Die Arbeit an meinem Buch „Weiterleben“ mit Texten von Menschen mit Gewalterfahrungen bringt mich zuweilen an meine Grenzen. Gestern habe ich eine Frau besucht, die nur neun Monate vor mir sehr ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hat. Auch sie hat an den Folgen eines erweiterten Suizids ihren Sohn verloren. Wir haben uns damals kennengelernt, über die Opferhilfe, und intensiv ausgetauscht. Mit meinem Wegzug in die Nordschweiz haben wir uns zwar ein bisschen aus den Augen verloren, niemals aber aus dem Herz. Ich habe sie gebeten, mir für mein Buch ihre Geschichte und ihren Weg zurück ins Leben nochmals zu erzählen. Aus heutiger Sicht.
Nach dem sehr intensiven Besuch bei ihr bin ich auf den altbekannten Straßen, die ich aus der Zeit, in der mein Sohn noch gelebt hat und in der er bereits tot war, bestens kenne. Straßen, die in eine andere Zeit und in ein anderes Leben gehören. Ich bin auf diesen altbekannten Straßen durch W., wo einst seine Patentante gewohnt hatte, gefahren, durch G. nach O..
Da der Wald, in dem ich damals, nach Lars’ Tod oft Trost gesucht habe. Dort das Schwimmbad, wo ich mit ihm manchmal – ein- oder zweimal, mehr war es wohl nicht – gebadet hatte. Hier dieser Weg nach Hause. Bachstraße wie viel? Nein, die Hausnummer weiß ich nicht mehr. Ich fahre die Hauptstraße entlang, am Coop vorbei, wo wir immer eingekauft haben. Und nachher vor allem ich. Ich hab Hunger, überlege, welchen Tankstellenshop ich ansteuern soll, will aber zuerst zum Friedhof. Ich biege links ab, ohne zu denken, den Weg kenne ich auswendig. Der Friedhof ist gleich an der Ortsgrenze, auf Stadt-Berner Boden. Er ist riesig und er ist, jetzt, kurz vor acht, still. Ein Biotop der Trauernden. Der Verkehr drumherum ist gering um diese Zeit. Das Nachtleben hat noch nicht begonnen, der Feierabendverkehr ist vorbei.
Um acht Uhr stehe ich oben, beim Kinderfriedhof, an Lars’ Grab. Noch immer ist es sehr heiß, doch hier oben spendet der große Baum Schatten. Das Lavendelbäumchen, das wir vor einem Jahr gesetzt haben, der Liebste und ich, bevor wir losgepilgert sind. Es hat lange Äste, die sich zum Himmel ausstrecken. Die andern Lavendelstöcke feiern Hochzeit mit den Bienen, die hier ein Fest feiern.
Die Vergissmeinnicht sind schon verblüht. Etwas anderes gibt es nicht mehr. Der Hauswurz ist längt überwachsen, die große Schnecke aus Ton im Vergissmeinnichtfeld verschwunden.
Ich betrachte die neuen Gräber, das neue Grabfeld ist seit meinem letzten Besuch sehr gewachsen. Oder habe ich einfach keine Erinnerung mehr daran, wie es das letzte Mal ausgesehen hat? Auch auf den drei Plätzen für die ungeborenen Kinder hat sich vieles getan. Meine ich nur oder sind es mehr Gegenstände denn je, die hier abgelegt worden sind, um an ein ungeborenes Kind zu erinnern?
Hier weine ich kaum. Nicht hier.
Ob ich ihn hier spüre? Ich kann es nicht sagen. Hier ist der Ort, der mich an die vielen Menschen erinnert, die Lars mit mir zu Grabe getragen haben. Und hier ist der Ort, den ich auch immer wieder mit anderen, mir lieben, nahen Menschen aufgesucht habe. Hier ist ein Ort, an dem ich tiefes Mitgefühl erlebt habe. Und an dem ich tiefes Mitgefühl für all die anderen Menschen, deren Kinder hier begraben liegen, empfinde.
Ich habe ein paar Lavendelzweige gepflückt, wie immer, wenn ich zur Zeit der Blüte hier bin. Lars’ Gärtchen.
Nachdem ich an einer Tankstelle das letzte Käsesandwich erstanden habe, fahre ich Richtung Autobahn. Alles vertraute Straßen. Hier die Bibliothek, wo ich mit Lars Bücher geholt habe. Seinen Ausweis habe ich nach seinem Tod löschen lassen müssen. All diese Kleinigkeiten waren wie Peitschenschläge damals, Spießruten.
Ich verlasse das Dorf Richtung Klinik. Die Psychiatrie steht da, stark und mächtig, erinnert mich daran, dass ich es geschafft habe damals, ohne sie von innen zu sehen.
Auf der Autobahn Richtung Aargau, nach Hause, im Rücken die damalige Heimat, zerreißt es mich beinahe. Es ist mir als würde ich Lars verlassen, hinter mir lassen. Kein neues Gefühl. Ich hatte es schon damals, als ich das erste Mal in den Aargau umgezogen bin. Und ich hatte es, als ich nach Deutschland umgezogen bin. Und nun, heute, wieder. Obwohl ich weiß, dass es Lars’ Wunsch ist, dass es mir gut geht. Dass ich glücklich lebe. Das weiß ich.
Ich denke über N.s Sätze nach: Dass sie nie Schuldgefühle hatte, nie dachte, sie hätte das voraussehen und verhindern können. Sie hatte auch keine Wut, damals. Es war ihr klar: Y., der Vater ihres Sohnes, war krank, Y. hat wider die Natur gehandelt. Kein gesunder Vater bringt sein Kind um. Es ist in seiner Verantwortung nicht in ihrer gewesen, was er getan hat.
N. gibt mir ein Buch mit auf den Weg. Es hat ihr sehr geholfen.
Ich schlage es heute Morgen auf und möchte diesen Text hier mit euch teilen. Weil er mich sehr berührt hat.
Zum Lesen bitte großklicken: