgestopft überhäuft
ausgesogen beraubt befreit ausgeleert
negativ
positiv
bewerten
gegen teil
mitte
gleich gewicht
gerechtigkeit
extreme
kontraste
das eine nicht existent
ohne das andere
die summe aller zahlen ist null
ist alles ist nichts
illusion
nur das jetzt ist wirk lich
was war: illusion
was sein wird: erinnerung
hoffnung
gegenwart der punkt auf meiner unendlichen
gerade
der kreuzpunkt
aller unendlichen geraden ist jetzt
jeder punkt ein kreuzpunkt jeden lebens
unendlich
unfassbar
nur das jetzt ist wirk lich
jetzt be wirke
ich
mein leben
bringe es in die mitte
meine mitte
die universelle mitte
da ist liebe zu
mir
dir
allem sein
der punkt
die quelle
die mitte
keine illusion
wirk lich keit
die liebe
dort
nein
hier
bin
ich

4/98

Von Gewohnheiten und anderen Geräuschen

1.)
Tun, was mir gut tut.
Weiß ich noch, was ich mir als Kinder wünschte,
erinnere ich mich noch daran, wovon ich als Kind träumte,
außer dass die Träume von einst nichts mit Abhängigkeiten zu tun hatten?
Dafür mit Farben, Geborgenheit, Weite und Raum,
ich hörte in ihnen das Abendlied der Amsel.
Roch frisch gemähtes Gras.
Ich träumte vom großen Lachen,
von erträglicher Nähe, in der es sich glücklich atmen lässt.
Erst heute begreife ich, dass Träume schrumpfen, je älter ich werde.
Größenverhältnisse verändern sich. Immer. Für immer.
Für einige Träume ist es zu spät (ist es das wirklich, solange ich noch lebe?)
andere sind nicht mehr wichtig.
Natürlich weiß ich, was mir gut tut. Was mir gut täte. Konjunktiv.
Zu viele Hindernisse auf dem Weg.
Müssen darf darin nicht vorkommen.
Hedonistin du!
Schon folgt die Verurteilung (wie kannst du nur, wo doch andere …),
die schrille Stimme in mir. Mutters Erbe.
Abhängigkeiten waren nicht vorgesehen.
nicht als ich Kind war und träumte.
Bin Teil einer Gesellschaft abhängiger Mensch. Konsumfixiert wie viele.
Das Perpetuum mobile des Kapitalismus schwebt im luftleeren Raum.

Immer weiter.
Weil wir Gewohnheitstiere sind,
weil wir weiterschlingen wollen, wenn wir erst einmal angebissen haben,
weil wir gerne an der Leine hängen und herumzappeln. Herumzappen auch.
Fortsetzung folgt.
Cliffhanger.
Adrenalin.

Mehr, immer mehr, mehr, mehr …
Oder lieber weniger, dafür mehr
tun, was mir gut tut.

2.)
Es fing an jenem Tag an, als ich am Morgen vergaß, in den Spiegel zu schauen und mir selbst dabei in die Augen blickte.

3.)
Irgendwann habe ich aufgehört zu glauben, dass es die andern sind, die uns Gutes tun sollen.
Irgendwann habe ich damit angefangen zu ahnen, dass letztlich nur ich selbst es bin, die mir wirklich Gutes tun kann.
Doch gut ist und gut tut etwas nur, wenn ich mir das Gute von Herzen gönne, es mir erlaube und es schließlich tue …

gestern, häute, morgen.

über Haut
Gestern vorbei
ich häute mich heute
morgen schon soll die neue mich schützen
+++
Gestern im nahen Ormersviller/F auf Geobcachetour*


__________________________________________
Bilder:
undogmatische Appspressionismen (iPhoneArt mit Gimpunterstützung).
* Geocaching ist eine Outdoor-Schatzsuche in der realen Welt. SpielerInnen dieses Spieles versuchen, versteckte Behälter, Geocaches genannt, mithilfe eines Smartphone oder GPS-Gerätes zu finden, um anschließend ihre Erfahrungen online zu teilen. Mehr auf www.geocaching.com.

Sonne, Mond und andere Fragen

1.)
Vermutlich würde ich noch einmal richtig intensiv leben wollen, sollte der Arzt eines Tages sagt, dass … Vielleicht würde ich mit dem Liebsten eine letzte Reise wagen? Nach Australien-Neuseeland zum Beispiel. Und Schreiben würde ich. Ganz viel. Und ganz still werden. Vielleicht sogar anfangen, das Leben zu lieben, zu genießen. Vielleicht dem Tod, der mich holen will, dankbar sein dafür, dass er mir das Leben doch noch lieb gemacht hat. Ob ich mich dagegen wehren würde? Ob ich versuchen würde, dem Tod zu entkommen? Ich lebe auf diesen einen Moment hin: Endlich möglichst unbeschadet am Ende ankommen, glücklich auf mein Leben zurückschauen, das Lebensbuch zuklappen und sagen: Well done!
Zuweilen beneide ich „Menschen ohne Phantasie“, wie sie Marlen Haushofer in der Wand nennt. Sie müssen nicht über solche Dinge nachdenken.
Gibt es dieses Lied in allen Dingen wirklich, das alles verbindet? Oder ist alles aus purem Zufall entstanden und nichts hat einen tieferen Sinn außer den des Augenblicks, wie das Marlen Haushofer hinter der Wand erkennt und ihre Protagonistin schreiben lässt ? Meine Sehnsucht danach, dass alles eine sinnvolle Ursache hat, ist sehr groß. Ein Leben ohne solche mag ich mir einfach nicht vorstellen. Und tue ich es ab und zu doch, erfüllt mich größte Abscheu dem Leben gegenüber. Alles Tun und Sein wäre vergeblich und würde uns von jeglicher Mitverantwortung für die Welt entbinden.
2.)
Ich lese, also bin ich. Und immer werde ich Teil der Geschichte, die ich lese. Ich identifiziere mich mit Figuren, werde selbst zur Figur, lebe andere Leben als nur meins. Das eigene Leben ist nicht begrenzbar. Alle andern Leben, reale und fiktive (so es diesen Unterschied denn gibt) fließen an mir vorbei und durch mich durch. Wie Jostein Gaarder sinngemäß in Der seltene Vogel schreibt: Jeder einzelne Wassertropfen, der ins Meer fließt, ist nicht nur und nicht länger ein einzelner Tropfen im Meer, er ist das Meer. Und er war immer schon das Meer. Auch.
Ich bin nicht nur Teil des ganzen, ich bin das Ganze. Auch. Selbst im Spektrum aller Kontraste und Dualitäten. Sie sind nur Facetten des Ganzen. Ebenso wie alle Rollen, die wir spielen. Doch jetzt, und jetzt, und jetzt, wo ich diese Gedankenfetzen und Ideen in Sätze umforme, den Formen Namen gebe, zeigen sie sich als Teile. Um anschließend ihre Form wieder zu verlassen und eins zu sein …
All das schreitet durch die Tür meiner Wahrnehmung, zieht dort die Schuhe aus und setzt sich hin. Ich schaue und nehme für wahr. Manchmal bin ich überfordert. Zu viele Eindrücke.
Ich lese Siri Hustvedt. Was ich liebte. In Worte gegossene differenzierte, detaillierte Beobachtungen. Bilder, die auf eigenen Füßen stehen. Einfach nur ihre Worte zu lesen, ist das pure Vergnügen – die Handlung in ihrer Dramatik mal ausgeblendet. Jedes Wort stimmt. Nie schwülstig, nie auf Effekt angelegt. Schlicht, aber nie billig. Zwar eine bewusste Sprache, aber keine raffinierte oder eitle. Authentisch und unexhibitionistisch. Die Sprache transportiert den Inhalt so, dass der Inhalt optimal gesehen werden kann. Die Form stellt den Inhalt dar, Inhalt und Form sind eins.
Dem Ich-Erzähler gelingt es mehrheitlich, sich – obwohl er wesentlicher Teil der ganzen Geschichte ist – auszublenden, die Rolle des Beobachters und Chronisten auszufüllen. Das Ziel, endlich die Geschichte zu erzählen, die erzählt werden soll, stellt er höher, als seine eigene Befindlichkeit, die trotz des Dramas, das er zu verarbeiten hatte, wenig Raum* einnimmt. Dennoch: Kein Roman ist ein objektiver Bericht. Ein Roman erzählt die Sichtweise von Dingen aus einem bestimmten Winkel. Wie der zehnjährige Matt es nach einem Basemallmatch sinngemäß sagt:
Nur schon, wenn ich da statt dort gesessen wäre, hätte ich alles ganz anders erlebt.
(((Lies zwei Zeitungsartikel zum gleichen Thema: In aller vorgeblichen Objektivität wird Subjektivität sichtbar: Wo setzen die verschiedenen AutorInnen ihre Schwerpunkte, wenn die Fakten abgehakt sind? Sind sie kritisch?)))
Schreiben ist das Übersetzen von persönlich gefärbter Wahrnehmung in Buchstaben. Schreiben ist die Wiedergabe von verdautem Geschautem. Ein Schauen, das nicht aufhört sehen zu wollen, was dahinter wirklich ist, was wirkt, was einwirkt, was bewirkt, was ursächlich ist. Und eher was hinter als vor dem Vorhang ist, wirkt bei den Lesenden nach. Wiedererkennen tun wir uns, wenn der Spiegel klar ist. Dann sehen wir mit dem Herzen. Der ganze Farbkreis steht uns zur Verfügung. Alle Farben. Deshalb ist jedes einzelne Bild, das wir mit Worten, Pixeln und Pinseln malen eine Synthese. Ist Ausschnitt und ist alles zugleich. Spezifisch, also alle Details mit der ihnen eigenen Struktur, wiederzugeben, ist die große Kunst jeder Kunst.
Schreiben ist Leben, ist Malen mit allen möglichen Farben und Techniken. Wir arbeiten am sich stetig wandelnden Bild. Dabei lassen wir immer weit mehr weg, als wir sagen und schreiben können. Doch selbst was wir weglassen, ist Teil des Bildes. Des ganzen …
3.)
Sonne und Mond zu sein
Ich lese.
Verdaue Geschriebenes.
Bin Mond.
Reflektiere.
Folge.
Ich schreibe.
Verdaue Wahrgenommenes.
Bin Sonne.
Strahle.
Denke.
Du liest.
Verdaust Geschriebenes.
Bist Mond.
Reflektierst.
Folgst.
Du schreibst.
Verdaust Wahrgenommenes.
Bist Sonne.
Strahlst.
Denkst.
_________________________________________
* EDIT: Vom zweiten Teil des Buches an wird der Autor in seiner Befindlichkeit sichtbarer. Er resümiert frühere Erkenntnisse und überträgt sie auf die Gesamtzusammenhänge und sein Leben.