Von Menschen und Meeren | #kursnord

Ihr seid gut angezogen, sagt Gerard aus Holland in seinem nicht ganz akzentfreien aber ansonsten tadellosen Deutsch. Ein Mitcamper, den Irgendlink am Vorabend unter der Dusche kennengelernt hat. Er hat sich um die Mittagszeit zu uns gesellt. Er habe lange suchen müssen, hatte er gesagt, denn der Zeltplatz ist weitläufig und dünnbesiedelt – ein Abbild Schwedens. G.s Haus auf vier Rädern, einen selbst umgebauten Renaultbus, der uns ans Gefährt unserer Unserwegs-Freundespaares Beat und Annette erinnert, steht genau am anderen Ende des Campingplatzes. Weitgereist ist er in den letzten achtzehn Jahren, im Winter im Süden, im Sommer in Norden, einem Zugvogel gleich, hat das Heilen im Blut und im Herz und ist ausgebildeter Geschichtenerzähler. Ein begnadeter Rhetoriker vor dem Herrn. Und vor der Frau. Unkonventionell, atheistisch und zugleich spirituell, und quer mittendurch, und alles und nichts. Ein Sehender vielleicht. Er erzählt uns, dass in jeder Geschichte mindestens drei Reize stecken sollten, damit die Leute nicht aufhören zuzuhören: Etwas für die Fühlenden, etwas für die, die gerne essen und etwas für die, die sich über Kleidung und Äußerlichkeiten Gedanken machen.

Oh, sage ich und lache, da habe ich ja in meinem heutigen Blogartikel mit meinen Trangia-Menüs voll ins Schwarze getroffen.

Von Findhorn erzählt er, von England und dessen Aussprache, die er mit zusammengebissenen Zähnen demonstriert. Auf einmal sind wir bei Stöckelschuhen und Krawatten und schon erwäge ich, meinen nächsten Artikel mit diesen Wörtern zu übertiteln. Doch ich verwerfe ihn, will ich doch hier auf meinem Blog nicht wegen solcher Stichworte gefunden werden will. Das fehlte mir noch. Wir sind uns nämlich einig: Es gibt im Grunde nichts Sinnloseres als Stöckelschuhe und Krawatten. Machtsignale. Games. Statussymbole, die einzig der Imagepflege und -demonstration dienen: Wozu? Dieses Fassadegetue ist ihm wie uns zutiefst zuwider. Und dann sagt er es: Ihr seid gut angezogen. Was ihr da tragt, das ist, was ihr seid. Er rühmt die Tasche meiner Faserpelzjacke auf der linken Schulter. Meine Wanderhose. Viele Taschen, das ist gut. Das Gespräch mäandert, schließlich Politik, Internet und immer wieder die Geschichten, die wir einander und der Welt erzählen. Er seine, wir unsere. Alle auf ihre Weise. Fiktion ist, sage ich, oft wirklicher als eine sogenannt wahre Geschichte, sie ist ein Konzentrat, ein Extrakt, verdichtet Wahrheiten.

Als wir uns verabschieden, geht mir durch den Kopf, dass es schon faszinierend ist, wie man immer wieder auf Menschen trifft, wo immer man auch hinfährt, die irgendwie ähnlich ticken.

Wir hängen rum, gucken Karten, entscheiden, morgen (also heute, da ich diese Zeilen schreibe) doch noch ein bisschen weiter nördlich zu fahren. Irgendlink will zu ebenjenem Berg, zu ebenjener Schlucht. Ich necke ihn und sage: Denk an Lövö. Denk an das Bild vom gespaltenen Fels, deswegen wir nach Lövö geradelt sind. Gefunden haben wir ihn natürlich nicht.

Aber dafür anderes mindestens ebenso Schönes!, sagt er. Wo er recht hat …

So funktioniert es doch: Es gibt ein paar schöne Punkte, die man gesehen, sinnlich erfahren haben will. Die werden in uns drin dann zu großen, mächtigen Zielen, derentwillen man sich auf den Weg macht. Man lädt sie mit seinen Erwartungen auf, man füllt sie künstlich mit seinen Träumen, man bläht und bläst sie auf.

Später, als wir einen kleinen Spaziergang machen, spüre ich die alten Knochen. Na ja, die zwanzig Wanderkilometer so aus dem Stand heraus waren ja auch nicht ohne. Unser kleiner Spaziergang wächst sich aus. Militärsperrgebiet. Aber da müssen wir durch. Ich gucke diesmal nicht mehr auf Papierkarten. Nie mehr ohne meine GPS-App, unke ich. Es werden dann doch etwa sieben oder acht Kilometer und das mittlere Drittel hätten wir uns gerne geschenkt. Schotterpiste. Nicht wirklich schön. Außer vielleicht der Wald ringsum. Dafür war das erste Stück exorbitant. Felsiger Strand, eine Freizeitanlage in musealer Umgebung – alte Wirtschafts- und Wohngebäude direkt am Meer – gegenüber die Inseln, Meeresrauschen. An Bildern habe ich natürlich nur die Strecke am Meer mitgenommen, innendrin ebenso wie auf dem Handy. Natürlich. Wir alle blenden aus, bilden ab, was wir wollen. Ausschnitte. Denn auf jedes schöne Wanderstück kommt ein mindestens gleichlanges nicht so schönes Stück Weg. So muss es aber wohl auch, denn so viel Schönheit wie hier wäre ja auch kaum zu ertragen. Und überhaupt: Es ist ja immer beides, alles.

Im Militärsperrgebiet orakelt Irgendlink von Überwachung und traut sich kaum, Bilder zu machen. Sonst haben sie uns., sagt er. Seine Paranoia, auch wenn er sie überzeichnet, springt ein bisschen auf mich über. Zumal wir Überwachung via Zahlungssysteme, Überwachung unseres Konsumverhaltens, in diesem Land ja schon hautnah erlebt haben.

Das letzte Stück zum Campingplatz wollen wir abkürzen, verirren uns aber ein bisschen, aber schließlich landen wir dann doch wieder vor unserm Zelt.

Da es heute so schön warm ist, noch immer warm auch um kurz vor sieben, kochen wir ausgiebig. Auf beiden Trangias hantiert Irgendlink so geschickt mit den drei Töpfen, dass ich ihn Dirigent und Jongleur nenne. Schön sieht das aus, denke ich beim Gemüseschnippeln, Salatzerpflücken und Saucebauen.

Nach dem Zahlen der Campingplatzrechnung besucht Irgendlink unseren neuen Freund im Wohnmobil, während ich es vorziehe, bei laufendem Sonnenuntergang, der hierzulande gerne ein paar Stunden dauert, in meiner schwedischen Krimianthologie weiterzulesen.

Die Sonne hat sich tagsüber ein paar Mal geziert, sich verhängt, und auch jetzt zeigt sie sich leicht bedeckt. Aber gerade das macht den Sonnenuntergang so malerisch. Exorbitant. Unten dunkle, blaugraue Wolkenschlieren bemalen den Abendhimmel und sprechen von einem weiteren Sommertag.

Und das ist er: halb zehn und schon nur T-Shirts an. Und Sonnenmilch.

Collage aus Bildern des Tages, die im Text erwähnt wurden. Mit dabei ein Baum aus vier in sich verschlungenen Stämmen.