Ausgelesen #26 | Into madness von A. K. Benjamin

Buchcover. Im Hintergrund laufen von oben nach unten abwechselnd gelbe und blaue Wellenlinien. Darauf zuoberst in weißen Großbuchstaben der Autorname, darunter in blauen Großbuchstaben der Buchtitel, kleiner der Untertitel, unten rechts der Verlag. Von unten links geht eine blaue Figur zum oberen Bildrand. Um sie richtig zu sehen, müsste man das Bild nach links drehen.
Buchcover. Im Hintergrund laufen von oben nach unten abwechselnd gelbe und blaue Wellenlinien. Darauf zuoberst in weißen Großbuchstaben der Autorname, darunter in blauen Großbuchstaben der Buchtitel, kleiner der Untertitel, unten rechts der Verlag. Von unten links geht eine blaue Figur zum oberen Bildrand. Um sie richtig zu sehen, müsste man das Bild nach links drehen.

Ich kann dieses Buch nicht besprechen ohne vor ihm zu warnen. Weil es ziemlich verrückt ist. Und weil es verrückt. Weil es Sichtweisen verrückt. Weil es auf den Kopf stellt, was wir für unverrücktbar hielten. Weil es Geschichten erzählt, die vom Verrücktwerden und vom Verrücktsein handeln.

Ich mag das Buch, weil es nicht nur verrückt, sondern auch zurechtrückt. Es räumt zum Beispiel mit dem Märchen des omnipräsenten Arztes und der allwissenden Ärztin auf.

Der englische Originaltitel lautet Let me not be mad – A story of anravelling minds (Lass mich nicht verrückt sein – Eine Geschichte über das Entwirren des Verstandes) und wie so oft gefällt mir dieser besser als die für die deutsche Ausgabe gewählte Version.

Was sich am Anfang wie ein persönlich gefärbtes Sachbuch mit spannenden Fallanalysen liest, wird zunehmend zu einer Spurensuche, die, je länger wir dem Neuropsychologen Alasdair Benjamin, Ally, beim Leben zuschauen, desto verrückter wird. Irgendwann sind wir von Lesenden zu Mitfühlenden geworden, Teil seiner Gedanken, Teil seiner Suche, Teil seines eigenen Leids.

Er hatte uns gewarnt, ziemlich am Anfang des Buches. Er hatte erklärt, dass die Fallbeispiele aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verfremdet worden seien. Was einleuchtet. Erst kurz vor dem Finale des Buches wird klar, was Benjamin mit seiner Information meinte, dass er auch über seine eigenen Erfahrungen schreibe.

Eben noch hatte uns der auf Diagnostik und akute Rehabilitation spezialisierte Arzt einige klinische Begegnungen präsentiert. Wir hatten eine verwirrte ältere Frau namens Lucy kennengelernt, die Alzheimer hat – oder nicht. Und da war dieser merkwürdige Junge gewesen, dessen Aggressionen und Autoaggressionen die Eltern hatten den Arzt aufsuchen lassen und dann war auch noch jener fünfzigjährige Geschäftsmann, dessen schwere Hirnverletzung ihn zu einem exaltierten unberechenbaren Menschen gemacht hatte. Benjamin entgeht in seinem Beratungsraum in einem verschuldeten Londoner Klinikum nichts. Auch nicht die Schweißflecken, die sich über Lucys Kleid bewegen und einer animierten Landkarte auseinander driftender Kontinente ähneln. Benjamins Blick ist scharf und er findet Worte, um den Dingen Gestalt zu verleihen, für die weniger Sensiblen, weniger für solcherlei Reize Empfänglichen der Blick fehlt. Er trägt nicht nur das Herz, er trägt auch das Hirn auf der Zunge und es gelingt ihm problemlos, all die Widersprüche des wissenschaftlichen Betriebes mit all seinen Grenzen in der Diagnose und der immer vorhandenen Möglichkeit von Fehldiagnosen nebeneinander zu stellen. Dass Weißkittel auch nur Menschen sind, dass auch sie gute und schlechte Tage haben, wird klar, als bei Lucy, die nach der Diagnose Demenz alle Anzeichen einer Demenz entwickelt, obwohl sie klinisch gesehen gesund ist und die Diagnose de facto falsch war. Benjamin zeigt, dass das menschliche Bewusstsein ein beschränkter Ort ist, an dem selten alles so ist wie es anfangs aussah. Und sich eben auch Ärztinnen und Ärzte irren können.

Nach und nach verändert sich das Erzähltempo – zuerst schier unmerklich –, und schon bald sind die Sprünge auf der Zeitachse der Erzählung nicht mehr immer ganz einfach nachzuvollziehen. Auch die Andeutungen mehren sich, dass Benjamin selbst ein Seiltänzer und Gratwanderer ist, ähnlich seinen Patientinnen und Patienten. Sein Blick hinter den Vorhang des alltäglichen Horrors neurodegenerativer Erkrankungen gleicht mit viel gutem Willen einer schwarzen Komödie und oft weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Unberührt sein geht nicht. Längst bin ich mitten drin. Teil der Geschichten. Intelligenz, Weisheit und Wahnsinn wohnten schon immer nahe beieinander.

Nach und nach offenbart sich, wie es um Benjamin selbst steht. Die Beziehung zur Mutter seiner beiden Töchter ist zerbrochen, neue Liebschaften scheitern an seiner analytischen Vorgehensweise und spätestens als er für den britischen Ironman trainiert und diesen dann auch tatsächlich bestreitet, wird klar, dass auch Benjamin selbst psychisch krank ist. Dass er es wohl schon immer war. Während er mit seinem Rennrad durch die britischen Berge rast, denkt er über das Profil seiner Kunstfigur Brad76 nach, das er erschaffen hatte, um auf einer Datingplattform eine neue Partnerin zu finden. Ein Prozess, der ihn wahnsinnig gemacht habe. Kein Detail seines Profils hat er dem Zufall überlassen. Obwohl fast nichts der Realität entspricht. Manisch und getrieben versucht er, sein Leben, das mehr und mehr auseinander zu brechen droht, zusammenzuhalten, versucht, bei der Arbeit, professionell zu bleiben, was ihm immer weniger gut gelingt, und wird schließlich eines Tages vor die Wahl gestellt, selbst in die Therapie zu gehen oder mit der Arbeit aufzuhören. Längst arbeitete er da schon nicht mehr mit Patient*innen.

Augenzwinkernd erzählt der Autor von einem Syndrom, das vom Kollegium nach ihm benannt wurde: Dieses Benjamin-Syndrom handelt vom Impuls, Geschichten zu erzählen, die vordergründig witzig und selbstironisch sind, sich aber ungewollt gegen die Erzählenden selbst richten. Sein Buch ist das beste Beispiel für das besagte Syndrom, denn Benjamin erzählt schonungslos, schönt nicht, übertreibt aber auch nicht wirklich, nicht jedenfalls im Sinne einer inszenierten Übertreibung. Mich erinnert der Text übrigens streckenweise an Knausgård.

Das Erzähltempo nimmt weiter zu, Benjamins Verwirrung, durchwoben von analytischen und gesellschaftpolitischen und -relevanten Erkenntnissen, klugen Lebensweisheiten und seiner unüberlesbaren Sehnsucht nach dem Verständnis der großen Zusammenhänge mit den kleinen Details wird dichter und schließlich bleibt seiner Vorgesetzten nur noch eins: Ihm ein Sabbatical aufzunötigen.

So verlässt Benjamin seinen Arbeitsplatz im Krankenhaus und verbringt einige Monate in einem Meditationszentrum irgendwo im Fernen Osten, wo er sich der Selbstheilung und der Achtsamkeit widmet. Auch hier – vor allem zu Beginn – geschieht nichts ohne Selbstironie, trotz aller Ernsthaftigkeit. Und es ist keineswegs ein einfacher Prozess, den er da durchläuft. Im Gegenteil. Wer immer über das Leben nachgedacht und es analysiert hat, kann diesen inneren Lärm nicht einfach ausknipsen. Der Autor durchlebt eine schwierige Zeit und obwohl es eigentlich verboten ist, schreibt er immer mal wieder einige Erkenntnisse auf. Mal dienen diese eher der Forschung, der Selbsterforschung, mal eher dem persönlichen Heilungsweg. Wie soll man das auch trennen können?

»’Wahnsinn’, das Symptom des Festhaltens am Ich: unser Zwang, uns ständig selbst zu bestätigen. Es ist, als würde man den Vorhang beiseite ziehen und entdecken, dass der große und schreckliche Zauberer von Oz ein tatteriger alter Mann ist, der zugibt, dass er statt eines Herzens und eines Gehirns nur eine Uhr und ein Diplom geben kann. […] Nach Vorhang über Vorhang ist nur noch ein nackter Neunzigjähriger im letzten Alzheimer-Stadium übrig, der kaum mehr blinzeln kann. Bis nichts mehr hinter dem Vorhang ist. Lass mich nicht nichts sein.« (Zitat, S. 221, eBook)

Benjamin wäre nicht er selbst, wenn er das Buch mit weisen violett schimmernden Szenen und verklärten Erkenntnissen aus dem Meditationszentrum beenden würde. Im Gegenteil. In seinem letzten Kapitel sitzt er in einem Londoner Pub, überlagert ist diese Momentaufnahme mit einer Szene aus einem Trickfilm. Und auch Alkohol ist mit im Spiel. Leben ist eben mehr, als die einzelnen Teilchen an die richtigen Stellen zu fügen. Das Gesamtbild ändert sich laufend und hat eigentlich keine klaren Ränder.

Ich mag A. K. Benjamins Buch sehr. Es ist letztlich, unabhängig vom Genre, ein Hilferuf, ein Beitrag zur Aufklärung über psychische und neurodegenerative Erkrankungen und hat viele Leserinnen und Leser verdient. Mutige Menschen, die sich nicht scheuen, sich auf diese doch recht verrückte Geschichten einzulassen. Inzwischen lebt Benjamin (Pseudonym) übrigens in Indien, wo er eine Klinik für Kinder mit neurologischen Störungen aufgebaut hat.

Herzlichen Dank an den Ullstein-Verlag für das Rezensionsexemplar.


Into Madness | Geschichten vom Verrücktwerden
Erzählendes Sachbuch, Memoir
Hardcover und eBook
Aus dem Englischen von Simone Jakob
288 Seiten
ISBN: 978-3-86493-067-6
D: € 20.00/19.99 | CH: Fr. 25.90/Fr. 21.–

Verlag: Ullstein extra