Wenn ich unter #wirsindmehr innerhalb meines Blogs alles einschließe, was für eine widerständige Haltung gegen Rechts, gegen Rassismus und gegen Krieg steht, gehört das Buch Wie kommt der Krieg ins Kind von Susanne Fritz unbedingt hierher, bietet es doch eine Grundlage für den Dialog über Krieg aus rassistischen Gründen und über dessen Folgen und Auswirkungen auf die folgenden Generationen.
Das Buch fängt mit einem Fingerabdruck der fünfzehnjährigen Ingrid an und hört mit einem Passbild der neunjährigen Ingrid auf. Dieses junge Mädchen, das später die Mutter der Autorin werden wird, hat 1945 im polnischen zentralen Arbeitslager Potulice ihre Fingerabdrücke hinterlassen und danach drei Jahre ihres jungen Lebens als Gefangene gearbeitet. Was sie dabei alles erlebt hat, war prägend. Für sie selbst ebenso wie für ihre Verwandten und Nachkommen. Manches blieb für immer ungesagt, während anderes codiert in Worte und in Briefe verpackt wurde.
Gefunden hat die Autorin die Fingerabdrücke und das Bild ihrer Mutter auf ihrer Spurensuche in polnischen Archiven. Die Fotografie war dem Antrag zur Aufnahme auf die Deutschen Volksliste angeheftet, den die Familie im Jahr 1939 gestellt hatte. Als Deutschstämmige waren Ingrid und ihre Familie in Swarzędz/Polen zwar eine Minderheit, doch mit der östlichen Ausdehnung der deutschen Grenzen, war es für sie vorteilhafter, Reichsbürger und Reichsbürgerinnen zu werden und die arische Abstammung der ganzen Familie auf der Deutschen Volksliste beglaubigt zu wissen.
Einer zentralen These der Epigenetik zufolge schreiben sich traumatische Erfahrungen ins menschliche Genmaterial ein und übertragen sich so – möglicherweise – auf die nächste Generation. In Susanne Fritz’ Buch begegnen wir den Übertragungen von Traumata auf die nachfolgenden Generationen hautnah. Obdas über die Gene oder über das Familiengedächtnis geschieht, bleibt dahingestellt; Fakt aber ist, dass die traumatischen Erlebnisse der jungen Ingrid im Internierungslager tiefe Spuren auch im Leben ihrer Kinder hinterlassen haben. Einem Fingerabdruck nicht unähnlich.
Jener erwähnte Fingerabdruck, gefunden auf einem über siebzig Jahre alten Dokument, war es schließlich, der die Spurensuche der Autorin angestoßen hatte. Im April 1945 war die vierzehnjährige Ingrid, die mit ihrer Familie auf der Flucht vor der Roten Armee war, von ihrer Familie getrennt und von der sowjetischen Geheimpolizei festgenommen worden. Zum Verhängnis geworden waren ihr zum einen ihre deutschen Wurzeln, zum anderen eben, dass sie sich mit ihrer Familie als neunjährige polnische Staatsbürgerin auf die Deutsche Volksliste hatte aufnehmen lassen. Damit war sie nach dem Krieg für die Polen eine Volksverräterin. Ihr Vater Georg, NSDAP-Mitglied und phasenweise Schutzpolizist, war kurz vor ihrer Gefangennahme auf dem Feld gefallen, die Mutter Elisabeth und die beiden Geschwister unterwegs auf der Flucht nach Deutschland. Nun wurde das halbwüchsige Mädchen also für die Gesinnung ihrer Eltern gebüßt. Vom Arbeitslager Potulice aus leistete sie drei Jahre Zwangsarbeit auf einem polnischen Staatsgut, bevor sie 1948 endlich entlassen wurde und ihre Familie wiedersehen durfte. Ihre Mutter Elisabeth, die Großmutter der Autorin, war schon vor der Flucht pflegebedürfig gewesen und die beiden Töchter und der Sohn waren nun, wieder vereint, auf vielerlei Hilfen angewiesen, um in der neuen fremden Heimat Fuß fassen zu können.
In ihrem sehr persönlichen Buch erzählt Susanne Fritz nicht nur vom Schicksal einer jungen Frau, ihrer späteren Mutter, und der eigenen Familie, das Buch spricht auch von einer intensiven Spurensuche in der Geschichtsschreibung zweier Nationen. Immer wieder zitiert sie historische Dokumente und beleuchtet damit nicht nur die eigene Familiengeschichte, sondern hinterfragt das deutsch-polnische Verhältnis über zwei Weltkriege hinweg. Ihr Buch ist sowohl eine biografische Erzählung als auch ein Geschichtsbuch – was es meiner Meinung nach zu einer geeigneten Lektüre für OberstufenschülerInnen prädestiniert.
Susanne Fritz gelingt es, ohne Schuldzuweisungen über die Geschicke ihrer Mutter und der ganzen Familie zu schreiben. Ihre eigene Betroffenheit und ihr immerwährendes Reflektieren geben ihrer Erzählung Tiefe. Fritz sucht nach Menschlichkeit und tastet sich gratwandernd an unterschiedliche Formen des Verrats heran. Ich spüre immer wieder ihr Ringen, und ihre Suche nach der eigenen Rolle und Identität inmitten ihres Erbes. Sie lotet als Beobachterin und Involvierte mit ihrem Talent für den sprachlichen Ausdruck aus, was an Ungesagtem und Unaussprechlichem zwischen den Zeilen alter Briefe und welche Geschichten hinter einer Fotografie stecken könnten. Dazu wechselt sie immer wieder den Blickwinkel und schlägt so Brücken zwischen damals und heute.
Streckenweise liest sich Wie kommt der Krieg ins Kind wie ein Dialog, den Susanne Fritz mit ihrer eigenen Vergangenheit führt. Es ist für mich auch ein Ringen um Verständnis für ihre Großeltern und ihre Mutter. Als wolle sie ergründen, wie sich all die Geschehnisse auf ihr eigenes Leben auswirken – und allenfalls auch, wie sich damit leben lässt ohne die geerbten Traumata weiterzureichen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit dem Schweigegebot von damals? Was nicht ausgesprochen wird, hat keine Macht, dachte man damals. Und konzentrierte sich auf Vergessen und Verdrängen. Wird aber Unausgesprochenes, Unaussprechliches und Grausames nicht gerade weil es nie benannt wurde, übermächtig?
»Wo liegt die Trennlinie zwischen dem Erzählbaren und dem Unsagbaren, der unterhaltsamen, makaber-witzigen Anekdote und dem Erzähltabu, dessen Nichteinhaltung Panik zur Folge hatte?« Ja, auch die Autorin erlebt es: »Ich will etwas erzählen und darf es nicht.« Ihrer Mutter zuliebe hat sie lange geschwiegen.
Ich bin froh, dass sie nun – nach deren Tod – doch darüber geschrieben hat. Ihr Buch stimmt nachdenklich. Und versöhnlich. Trotz allem Schrecken.
Susanne Fritz
Wie kommt der Krieg ins Kind
Wallstein Verlag
€ 20,00 (D) | € 20,60 (A)
268 S., geb., Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8353-3244-7 (2018)
eBook: 978-3-8353-4244-6 (2018)