Abschied nehmen

Content warning »Sterbebegleitung, Sterben, Tod, Abschiednehmen«
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Es klingt immer relativ einfach in den Filmen, wenn die Angehörigen beschließen, die Maschinen auszuschalten. Dann geht sie hin, die Ärztin, drückt ein paar Knöpfe und der Patient schläft friedlich ein.

In Tat und Wahrheit ist es ein harter Kampf, der bei Freund S. aka Journalist F. über einen Monat gedauert hat. Vor etwa einem Monat hat er sich selbst ins Krankenhaus eingewiesen, weil die Schmerzen unerträglich geworden sind. Ein Quäntchen Hoffnung auf Besserung hatte er damals noch gehabt. Darauf, dass eine OP seine tauben Hände vielleicht noch retten und ihm ein wenig der in den letzten Monaten verlorenen Autonomie wieder zurückbringen könnte. Er willigte ein. Was hatte er auch für eine Wahl? Die Lähmung war – zusätzlich zu all den anderen Einschränkungen und Krankheiten – täglich schlimmer geworden. Seine Hände gehorchten ihm nicht mehr. Die Unterschrift unter die OP-Einwilligung konnte er – ich stelle es mir bildlich vor – wohl eher schlecht als recht kritzeln, sehen tat er ja auch kaum mehr und ob er, wegen seiner starken Schwerhörigkeit, die Infos zur OP und ihren möglichen Folgen verstanden hat, wissen die Göttinnen. Hatte überhaupt jemand an die Hörgeräte und funktionierende Batterien gedacht?

»Ich habe alles unterschrieben!«, sagt er zu Irgendlink, der ihn am vermeintlichen Vorabend zur großen OP besucht. Zusammen nehmen die beiden sicherheitshalbe eine Audio-Patientenverfügung auf, in der naiven Hoffnung, dass das reicht, falls die OP nicht gelingt.

Am nächsten Tag fährt Irgendlink für vier Tage zu mir in die Schweiz, naiv hoffend, dass der Operierte am Abend bereits wieder fitter ist. Ist er nicht. Im Gegenteil. Die OP fand nicht statt. Irgendlink überlegt, am nächsten Tag mit meinem Autochen von der Schweiz aus nochmals die 300 Kilometer zur Klinik zu fahren, um mit den Ärzten zu reden. Aber zum Glück ist das nicht nötig, der Arzt (oder war es eine Ärztin?) kann telefonieren. Die OP sei auf die folgende Woche verschoben worden – warum auch immer.

Unser aller Freundin F. besucht S. und überbringt ihm unsere lieben Wünsche, informiert ihn. Aber es geht ihm da bereits sehr schlecht. Kaum mehr erträgliche Schmerzen. Wir überlegen, weit weg in der Schweiz, ob er wohl jetzt von seinem Notfallplan Gebrauch machen wird. Als Dialytiker, so hat er uns immer wieder erzählt, werde er – wenn er keine Hoffnung mehr auf Besserung seines Zustandes habe und ein gewisses Maß an Lebensqualität nicht mehr erreichbar sein werde – die Dialyse verweigern, sich in Palliativpflege begeben und sich vom Leben verabschieden.

Über diese Möglichkeit und Absicht hatte er besonders im letzten Jahr immer wieder gesprochen, immer häufiger, je schlimmer der körperliche Zustand geworden war. Und der seelische auch gleich, denn die Depressionen waren wieder sehr präsent geworden. Bei unserm letzten Besuch im Pflegeheim – Mitte April – hatte er mich gebeten, seinen Betreuenden zu sagen, dass er dringend eine Therapie brauche. Jemanden zum Reden, jemanden, der ihm – außer uns Freund*innen – helfe, seine Last zu tragen, die der Schmerzen, die des mentalen Drucks, der Angst vor einem Hirnschlag (CovidseiDank), vor noch mehr Schmerzen, vor noch mehr Einsamkeit, mentaler Unterforderung und fehlender Stimulation … Ich sprach diese eine Betreuerin, die mit dem Hundchen, direkt darauf an und sie versprach, sich zu kümmern. Doch so weit kam es ja dann gar nicht mehr, da Journalist F. nach einer seiner dreimal wöchentlich stattfindenden Dialysen gleich im Krankenhaus blieb. Die tauben Hände waren noch tauber geworden. Jeden Tag ein wenig mehr.

Die OP (Spinalkanalstenose) kam vermutlich zu spät.

Es folgten viele Tage auf der Intensivstation, viele, fast tägliche Besuche dort, viele Gespräche mit Pflegenden und Ärzt*innen. Irgendlink, als Freund S.s Betreuer/Beistand, der sich mit der Ethikkommission anlegt und schließlich gewinnt. Der Gewinn? Dass Journalist F. würdig und ohne Maschinen sterben darf.

Am Freitagnachmittag wurde er von der Intensiv- auf die Palliativstation verlegt. Gestern Morgen, um 8:00 rum, ist S. dort friedlich und für immer eingeschlafen.

Ich durfte gestern bei der Arbeit früher gehen, belud mein Autochen und fuhr 300 Kilometer zum Liebsten. Gemeinsam haben wir gestern S. ein letztes Mal besucht und uns von seiner irdischen Hülle verabschiedet. Er hat nun keine Schmerzen mehr, weder seelische noch körperliche. Darüber sind wir froh. Aber traurig, dass wir nicht mir mit ihm reden, lachen, philosophieren und blödeln können.

Wie er daliegt. Bereits irgendwie durchscheinend, wächsern … So werden wir alle daliegen, tot, eines Tages, denke ich. Du. Ich. Irgendlink und ich halten uns aneinander fest. S. fehlt. 🖤

Ich werde nie mehr Hörbücher auf sein Handy laden. Keine Heimbesuche mehr. Wir werden nie mehr mit ihm lachen. Nie mehr mit ihm durch den schönen Park des Pflegeheims rollen. Nie mehr Witze über die anderen Insassen reißen. Nie mehr über das miserable Essen lästern, nie mehr mit ihm rauchen, nie mehr Obst, Nikotinkaugummis, Ibuprofen und Hörgerätebatterien für ihn kaufen. Der berühmte Erinnerungsfilm läuft bei mir seit Tagen auf Hochtouren.

Ich sitze auf dem Stuhl neben seinem Bett in diesem sehr schönen, hellen, sauber duftenden Zimmer und begreife erst allmählich die Endgültigkeit. Sein hart erkämpftes Sterbendürfen – statt von Maschinen künstlich erhaltenes Lebenmüssen ohne Hoffnung auf Besserung – ist erlösend für ihn, erleichternd für uns und dennoch unglaublich schmerzhaft.

Auf dem Nachttisch stehen eine Engelskultpur und eine schwarze Kerze. Auf S.s Bauch liegt eine Blume. Ich glaube, das hätte ihm gefallen.

Die sehr herzliche Schwester auf der Palliativstation sagt, dass wir jederzeit anrufen und Fragen stellen dürfen. Und dass S. doch bitte zeitnah von einem Bestattungsunternehmen unserer Wahl abgeholt werden solle. Darum kümmert sich die Schwester, sagt Irgendlink. Wie gut es doch ist, dass er und F. sich bei dieser gemeldet haben, als S. noch lebte. So konnten noch Worte des Verzeihens und der Vergebung ausgesprochen werden.

Ein Leben ist vollbracht, so, genau so, fühlt es sich an. Kein ’zu früh’, sondern ein ’genau richtig’.

Danke, lieber Freund!

+++

Ich glaube ja, den Himmel haben sich die Menschen nur ausgedacht, weil sie mit der Tatsache und Endgültigkeit des Todes nicht klarkamen. Aus dem gleichen Grund haben sie sich Gott ausgedacht. Sie brauchen jemanden, dem sie die letzte Verantwortung und all die ungelösten und unlösbaren Fragen in die Schuhe schieben konnten.

Eigentlich anders

Content warning »Sterbebegleitung, Sterben, Tod, Abschiednehmen«
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Eigentlich wollte ich dieser Tag hier einen liebevollen, begeisterten, einladenden Text über das geplante Live-Kunst-Reiseprojekt des liebsten Irgendlink schreiben. Einen Text über seine Pläne, via Helsinki ein weiteres Mal ans Nordkap zu radeln. Einen Text über die Umsetzung eines Traumes, der seit Mitte Pandemiezeit immer konkreter wurde und dieses Jahr in die Wirklichkeit geholt werden sollte.

Uneigentlich ist alles ganz anders. Gestern Nachmittag fand ein Gespräch statt, von dem wir uns erhofft hatten, dass danach unser lieber Freund S. endlich und seinem Wunsch, seiner mündlichen Patientenverfügung, entsprechend, von seinen unheilbaren Schmerzen befreit wird.

Diese existentielle Fragen liegen uns schwer auf Mägen und Herzen. Es geht um Würde und Autonomie bis zuletzt, und es geht um Fragen zu Lebenmüssen und Sterbendürfen. Um Entscheidungen, die wir für einen lieben Menschen treffen müssen, der sich nicht mehr zu Wort melden kann. Ich bin ja ’nur’als Mitmensch und langjährige Freundin im Boot, der Liebste jedoch als Beistand. Schwere Entscheidungen. Wir machen es uns keineswegs leicht.

Mein Herz ist schwer. So viele Erinnerungen an unseren lieben Freund S. tauchen auf, während ich an seinem Bett stehe. Die letzten Besuche im Pflegeheim. Mein letzter vor dem aktuellen Klinikaufenthalt war jener, bei welchem wir ihm das von Freunden finanzierten E-Mobil geliefert hatten. Das er aber, weil er von seiner zweiten Covid-Erkrankung noch so geschwächt war, noch gar nicht hatte probefahren können.

Leider hat das gestrige Gespräch nicht das erhoffte Ergebnis bewirkt, nämlich das Freund S. von seinen Leiden erlöst werden darf. Nochmals neun Tage Abwarterei. Heute oder jedenfalls bald bekommt S. einen Luftröhrenschnitt, dann soll das Morphin ausgeschlichen werden und alsdann soll S. bitteschön höchstpersönlich sagen, dass er nicht mehr weiterleben will. Obwohl wir eine Tonaufnahme von eben dieser Aussage haben. Und diese auch in verschriftlichter Form vorliegt. Und der Liebste immerhin S.s juristischer Beistand ist. Dass S. vor einem Monat jener einen OP zugestimmt habe, die ihn von seiner zunehmenden Lähmung erlösen sollte, sei doch Zeichen dafür, dass S. weiterleben wolle. Dass die OP eher nicht erfolgreich war, wird ignoriert.

Es ist ein Trauerspiel. Wir geben nicht auf.

Des Liebsten Reise ist jedenfalls gecancelt. Aber vielleicht ist ja aufgeschoben nicht aufgehoben. Bestimmt würde sich S. sogar freuen, wenn Irgendlink nochmals vom Nordkap in die Ferne gucken könnte. Ganz bestimmt sogar.

Wem gehört unser Sterben? | Über Ferdinand von Schirachs Verfilmung ’Gott’

Was für ein Film! Ein Kammerspiel, ein Theaterstück, das den provokativen Titel ’Gott’ trägt, geschrieben von Ferdinand von Schirach, gespielt von einer kleinen Gruppe Schauspieler:innen, die allesamt in ihren Rollen überzeugen.

Wir sind als Zuschauer:innen Teil des Publikums in einem großen Tagungszimmer, das einer Verhandlung innerhalb der fiktiven deutschen Ethikkommission beiwohnt. Am Schluss dürfen wir sogar abstimmen, denn am Ende der TV-Ausstrahlungen auf ARD und SRF fand ein Voting, das auf ARD mit einer Zweidrittelmehrheit dem Antragsteller das erhoffte Okay zu seinem Anliegen erteilte. (Das Ergebnis von SRF finde ich leider nicht, gehe aber davon aus, dass es ähnlich ausgefallen ist.)

Screenshot einer Filmszene aus dem besprochenen Film. Links im Bild der Antragsteller Richard Gärtner, rechts im Bild sein Anwalt. Sie sitzen an einem Tisch, schauen nach vorne links und hören aufmerksam jemandem zu.
Screenshot einer Filmszene aus dem besprochenen Film.

Worum es geht?

»Ferdinand von Schirach fragt in ’Gott’, ob der Mensch sein Leben nach seinem freien Willen beenden darf: Ein Mann will nach dem Tod seiner Frau ein Medikament, das ihn tötet. Sein Fall wird vor dem (fiktionalen) Ethikrat diskutiert.  […]

Der 78-jährige ehemalige Architekt Richard Gärtner (Matthias Habich) möchte seinem Leben ein Ende setzen. Dies soll jedoch nicht im Ausland, sondern ganz legal mit der Hilfe seiner Hausärztin geschehen. Für Dr. Brandt (Anna Maria Mühe) kommt es aus persönlicher Überzeugung nicht infrage, ihrem zwar betagten, aber körperlich und geistig gesunden Patienten, ein todbringendes Präparat zu besorgen. Richard Gärtners Fall wird exemplarisch vor dem Deutschen Ethikrat diskutiert. Strittig ist dabei nicht die Frage, welche Formen von Sterbehilfe für Ärzte straffrei sind, sondern ob Mediziner dem Patientenwunsch eines Lebensmüden entsprechen sollten – egal ob jung, alt, gesund oder krank.

Ethikrat-Mitglied Dr. Keller (Ina Weisse) befragt die Sachverständigen und lässt so die unterschiedlichen Experten zu Wort kommen. Die Verfassungsrechtlerin Prof. Litten (Christiane Paul) und Biegler (Lars Eidinger), der Anwalt von Richard Gärtner, stehen Bischof Thiel (Ulrich Matthes) und Ärztekammerchef Sperling (Götz Schubert) dabei mit unterschiedlichen Meinungen gegenüber. Am Ende richtet sich die Ethikrat-Vorsitzende (Barbara Auer) direkt an das Publikum: Soll Richard Gärtner das tödliche Präparat bekommen, um sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen?

[…] Der bekannte Strafverteidiger, Schriftsteller und Dramatiker von Schirach zeigt […], dass die Frage, ob ein Mensch sein Leben nach seinem freien Willen beenden darf, Teil des gesellschaftlichen Diskurses ist, aber die persönliche Entscheidung in jedem Einzelfall schwierig bleibt.«

Quelle: www.srf.ch

Unglaublich berührend und überzeugend spielt Matthias Habich den sterbewilligen Richard Gärtner. Gesund, aber lebenssatt, lebensmüde, seit drei Jahren Witwer, hat er sein Leben zu Ende gelebt. Wie er von seiner langjährigen Liebesbeziehung zu seiner Frau erzählt und wie er sich davor fürchtet, wie sie in einem Krankenhaus dahinzuvegetieren, geht mir unter die Haut.

Ich hätte ja nie gedacht, dass ich je Lars Eidinger zu seinem Schauspiel applaudieren könnte. Den Anwalt spielt er so hervorragend, dass ich ihn ihm abnehme. Keine sympathische Figur zwar, nein, aber in sich überzeugend und kompetent. Insbesondere bei seinem Schlussplädoyer hatte ich regelrecht Gänsehaut.

Doch am meisten resonierte ich mit der Haltung von Christiane Paul, die als Verfassungsrechtlerin Prof. Litten über das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben referierte.

Ebenfalls zu Wort kamen ein Arzt und ein Bischof. Beide lehnten sie aus unterschiedlichen Gründen den Antrag des Antragsstellers ab. Auch diese Rollen waren hervorragend gespielt, auch wenn ich ihre Sicht der Dinge nicht teilen kann.

Die Frage am Schluss hallt nach: Wem gehört unser Sterben? Schon lange beschäftigt mich das Thema Suizid, habe ich doch so viele Suizide in nächster Nähe erlebt, dass eine Hand nicht mehr zum Aufzählen reicht. Allen voran mein damaliger Mann, der dabei unsern gemeinsamen, dreijährigen Sohn ’mitgenommen’ hat (siehe auch hier). Doch darum geht es mir hier und heute nicht.

Im Film ’Gott’ wird als erste die Hausärztin des Antragstellers, Frau Dr. Brandt, befragt, die dem übrigens legalen Wunsch Richard Gärtners aus ethischen Gründen nicht nachkommen kann. Sie wird vom Anwalt des Antragsstellers zu erfolglosen, missglückten Suiziden befragt und erzählt, wie schwierig das Leben von betroffenen Menschen, die nach einem solchen Unglück oft seelisch und körperlich schwer beschädigt weiterleben, aussehen kann. Daraus leitet der Anwalt über zur Frage, warum es für seinen Mandanten so wichtig sei, auf legalem Weg ein sicheres Mittel zu bekommen.

Genau da will ich anknüpfen. All den verzweifelten Menschen, die sich im Laufe meines Lebens in meiner Nähe suizidiert haben, hätte ich es von tiefstem Herzen gewünscht, dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, legal ein todsicheres Mittel zu erhalten. Dass sie mit ihrem Sterbewunsch nicht alleingelassen gewesen wären. Dass ihr Sterbewunsch, der ja vor allem eine So-kann-und-will-ich-nicht-mehr-weiterleben-Sehnsucht ist, kein Tabu mehr hätte sein müssen, kein Verbrechen, keine Verdammnis durch bigotte Menschen, sondern etwas, worüber offen und ohne Scham und Pein gesprochen wird. Und auch ohne, dass mit einer Einweisung in die Psychiatrie gedroht wird.

Im Film werden viele Informationen und Zahlen genannt, die ich jetzt nicht mehr alle zitieren kann, doch geblieben ist mir, dass von jenen Menschen, die in ihrem Staat, rechtmäßig und ärztlich verschrieben, ein Sterbemittel erhalten haben, nur etwa ein Drittel auch tatsächlich davon Gebrauch gemacht hat. Nur schon das Wissen um die Möglichkeit, dass man sich, wenn das Leid unerträglich werden sollte, selbst von der Bürde des Lebens befreien könnte, hilft wohl beim Weiterleben. So schlussfolgere ich.

»Ist ein Mensch krank, darf er das Mittel bekommen, aber ein gesunder Mensch darf das nicht!«, höre ich zuweilen. Auch im Film sagt das jemand. (Ich weiß jetzt leider nicht mehr wer und wann. Vielleicht war es Frau Dr. Keller, die Vertreterin des Ethikrates.)

Ich aber sage: Gesundheit ist trügerisch. Weder körperlich noch psychisch gesund zu sein ist aller Weisheit letzter Schluss. Es geht vielmehr darum, ob ein Mensch dieses Leben als für sich grundsätzlich und sehr persönlich als lebenswert erfährt – und zwar langfristig. Wer die Welt und sein/ihr Leben nicht mehr erträgt, ist nicht zwingend psychisch krank.

Auch die psychische Gesundheit oder Krankheit ist ein zu berücksichtigendes Kriterium, denn was nützt ein gesunder Körper, wenn der Seelenmotor langfristig nicht mehr kann, lebensmüde, lebenssatt, erschöpft, kraftlos ist. So war beispielsweise mein Mann zwar körperlich gesund, trotzdem war er immer wieder schwer psychotisch. Eine lange, schwierige, traumatisierende Geschichte, die mit einem legal verschriebenen, tödlichen Barbiturat vielleicht anders geendet hätte, würdiger.

Ich jedenfalls habe großen Respekt vor jenen mutigen Ärzt:innen, die Rezepte für Sterbemittel ausstellen. Sie helfen den Sterbewilligen auf einem schweren Weg. (Für mich ist das übrigens eine ähnliche ethische Diskussion wie das unbedingte Recht jeder Frau auf Abtreibung.) Es ist ein Abwägen zwischen dem einen und dem andern Leid. Dem des betroffenen Menschen und dem seiner Angehörigen. Was zählt mehr? Ich vermute übrigens, dass ein legaler, angekündigter Suizid weniger Verstörung hinterlässt als ein unerwarteter.

Auch wenn es jetzt nicht zum Antragssteller im Film passt, muss ich das hier noch loswerden: Auch einer/einem Psychischkranken darf das Recht auf ein Sterbemittel nicht verwehrt bleiben, finde ich, denn nicht jede:r Psychischkranke ist therapiewillig und wirklich nicht jede psychische Krankheit therapierbar. Manch psychisches Leid ist mindestens genauso unerträglich wie manch körperliches zum Beispiel durch Krebs verursachtes Leid.

Ich weiß nicht, wie die Rechtslage in der Schweiz ist. Dank Organisationen wie EXIT ist hierzulande der Umgang mit dem Thema weniger tabubehaftet als in Deutschland, darum stelle ich mir gern vor, dass ein offener Dialog über Suizid langfristig zu weniger Suiziden führt. Nicht zuletzt, weil es sich in einer offenen Gesellschaft besser lebt als in einer bigotten.


Danke an Frau Croco, denn bei ihr habe ich das erste Mal von diesem Film erfahren, den ich mir gestern Abend in der Mediathek anschaute.

Von Seilen und Ankern | #Schattenklänge

Kinder sind die Anker im Leben einer Mutter*, sagt Sophokles. Als sie diesen Satz liest, zufällig, absichtslos, schnappt sie nach Luft. Heute hat ihr Boot keinen Anker mehr. Heute haben manche Sätze, denen sie lauscht, die Macht, sie in eine andere Gegenwart zu werfen. Eine längst vergangene.

Eine dieser Gegenwarten gab damals vor, ein Synonym für Ewigkeit zu sein. Es war eine Gegenwart, in der sie sich ganz und heil fühlte. Sie sah sich ganz, sie fühlte sich ganz, sie dachte ganz und das alles, was sie ist und je war und je sein wird, war auf einen einzigen Punkt verdichtet. Dieses Jetzt und sie selbst waren eins, das Jetzt und sie waren heil.

Es ist dieser seltene Blick hinter den Vorhang, der ihr hilft; dieses Einswerden mit dem, was auch noch hätte sein können, wenn. Dieses Verschmelzen mit dem Damals und dem Jetzt und dem Schmerz, der irgendwann aufhört schmerzhaft zu sein, weil er irgendwann Teil geworden ist von ihr, so sehr, dass nichts mehr vorsteht und bei einer zufälligen Berührung weh tun kann. Festhalten lassen sich solche geradezu heiligen Trostmomente nicht, doch ohne sie würde sie sinken.

Da hinein Sophokles’ Satz. Ein schöner Satz. Eigentlich. Doch auf einmal treibt sie ab. Treibt ohne Anker auf offener See. Ohne Ufer in Sicht und auch ohne Navigationshilfe.

Sie treibt im Nebel und weiß, dass ihr jetzt selbst ein Anker nichts helfen würde. Er würde bestenfalls ein Weiterabtreiben verhindern. Sie kann nur warten, bis der Nebel verschwinden würde, verschwunden wäre. (Bis jetzt war er noch jedes Mal verschwunden.)

Und als die Sonne wieder durchbricht, sieht sie Land. Einen Anker aber hat sie noch immer nicht. Sie lenkt ihr Schiff in den Hafen, in der Hoffnung dass da jemand sei, der ihr ein Seil zuwerfen würde. Und so ist es.

Immer war da bisher jemand, der den Seilwurf konnte. Ist dieses Seil vielleicht der Anker all jener Mütter, deren Kinder nicht mehr leben? Ist es so, dass Mütter wie sie – vielmehr noch als andere, da sie keinen Anker mehr haben –, immer darauf angewiesen sein werden, dass da jemand steht, der Seilwerfen kann?


*Quelle: Sophokles; Phädra, Fragment 612, eigentlich: Söhne sind die Anker im Leben einer Mutter/Sons are the anchors of a mother’s life.


Diese Geschichte ist ein Beitrag für die Blogaktion #Schattenklänge . Zu den Spielregeln geht es hier → lang.

richtig sterben?

Ich weiß, ein heikles Thema. Je nachdem, was wir erlebt haben, tut es weh, über Selbstbestimmung bis zuletzt, nachzudenken, doch ich kann grad nicht anders. In letzter Zeit habe ich mich so intensiv mit Tod und Sterben auseinandergesetzt, bei anderen darüber gelesen (bei Larapalara über das ewige Leben und warum es keine Option ist, zum Beispiel, oder bei Luisa Francia, die ihre betagte Mutter pflegt) sowie selbst darüber geschrieben.

Gerne teile ich hier ein paar meiner Gedanken.

#Triggerwarnung: Sterben, Tod, Sterbehilfe

+++

Den richtigen Tod. Ja, ich wünsche ihn mir. Das für mich richtige Sterben. Dass ich den Zeitpunkt spüre, wenn es für mich zu gehen heißt.

Wir alle haben wohl schon von jenen Natives gehört, Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern, die – wenn ihre Zeit gekommen ist – in die Wüste gehen und auf den Tod warten.

Wie könnte die Alternative, die Analogie dieses weisen Umgangs mit dem Tod in unserer Zeit, in unserer Gesellschaft aussehen? In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe zum Glück weniger tabuisiert als in vielen anderen Ländern. Die passive Sterbehilfe gehört hier sogar längst zum Pflegealltag. Und dennoch haftet dem Thema – und wie ich meine zu Unrecht – etwas unmoralisches an. Menschen sollen sich nicht zu Gott machen und über Leben und Tod bestimmen, sagen die Gegnerinnen und Gegner unter anderem. Und dass mit solchen Möglichkeiten Druck auf alte Menschen ausgeübt werde. Mag sein, aber, ist es denn nicht auch ein Eingreifen ins göttliche Drehbuch, wenn jemand nur dank eines fremden Herzens, fremden Blutes oder dank eines Antibiotikums weiterlebt, wo er doch natürlicherweise (= gottgewollt) gestorben wäre? Was wissen wir schon wirklich über diese letzten Dinge?

Ich stelle es mir schön vor, eines Tages Abschied von meinen mir lieben Menschen zu nehmen, weil ich bewusst entschieden habe, dass ich genug gelebt habe. Bevor alle Gebrechen, die das Altwerden mit sich bringt, meine Lebensfreude und Lebenslust niederdrücken können. Frieden machen mit dem Leben, Frieden machen mit dem Tod. Und dann den Cocktail trinken. So stelle ich ihn mir vor, meinen richtigen Tod.

Ich kenne Menschen, deren Meinung mir lieb und teuer ist, die dennoch mit meinen Gedanken sehr hadern. Und ja, ich verstehe ihre Argumente. Wird meine Vision vom “richtigen Tod für alle” legalisiert, werden viele alte Menschen, die (böse ausgedrückt) nur Kosten verursachen, aber keine Leistungen mehr erbringen, nur noch mit einem schlechten Gewissen leben. Ganz besonders dann, wenn sie – anders als ich – keine selbstbestimmte Sterbeabsicht haben. Es könnte sie möglicherweise moralischer Druck einholen, ihnen oder ihren Nächsten und womöglich werden sie glauben, keine Daseinsberechtigung mehr zu haben. Ja, mag sein. Dennoch sollten wir als Gesellschaft lernen, über diese Thematik freier zu sprechen. Und vor allem soll der Wert jeden einzelnen Lebens nie in Frage gestellt werden. Ich spreche von wahrer Selbstbestimmung. Dazu gehört dann eben, dass jene, die den Cocktail wollen, ihn bekommen und jene, die ihn nicht wollen, keinerlei Druck haben dürften.

Schwierig, ich weiß, und ich habe nicht wirklich eine Ahnung davon, wie das gemacht werden kann.

Aber ich wünsche mir nicht nur für mich den richtigen Tod. Ich wünsche ihn mir für alle. Dazu gehört, dass wir das Tabu, das dem Tod anhaftet, überdenken. Unsere Angst vor der anderen Seite, die wir nicht kennen, ist natürlich und natürlich zutiefst menschlich. Immerhin geht es um die Endgültigkeit des Endes unseres irdischen Lebens. Da wir, im Gegensatz zu früheren Generationen, nicht mehr von einer in der Gesellschaft verankerten Religion aufgefangen werden, wird alles noch unfassbarer. Endloser, abgründiger. Da wartet auf die meisten von uns kein Himmel.

Nun ja, an den biblischen Himmel habe ich schon lange zu glauben aufgehört, nicht aber an etwas anderes, etwas Ewiges, Verbindendes, Inneres. Ich weiß nicht, ob es ist. Ob da etwas kommt. Ich weiß nur, dass ich in mir eine Ahnung habe, die alle meine Versuche, an nichts mehr glauben zu wollen, überlebt hat. Eine Ahnung, die von Ewigkeit und Liebe spricht.

Der Himmel und die Hölle sind in uns. Glaube ich. Alles ist in uns. Wieso sollte dann, wenn doch in allem, das ist, in allem das lebt, nicht – wie es uns das Wasser mit seinem Kreislauf und die Natur mit ihren Jahreszeiten lehren – etwas sein, das immer weiter geht? Über die Form, über die Gestalt mache ich mir keine Gedanken. Nicht mehr. Weil ich die Antwort nie kennen werde. Und weil es gut ist, nicht alles zu wissen.

Zu meiner Ahnung gehört auch, dass dasjenige, was dieses Alles ausmacht, viel größer ist, als das was wir sehen, glauben, erkennen, verstehen. Einfach deshalb, weil uns dazu die Sinne, die Rezeptoren fehlen, die verstehen könnten. Wir haben in uns (noch) keine Programme, die diese Wunder lesen und entschlüsseln können.

Könnten wir sie lesen, könnten wir sie entschlüsseln, wären es keine Wunder mehr, wäre alles klar. Und genau darum, so vermute ich, haben wir diese Programme nicht mitbekommen, vom Leben, von Wem-auch-immer. Um das Staunen nicht zu verlernen und die Demut. Möglicherweise werden diese uns fehlenden Rezeptoren im Laufe der Evolution des Menschengeschlechtes nach und nach entstehen? Möglicherweise.

Und möglicherweise ist alles ganz anderes als es je eine Prophetin, ein Lehrer, eine Spinnerin, ein Visionär, eine Magierin vorausgesagt hat?

Möglicherweise ist sogar der Tod etwas ganz anderes als wir denken.

Möglicherweise besteht der einzige Schreck des Todes darin, dass die Menschen, die weiterleben, es ohne den verstorbenen Menschen tun müssen.
Mit dieser Lücke.
Mit dem großen Fehlen.
Erfüllt von Leere bis zum Rand.

Das ist für mich der Fluch des Todes.
Das ist für mich das schier Unerträgliche.
Das, was ich nicht begreifen will.
Das, was mich immer wieder leiden lässt: Dass ich den geliebten Menschen nicht mehr berühren kann.

Verlust.
Für immer verloren.
Eine Amputation, die weit über Körperliches hinausgeht.
Die Seele wird angestochen.
Die Seele verliert ihren Halt.
Die Seele sackt in sich zusammen.

Leere, die bodenlos ist.
Schmerz, für den es nie Worte geben wird.
Ein Jetzt, das nie aufhört.
Eine Ewigkeit voll Nie.

Ungeöffnet und geheim

Da ist noch so vieles nicht geschrieben, was geschrieben werden kann. Könnte. Vielleicht. Darüber beispielsweise, wie ich meine heimlichen Flaschen langsam öffne. Bisher noch ohne über sie zu schreiben. Weder für mich, noch öffentlich. Sichten will ich sie. Will ich? Einen Schluck davon trinken und mich an den Geschmack erinnern. Will ich? Dabei begreifen, wissen, dass das ich bin. Auch ich. Und dass meine heimlichen Flaschen weder besser noch schlechter als jene anderer sind. Hier versagt Wertung. Sie ist wertlos, wo es darum geht, zu sein. Denn Sein an sich schließt Wertung aus. Ist neutrales Land ohne Grenzen.

Heimliche Flaschen also. Meine riechen nach Gefühlen, ja, und nach Gedanken. Nach Geheimnissen riechen sie ganz besonders. nach ungeteilten. Alten. Neuen.

Wie ich damals über mich dachte, steht auf der Etikette dieser Flasche hier. Und wie ich über mich denke, heute, auf der Etikette jener daneben. Und wie ich mich fühle, steht auf dieser. So banal. So banal!

Auf weiteren Flaschen, kleinen, großen, schmalhalsigen, ausladenden Flaschen kleben Etiketten mit nur einem einzigen Wort darauf. Körpergefühl. Selbstwertgefühl. Selbstbewusstsein. Selbstliebe. Ablehnung. Selbsthass. Wo bin ich den hier gelandet? Ich trete zur Seite und gehe zum nächsten Regal. Hier stehen weitere gläserne Gefäße. Manche sind verstaubt. Manche ganz neu. Auf einer steht Was ich auf dem WC denke. Die daneben trägt den Titel Was ich vor dem Einschlafen denke. Wieder andere sind angeschrieben mit Was ich über andere Menschen denke und Was ich beim Sex fühle.

Nun ja, die Etiketten sind ja erst der Anfang. Der Inhalt ist es, der mich interessiert. Der Inhalt meiner Flaschen. Knausgård hat mich angefixt. In STERBEN, dem ersten Band seiner Autobiografie, schreibt er so akribisch, brutal ehrlich, banal, bis zur Langweiligkeit exakt, was er damals gedacht und gefühlt hat, als er zum Beispiel die versiffte Alkoholikerwohnung seines toten Vaters entrümpelt hatte, dass es beim Lesen schmerzt. Und doch: In dieser Banalität liegt ein Zauber, dem ich mich nicht entziehen kann. Ein Zauber, eine Genialität, und ja auch eine Art Sehnsucht liegt in Knausgårds Worten. Eine Sehnsucht danach, genauso mutig wie er sich, mir mit ganz viel Liebe und Geduld in die Augen schauen zu können. Hinzuschauen. Ja zu sagen, ja zu allem, was ich sehe, zu allem, was ich bin.

Was ich heute fühle, denke, wahrnehme, mag und ablehne und das, was ich damals fühlte, dachte, wahrnahm, mochte und ablehnte, ist so banal gar nicht. Oder jedenfalls nicht banaler als das, was alle anderen fühlen, denken, wahrnehmen, mögen und ablehnen. All das zusammen bestimmt nämlich heute meine Handlungen. Es bestimmt, wie ich auf Menschen zugehe, wie ich mit mir und andern umgehe. Ob ich mir und andern gut und Gutes tue.

Der Inhalt jeder meiner Flaschen wurde im Laufe der Zeit unzählige Male ergänzt. So manche Korrektur habe ich vorgenommen. Befreiung da und dort erlebt. Mehr Struktur ist geworden. Mehr Selbstliebe und Selbstakzeptanz vor allem.

Immer ein Stück näher bin ich zu meiner Wahrheit hin unterwegs, zum dem, was für mich wirklich zählt. Was wirklich wirkt in meinem Leben. Stille zum Beispiel. Und damit rücke ich immer ein bisschen weiter weg von Effekt und Schein, von Lärm und So-tun-als-ob.

Oh, wie schön still wäre es auf der Welt, würden wir nur noch über jene Dinge sprechen und schreiben, die wirklich zählen und die jetzt für mich wahr sind.

Aber was wäre denn mit meinen heimlichen Flaschen von früher? Würden sie mir denn für immer verschlossen bleiben? Und wäre das schlimm?

Ja, ich habe, wie alle andern, meine ganz persönliche Art zu denken, zu fühlen, wahrzunehmen, zu mögen und abzulehnen, doch im Grunde fühle, denke und mag ich nicht sehr anders wie alle andern. Und deshalb ist es wohl tatsächlich egal, was ich mit meinen Flaschen anstelle. Egal, ob ich meine Flaschen öffne, teile oder für mich behalte. Wenn nur ich selbst mir gegenüber nichts vormache. Wenn nur ich selbst mir gegenüber bereit bin, hinzuschauen.

aus: Karl Ove Knausgård: Sterben

Heimliche Flaschen

Ja, mich hat die Art und Weise auch gepackt, wie Karl Ove Knausgård schreibt. Und was und worüber er schreibt. Wie er hinschaut. Wie er Worte findet für Phänomene, die ich auch kenne. Ja, auch ich habe solche Gedanken in mir. So viel Ungesagtes, Ungeschriebenes, Unformatiertes, auch Hässliches, Verrücktes, Undenkbares, Unsägliches … Dinge womöglich, von denen ich noch nicht einmal weiß.

Hellsicht 1 Karl Ove Knausgård in STERBEN
Hellsicht 1
Karl Ove Knausgård in STERBEN
Hellsicht 2 Karl Ove Knausgård in STERBEN
Hellsicht 2
Karl Ove Knausgård in STERBEN

Zuweilen überlege ich deshalb, ob ich nicht ein neues anonymes Blog öffnen sollte, wo ich mit der gleichen mutigen Kompromisslosigkeit wie Knausgård über mein Leben schreiben kann. Schonungsloser und offener noch als hier.

Obwohl … im Grunde brauche ich dazu kein Publikum. Nur den Raum, diese Texte freizulassen. Manchmal ahne ich, dass da – wie der Korken in einer Schampus-Flasche – nur noch ganz wenig fehlt.  Dass ich den Deckel einfach mal wegmachen sollte und ausprobieren, was da, in dieser heimlichen Flasche, alles drin steckt.

Ich vermute, wir alle haben solche heimlichen Flaschen. Knausgård, über den Ulli und die Mützenfalterin schon oft geschrieben haben, schreibt mir in seiner Heimliche Flaschen-Sprache mitten aus dem Herzen. Und was dabei herauskommt, ist gar nicht so schlimm, so schrecklich, so obszön, wie man vielleicht glauben würde, es ist einfach echtes Leben. Ungeschönt. Ach, wie viele meiner heimlichen Gedanken finde ich – in anderen Worten – auch bei Knausgård!

Wie es bei mir wäre, bei andern, weiß ich natürlich nicht. Aber ich ahne, dass wir uns die eigene Dunkelheit, solange sie verborgen ist, viel dunkler denken als sie ist. Wenn wir ihr die Türen öffnen, unsere Flasche entkorken, kommen möglicherweise unerwartete Schätze zum Vorschein.

Wir meinen ja gerne, so was-auch-immer wie man selbst, sei bestimmt sonst niemand. Doch wir sind es alle. Das ist es übrigens, was mich an Twitter fasziniert und heilsam berührt: ich bin nicht verrückter als der ganze Rest. *lach*

_________________________________

Wikipedia über Karl Ove Knausgård

#Jesuisunenfantpakistanais

Lara bringt es für mich, für uns, auf den Punkt.

Geburt und Tod sind zwei universelle Tatsachen. Alle Menschen werden geboren. Alle Menschen sterben. Dies sind keine wertvollen Aussagen. Es sind Tautologien. Sie sind immer wahr. Bedeutend werden solche Ereignisse erst, wenn sie historisch eingereiht werden. Die Geschichte zeigt aber, dass nicht jeder Tod von historischem Wert ist. Niemand interessiert sich für die italienische Mamma, […]

https://larapalara.wordpress.com/2015/01/20/jesuisunenfantpakistanais/

Fasziniert

Ja, das Wort passt. Auch wenn es ein bisschen geschmacklos scheinen mag angesichts des Themas. Aber eigentlich. Warum nicht. Weil – es gehört dazu. Wie geboren zu werden. Nur dass wir es nicht werden, sondern tun. Oder eben nicht mehr tun?

Und ich gebe Karl Ove Knausgård so was von recht, wenn er in STERBEN, dem ersten Band seiner sechsbändigen Autobiografie, darüber schreibt, dass er es nicht versteht. Ich nämlich auch nicht. Ehrlich nicht. Nicht verstehen zumindest auf meiner ganz persönlichen Lebenswahrnehmung. Auf der gesellschaftlich-konventionnellen verstehe ich es natürlich irgendwie schon. So jedenfalls, wie ich alle andern gesellschaftlichen Codes und sozialen Gewohnheiten verstehe. Verstehen also eher gemeint im Sinne einer Verinnerlichung. Man denkt nicht darüber nach. Man macht es einfach so. Weil man es immer so gemacht hat.

Wenn jemand stirbt, deckt man ihn zu. Man schließt ihm die Augen. Man versteckt die Offensichtlichkeiten jeglicher Vergänglichkeit möglichst schnell. Möglichst unter Tüchern, in Kühlräumen, unter der Erde. Warum auch immer, ist uns die Vergänglichkeit im echten Leben beinahe unerträglich. In Büchern, im Fernsehen geht es. Da ist es ja nur eine Geschichte.

Schon als Kind habe ich viel darüber nachgedacht, warum das wohl so ist. Ich hatte immer ein ziemlich unverkrampftes Verhältnis zum Tod. So habe ich oft tote Tiere gefunden und sie genau betrachtet – mit einem leisen Grusel, zugegeben – bevor ich sie im Wald oder im Garten beerdigt habe. Mit einer Faszination, der aber, wenn ich mich heute an damals erinnere, nichts Morbides anhaftete. Eher eine Art Respekt vor den Geheimnissen des Lebens. Und ein tiefes Erkennen und Begreifen jeglicher Vergänglichkeit. Ja, fasziniert hat es mich wohl schon immer, dass alles eines Tages aufhört zu sein. Jedenfalls so, in dieser materiellen Form. Und natürlich habe ich mir auch die Fragen nach dem Danach immer wieder neu gestellt. Antworten gibt es, so meine Meinung, letztlich keine abschließenden. Hoffnungen, ja. Und viele übermittelte Erkenntnisse. Persönliche Glaubenssätze. Ja, das gibt es alles.

Darüber, darunter, dahinter immer meine Frage: Ja, aber wenn es nun ganz anders ist? Noch anders anders als alles andere, was je gedacht und erkannt wurde?

1000todecoverUnd darum lasse ich diese Fragen. Ich versuche, das Leben hier – ob nun das einzige oder eins in einer Abfolge vieler – so zu leben, dass ich eines Tages sagen kann well done!, bevor ich die Augen für immer schließe.

Vorerst öffne ich sie aber weit, denn ich will noch viele Texte lesen. Tausend Texte über den Tod zum Beispiel.

Tausend Tode schreiben, das eBook aus dem Frohmann Verlag, ist heute in einer zweiten Version erschienen. Nun umfasst es bereits 247 Texte. Noch weitere 753 werden folgen, so die Hoffnung der Verlegerin. Auch aus andere Sprachen und Traditionen. Texte, die sich auf vielerlei Wegen dem Mysterium Tod nähern. In ungefähr einer Woche gibts das neue Exposé, die Spielregeln für die Teilnahme am dritten Teil des Buches.

Christiane Frohmann folgen kann man auf Twitter (*klick*) oder auf ihrer Webseite (*klick*). Und ja, richtig. Bereits früher habe ich über dieses Buchprojekt, an dem ich beteiligt bin, berichtet. Nämlich hier (*klick).

Auch eure Erfahrungen mit dem Tod wollen möglicherweise aufgeschrieben werden. Und in diesem eBook Eingang finden. Die dritte Version erscheint in etwa einem Monat und die letzte, die vierte, wird zur Buchmesse in Leipzig erscheinen – idealerweise mit 1000 Texten. Das Buch kann man ab sofort bei minimore kaufen. Ab Montag auch in andere eBook-Shops. Einmal gekauft, wird das Buchupdate automatisch nachgeliefert. Für nur 4.99 € und einen guten Zweck.

Und wenn ich schon am Werben bin, dann aber richtig. Oder nein, eigentlich nicht werben, verschenken will ich. Denn wieder habe ich aus meinen letztjährigen Blogtexten ein eBook gemacht.

Gratis zu haben. Hier (*klick*).

Banalitäten?

Jeder Tag ist anders. In etwa gleichen sie sich allerdings in der Zeit des Aufstehens und des Zubettgehens. Und dass ich irgendwann im Laufe des Vormittags dusche und davor eine Weile Yoga übe.

Banalitäten.

Mal gehe ich spazieren zwischen der Arbeit, mal gehe ich einkaufen. Mal spüle ich Geschirr. Mal besuche ich jemanden oder habe Besuch. Mal arbeite ich für meine KundInnen. Mal gebe ich mir frei. Mal denke ich nach. Mal schreibe ich an meinen eigenen Projekten. Und es gibt Tage, wo ich wie Glas bin, bedacht darauf, mich nirgends zu stoßen. An anderen Tagen stoße ich mich ständig. Und die Reibung gibt mir heiß. Heute friere ich ständig ein wenig.

Banalitäten.

Gestern war ich stark. Heute juckt die Nase und schmerzt. Die Augen auch. Ein brennender Schmerz. Ein Druck. Der Körper als Seismograph. Immer ist da etwas. Immer wandelt sich etwas. Alles laufend, aber nicht alles gleichzeitig.

Banalitäten.

Veränderungen
Veränderungen

Am Dienstag war Freundin U. hier. Wir haben an ihrer neuen Webseite gearbeitet. Ich freue mich über solche Treffen. Über die Leidenschaft der gemeinsamen Bewegung in eine ähnliche, in eine seelenverwandte Richtung. Obwohl … Richtung? Wo will ich hin – und gehe ich?

Banalitäten.

Baumringe1
Meine Baumringe

Ist nicht Leben letztendlich eine Spirale? Das Mäandern durch das Leben? Natürlich bewege ich mich von A nach B. Von innen nach außen zum Beispiel. Aber selten nehme ich Schnellstraßen für mein Vorankommen. Ich folge den Serpentinen, die das Gebirge erträglich machen. Lege dabei meine eigenen Spuren, Baumringen gleich. Mein Lebensweg in diesem Dasein – angefangen bei meiner Geburt bis hin zu meinem Tod – fängt, um beim Baumring-Bild zu bleiben, in der Mitte an. Nach außen gehend folge ich dem, was in mir angelegt ist. Wie der Apfelbaum, der eines Tages zum ersten Mal blüht und sich auf den Besuch der Bienen freut. Ohne es zu wissen. Den Weg gehen. Meinen Weg. Kann ich nicht anders, als ihn so und nicht anders zu gehen? Ich glaube, ich kann wählen. Zwar nicht, ob ich doch lieber ein Birn- statt ein Apfelbaum wäre, wenn ich bereits in der Erde stecke, aber ich kann wählen, ob ich meine Krone der Sonne zuwenden will. Und sonst ein paar Dinge.

Banalitäten.

Mag sein, dass die Apfelbaum-Metapher auf beiden Ästen hinkt und sich gar nicht übertragen lässt auf uns Menschen. Mag sein.

Heute bin ich immer öfter dankbar über die von mir gelegten Spuren. Vielleicht bin ich auch bereits auf dem Rückweg, der Brotkrümelspur folgend.

Banalitäten.

Egal.

Ich bin auf meinem Weg. Und du auf deinem. Wir können das. Er auch, Herr Knausgård meine ich. Ich habe am Dienstagabend das erste Buch von Karl Ove Knausgård zu lesen angefangen. STERBEN. Vielleicht fängt damit ja wirklich alles an. Ich stoße auf Bilder und Gedanken, die auf eine Art in mir resonieren wie das schon lange kein Buch mehr geschafft hat. Nicht so. Nicht so unmittelbar.

Knausgard1
Ausschnitt aus dem Buch STERBEN von Karl Ove Knausgård

Bei Mützenfalterin und im blauen Café hatte ich schon über Knausgårds sechsbändige Autobiografie gelesen. Und eine ehemalige Arbeitskollegin hat ebenfalls davon geschwärmt. Nun habe ich den Autoren mal gesuchmaschinet und bin auf spannende Gedanken gestoßen.

Der Übersetzer Paul Berf zum Beispiel sagt über Karl Ove Knausgård:

In diesem Fall ist es so gewesen, dass er einfach den Gedanken an Fiktion aufgeben musste. Er schreibt sogar in einem Band, dass es ihn regelrecht geekelt hat, Sätze zu schreiben, die fiktiv sind, die nach einer Geschichte klingen. In dem Moment, wo er anfängt, über sich selbst, über seine Familie, vor allem über den Vater zu schreiben, ist dies für ihn wie ein Befreiungsprozess. Gleichzeitig aber auch der Versuch, zu etwas vorzudringen, das über sein Privates hinausgeht.

Quelle: www.srf.ch/kultur

Das kenne ich gut. Diese Sehnsucht nach authentischem Ausdruck. Auch mir tut fiktionales Schreiben manchmal weh. Wenn es nicht da hingehört, wo ich es hinschreiben will. Im Blog zum Beispiel. Und ich ahne, dass alle, die über ihre Leben bloggen, mit Knausgårds Motiven – ich nenne es mal Befreiungsprozess als Nebeneffekt – mitschwingen. Auch wir ringen und kämpfen mit unseren Monstern, mit der Sprache, mit den Ansprüchen an uns, authentisch zu sein und ebenso zu schreiben.

Wie er, schreibe auch ich in der Hoffnung, dass meine persönlichen Erfahrungen sozusagen den Modus von Allgemeingültigkeit betreten können. Und da und dort resonieren dürfen.

Und dass ich, um mit Knausgård zu sprechen, in mir drin – trotz fortschreitendem Alter – immer wieder neue, noch unetablierte Systeme finde, die noch nicht festgelegte Wege betreten und noch auf Widerstand stoßen können.

________________________________________

Mehr darüber, warum es diesen Knausgård-Moment gibt: www.srf.ch/sendungen