Bei meiner letzten Disher-Buchbesprechung verglich ich den Schreibstil meines australischen Lieblingsautors Disher mit Musik und nannte ihn den Meister des Fadings. Diesmal fallen mir beim Lesen Parallelen zur Satzbautheorie ein. Aufgebaut ist Dishers neuer Kriminalroman nämlich wie ein sehr komplexer Schachtelsatz mit vielen Nebensätzen. Einer allerdings, bei dem wir nie die Spannung und die Übersicht verlieren.
Auch im dritten Teil der Serie steht wieder Paul Hirschhausen im Zentrum der Geschichte. Leise und unspektakulär versieht er in diesem kalten Spätwinter seinen Dienst als Dorfpolizist, patroulliert regelmäßig durch das weite Gemeindegebiet, besucht Menschen, hält Kontakte, klärt kleine Verbrechen auf, hilft, wo er gebraucht wird und pflegt in seiner Freizeit eine herzliche Beziehung zu seiner Partnerin Wendy und deren Tochter Katie.
Buchcover
Doch da meldet ihm eines Tages eine Lehrerin, dass ein Mädchen, das zuhause unterrichtet wird, bei ihren sporadischen Zoomgesprächen nicht wirklich gesund aussehe und Andeutungen mache, dass es nicht genug zu essen bekomme. Hirschhausen kümmert sich darum, ebenso wie er sich um den in der Schule ausrastenden Vater eines Mädchen kümmert, welches der Schulleiter gescholten hat, da ihr Vater das Schulgeld noch nicht einbezahlt hat. Dass dieses Gespräch der Anfang eines wochenlangen Amoklaufes werden könnte, der die Spitze eines Eisbergs aus Lüge, Betrug und Habgier ist, kann niemand ahnen. Zumal Hirschhausen mit seinem Talent zur Deeskalation einschreitet und den Vorfall fürs Erste ad acta legen kann.
Während Hirschhausen wieder professionell an unterschiedlichen Baustellen ermittelt, kommt er diesmal persönlich hart an seine Grenzen. Immer wieder bekommt er seltsame Nachrichten, vor allem virtuelle, aber auch handfeste – in Form von Geschenken vor der Haustür. Und er weiß auch von wem. Wie verhält man sich, wenn man gestalkt wird? In seiner Unsicherheit und Verwirrung lässt er Wendy viel zu lange außen vor. So lange, bis es fast zu spät ist!
Ein guter Plot ist das eine, das andere ist das Schaffen von Atmosphäre. Erneut gelingt es Disher, mich ganz und gar in die australische Pampa zu versetzen, die Menschen, die Umgebung, die Örtlichkeiten, das Dorfleben und die Gefühls- und Gedankenwelt seines Protagonisten hautnah und mit allen Sinnen zu erleben. Hirschhausen ist kein abgehobener oder gar abgehalfterter (Western-)Held, sondern ein Mensch, der sehr bewusst, klar und hingebungsvoll seinem Beruf nachgeht und dabei menschlich und verantwortungsbewusst agiert.
Disher schreibt nicht nur Krimis, er schreibt Kriminalliteratur. Seine Sprache ist dicht und ästhetisch, ohne je gekünstelt zu wirken. Er setzt dabei weder auf Special Effects noch auf Blutvergießen, sondern auf Ungesagtes, leise Töne, Subtext und Zwischenmenschliches. Ich mag das sehr!
Herzlichen Dank an den Autor und das Unionsverlag-Team für die spannenden und berührenden Lesestunden mit meinem Rezensionsexemplar.
Unionsverlag
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Erschienen im September 2021
Hardcover, 352 Seiten
€ 22.00, FR 30.00, €[A] 22.70
Gebunden
ISBN 978-3-293-00572-3
E-Book
€ 18.99
ISBN 978-3-293-31114-5 (EPUB)
ISBN 978-3-293-41114-2 (Kindle)
ISBN 978-3-293-61114-6 (Apple)
»Es ist nicht die Schuld der Menschen mit Demenz, dass es zu diesen Situationen kommt. Nicht sie verursachen diese Probleme, sondern die Rahmenbedingungen sind es, die diese Probleme verursachen.«
Diese sind allerdings nicht einfach so da, nicht organisch gewachsen, sie sind gemacht worden, sie sind auf dem Boden des Immer-Mehr des Kapitalismus entstanden und gewachsen.
Ich zitiere: »Bei den diesem Buch zugrundeliegenden Rahmenbedingungen handelt es sich um ein Gesellschaftsmodell, in welchem dem Leistungsgedanken absolute Priorität eingeräumt wird. Effizienz und Kostenersparnis stehen an oberster Stelle und sind das Maß aller Dinge.« (S. 5)
Denn was Christian Holzer über die Bedingungen für Demenzkranke und ihre Angehörigen in der Kurz- und Langzeitpflege sowie über die Betreuung zuhause schreibt, ist unglaublich. Ich weiß aus eigener ähnlicher Erfahrung, dass es leider so ist.
Der Autor, der seine Mutter die letzte Zeit ihres Lebens bis zu ihrem Tod zuhause begleitet und betreut hat, schöpft in seinem Tagebuch-Roman aus eigenen leidvollen Erfahrungen – und aus jenen seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter.
Aufgebaut ist das Buch sehr unkonventionell. Wir schauen dem Autor live beim Schreiben des Buches zu. Das Buch wirkt denn auch eher handgestrickt, ist jedoch ausgesprochen authentisch und berührend. Holzer erzählt, wie ihn die Betreuung seiner an Demenz erkrankten Mutter isoliert, einsam werden lässt. Internetseidank findet er andere Menschen, die ebenfalls ihre Angehörigen zuhause oder im Pflegeheim betreuen.
Auch ihre Texte fließen in den Tagebuch-Roman ein, manchmal als eigene Texte, manchmal als Reaktionen und Kommentare, so entstehen gleichsam Dialoge.
Wir begleiten im Laufe des Buches einige andere Menschen, die erzählen, was sie in ihrem Betreuungsalltag erfahren müssen. Da ist zum Beispiel Silke, deren dementer Lebenspartner im Stammcafé von den alten Freunden zum Clown gemacht wird. Und da sind Franziska, deren demente Mutter im Heim sehr allein und unglücklich ist, und Jasmin, die ihre demente Mutter zuhause betreut. Ihre Mütter waren früher Freundinnen. Dank glücklicher Umstände lernen sich die Töchter kennen und bringen ihre dementen Mütter zusammen, die dadurch sozusagen aufblühen. Und da ist Susanne, die ihre Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Heim holt, weil sie sieht, wie unzumutbar die Betreuung dort ist. Nicht aus böser Absicht, sondern weil schlicht Betreuungszeit fehlt. Weil die Personalschlüssel hanebüchen sind. Wir lesen auch Stimmen aus der Betreuung, die sich dafür schämen, wie wenig sie tun können und wir lesen von unsensiblen Zahnärzten und von Heimpersonal, welches eine ’schwierige Patientin’ einfach vor die Tür stellt.
Längst geht es den Heimverantwortlichen nicht mehr um Menschen, es geht um Rentabilität, um Rendite, um Gewinne. Die Verlierer:innen sind die dementen Menschen und ihre Angehörigen. Dabei ist Care-Arbeit eine der allerwichtigsten Arbeitsfelder überhaupt. Doch es fehlt genau hier an allem, an Geld ebenso wie an Anerkennung.
Demenz kann uns alle treffen. Als Angehörige ebenso wie als Betroffene. Wer, frage ich mich zuweilen, wer wird mich eines Tages betreuen, wenn die menschliche Gesellschaft sich so weiterentwickelt, wie sie es gerade tut, falls ich eines Tages auf Hilfe angewiesen sein sollte? Pflegeroboter? Wie viele Menschen werden, sollte die Erde in dreißig Jahren noch bewohnbar sein, dement sein. Die Hälfte, womöglich, wie es der Autor im Buchtitel andeutet? Ich weiß es nicht. Aber wenn wir als Menschheit überleben wollen, müssen wir einige grundlegende Dinge verändern. Und zwar nachhaltig.
Der Autor schreibt an vielen Stellen über die Gleichgültigkeit und Ignoranz, die ihm entgegengeschlagen ist, wenn er mit Bekannten über seine Mutter ihren Zustand und seine Befindlichkeit gesprochen hat. So wirklich verstehen kann niemand, der es nicht selbst erlebt, was Angehörige durchmachen, wenn sie ihre dementen Nächsten zuhause betreuen. Erlebte Gleichgültigkeit isoliert, macht einsam.
»[Krankheit] ist in der Öffentlichkeit nicht mehr präsent und alles, was mit Krankheit und Leiden zu tun hat, ist gesellschaftlich auch nicht mehr erwünscht. Es wurde kollektiv wegretuschiert und mit schöner Werbung überdeckt.« (S. 48/49)
Geschrieben hat der Autor das Buch vor der Pandemie und ich war aus diesem Grund bis jetzt nicht in der Lage, mich auf diesen intensiven Lebensbericht einzulassen. Die Pandemie hat viele Probleme verschärft, ans Licht geholt. Betreuung und Pflege sind inzwischen Themen, über die heute mehr gesprochen wird als noch vor kurzem. Verändert hat sich leider noch viel zu wenig. Das Bewusstsein hat sich jedoch ein klein wenig verändert, will mir scheinen. Wenn auch mehr in der Bevölkerung als in den Regierungen.
Holzer hat in seinem Tagebuch-Pflegeprotokoll zwar die Pflegelandschaft in Österreich skizziert, doch so anders als in Deutschland und in der Schweiz dürfte sie nicht sein.
Ohne Solidarität wird das nichts mit einer besseren Welt.
Ich danke dem Autor herzlich für das Rezensionsexemplar und die erkenntnisreichen Lesestunden. Ein Buch, das sehr persönlich und unmittelbar über ein wichtiges Thema aufklärt und dem ich viele Leser:innen wünsche.
Christian Holzer
2050 – UND HALB EUROPA IST DEMENT: Wie es im Jahr 2050 nicht sein sollte!
Taschenbuch
21. Februar 2020
Das Buch ist bei Ama**n erhältlich oder direkt beim Autor (Twitter)
Es hat gedauert, bis ich mich an den autofiktiven Roman der Frankfurter Soziologin Minka Pradelski gewagt habe. Bereits letzten Sommer habe ich diesen Buch bekommen, doch das Lesen immer wieder vor mich her geschoben. ’Es wird wieder Tag’ erzählt die Geschichte der jungen Familie Bromberger im und nach dem zweiten Weltkrieg. Wir lesen hier die Geschichte zweier KZ-Überlebender und ihres nach dem Krieg geborenen Kindes.
Buchcover Es wird wieder Tag von Minka Pradelski
Allen drei Stimmen erteilt Pradelski abwechselnd das Wort. Als Leser:innen begleiten wir Klara, Leon und schließlich auch deren Sohn Bärel durch die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Wie der Sohn der beiden ist übrigens auch die Autorin in den ersten Nachkriegsjahren im Lager für Displaced Persons in Zeilsheim geboren. Ihr Roman erweitert mein Wissen um die Shoah um eine weitere persönliche Perspektive.
Das Schweigen, das sich nach dem zweiten Weltkrieg auf viele KZ-Überlebenden gelegt hat, um am Erlebten nicht zu zerbrechen, trifft auch Klara und Leon, denn vieles ist unaussprechlich. Alles verändert sich, als Klara eines Tages, bei einem Spaziergang mit ihrem Sohn, einer ihrer Aufseherinnen aus dem KZ begegnet. Ihre Wege kreuzen sich, doch Klara gibt sich nicht zu erkennen. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass sie ’Liliput’ gesehen hat.
Diese Begegnung triggert sie zutieftst und ihre traumatischen Erlebnisse tauchen aus dem Verdrängen an die Oberfläche. Klara gerät in eine existenzielle Krise, die alle Ängste, alle gesammelten Erfahrungen und gemachten Erlebnisse in die Gegenwart holt; sie droht daran zu zerbrechen.
Leon, der ebenfalls einige Jahre in einem KZ verbracht und wie Klara nur knapp überlebt hat, verzweifelt beinahe. Auch weil Klara ihren Sohn vernachlässigt. Dennoch wollen beide nicht, dass Leon Bärel bei Verwandten unterbringt. Klara weigert sich, Hilfe von außen anzunehmen oder sich in eine Klinik zu begeben. Als Leon sich keinen Rat mehr weiß, fordert er Klara auf, alles aufzuschreiben. Ihre Geschichte in Worte zu fassen. Das tut sie schließlich auch und es hilft ihr tatsächlich.
Nach dem Prolog des Romans, in welchem Bärel sein Geburtserlebnis aus der Sicht eines neunmalklugen Kindes erzählt, übernimmt Klara den Faden und erzählt von ihrer Kindheit und Jugend, der Umsiedlung in ein polnisches Ghetto und der Flucht aus diesem, vom Aufenthalt im KZ und ihrer dortigen Arbeit in einer Flugzeugfabrik. Sie erzählt, was sie nach dem Ende des Krieges erlebt hat und sie erzählt vor allem von ’Liliput’, jener Aufseherin, welche sie kürzlich auf der Straße gesehen hat, die damals mit ihrer subtil ausgeübten Macht das ganze Lager dominiert und schikaniert sowie sich am quslvollen Sterben vieler Gefangener schuldig gemacht hat.
Unterbrochen wird ihre Geschichte mit von Bärel erzählten Momentaufnahmen aus der Gegenwart der Protagonist:innen. Die Familie hat sich nach dem Krieg in Frankfurt ein neues Leben aufgebaut. Leon ist ein geschickter Geschäftsmann, der sich anfänglich mit Schwarzhandel und später mit einer Transportfirma einen Namen gemacht hat. Über allem schwebt der Traum von der Auswanderung nach Amerika.
Erst im vorletzten Kapitel hören wir Leons Geschichte und erfahren, wo und wie sich das Paar kennen- und liebengelernt hat. Auch seine Erfahrungen gehen mir sehr unter die Haut und ich bewundere seine Überlebenskräfte und -strategien.
Sowohl er als auch Klara erzählen sehr nüchtern, beinahe unemotional. Beide schönen ihre Erfahrungen nicht. Eindrücklich jene Szene, in welcher Klara als Fünfzehnjährige aus dem Ghetto flieht. Da ist keine Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern dafür, dass sie ihr die Flucht ermöglicht haben.
Zu guter Letzt hören wir wieder Bärel, der inzwischen schon ein paar Jahre alt ist. Gewohnt neunmalklug und für meinen Geschmack schon von Anfang an ziemlich überzeichnet und allzu zynisch erzählt er aus seinem Alltag. Er fand sich erst allmählich mit der Tatsache ab, dass diese beiden Menschen tatsächlich seine Eltern sein sollen. Seine Zugewandtheit zu ihnen wächst erst allmählich. Fast hätte Bärel es übrigens geschafft, dass ich das Buch nach dem Prolog zugeklappt und auf die Seite gelegt hätte. Doch zum Glück habe ich weitergelesen.
Minka Pradelski hat mit ’Es wird wieder Tag’ einen wichtigen Beitrag zum Thema Judenverfolgung im Nationalsozialismus geleistet. Zwar habe ich schon viele Bücher über das Leben in Konzentrationslagern gelesen, doch über die Jahre des Wiederaufbaus ist mir wenig bekannt.
Die Autorin ist eine sehr exakte Beobachterin, die kluge, passende, berührende Worte für ein historisches und persönliches Trauma gefunden hat. Weder sentimental noch moralisierend macht sie sichtbar, was Krieg mit Menschen macht.
Minka Pradelski ist ein wichtiges, lesenswertes Buch gelungen. Ich danke ihr und der Frankfurter Verlangsanstalt für die aufwühlenden Lesestunden mit meinem Rezensionsexemplar.
FVA
384 Seiten
August 2020
Hardcover
ISBN 9783627002770 24,00 E-Book
ISBN 9783627022877 15,99 €
Überleben. Das ist für mich die Essenz von Katharina Köllers erstem Roman Was ich im Wasser sah.
Hier geht es ums Überleben der Ich-Erzählerin Klarissa Grill zum einen, ums Überleben einer ganzen Inselgemeinschaft zum anderen. Und es geht darum, dass letztlich alles schwankt. Die ganze Welt.
Buchcover
Vor ihrer Brustkrebsoperation hat Klarissa entgegen aller Empfehlungen entschieden, sich keine Silikonbrüste machen zu lassen. Stattdessen lässt sie sich eine Weile später einen Oktopus stechen. Dieses Tier würde es dem Krebs, der sie fast aufgefressen hatte, zeigen. Ihr Oktopus würde sie schützen und sie daran erinnern, dass sie überlebt hat. Mehr schlecht als recht schlägt sie sich – nach der Operation noch immer rekonvaleszent und depressiv – als Imbissverkäuferin auf dem Festland durch. Angestellt bei SUNFISH steht sie tagtäglich in ihrer Filiale und verkauft Burger und Cola.
Wer ist sie denn überhaupt noch, jetzt, so ohne Brüste? Ist sie noch die Filmerin, die Künstlerin von früher? ist sie überhaupt noch Frau oder eher Un-Frau? Sie beschließt, sich nichts mehr wegnehmen zu lassen, sich keine fremden Realitäten aufpropfen zu lassen und sich immer bewusst zu sein, dass sie eine Überlebende ist.
Eines Abends erwartet sie ihr Bruder vor dem Laden. Lange hat sie ihn nicht mehr gesehen, lange war sie nicht mehr zuhause, auf der Insel. Lange hat sie ihre Familie gemieden. Bill kommt mit schlechten Nachrichten, was Klarissa dazu bewegt, mit Bill in ihre WG zu gehen, ihre Sachen zu packen und ihn nach Hause zu begleiten. Auf ihre Insel.
»Nun kehrt sie zurück – zurück zur ’Schwankenden Weltkugel’, dem Gasthaus auf der Klippe, zurück zu ihrem Vater, dem wortkargen Meister der Fischkunst, zu ihrem gutherzigen Bruder Bill und ihrer Schwester Irina, die an jenem Tag zu ihnen stieß, als Klarissa fast im Meer ertrank. Irina, dieses seltsam-schöne Mädchen mit den kalten Fingern und goldenen Augen, von dem niemand weiß, woher es kam. Doch die Insel hat sich verändert: Fischerboote und Fischmarkt liegen brach, hoch in der Luft rotieren gläserne Windräder, und am Boden tummeln sich zeckenartige, metallene Gebilde, deren Funktion strengster Geheimhaltung unterliegt. Dann aber werden die Inselbewohner vom Großkonzern STARFISH, der über die Insel herrscht und als Vorreiter grüner Energie gilt, aus ihren Wohnungen verdrängt, der Pachtvertrag der ’Schwankenden Weltkugel’ aufgekündigt, und in ihrer Schwester gehen rätselhafte Veränderungen vor«
STARFISH verändert die Insel und ihre Menschen. Warum erzählt Bob, ein alter Kumpel, nichts von seiner geheimen Arbeit für STARFISH? Und warum darf Klarissa dort nicht filmen?
Klarissa erzählt in Rückblicken aus ihrer Kindheit und es wird bald klar, dass ihre Schwester Irina in dieser Geschichte die zweite Hauptrolle spielt. Die beiden verbindet eine tiefe Liebe, die immer kurz davor steht, erneut verloren zu gehen. Wie damals, als Klarissa mit ihrem heutigen Ex-Freund Robin zusammen auf die Insel gekommen war.
Köllers Sprache ist sinnlich und nüchtern zugleich. Die von ihr erzählten Ereignisse finden überall statt. Jetzt. Immer. Obwohl Köllers Figuren letztlich allesamt universelle Archetypen sind, versinkt ihre Erzählung niemals in Verallgemeinerungen. Die ganze Geschichte lässt sich als Metapher lesen, ist gleichsam eine Art surreales Märchen für Erwachsene und die Insel dient als universelles Mikrokosmos und ist letztlich eine weitere Hauptperson in dieser Geschichte.
Klarissas Welt ist ebenso surrealistisch wie alltäglich, wirklich wie unwirklich. Und bestimmt ist es nicht zufällig, dass Katharina Köllers Roman den Titel eines Bildes von Frida Kahlo trägt. Die Kahlo hatte es 1938 gemalt, als ihre Ehe mit Rivera in Auflösung begriffen war.
Und um Auflösung geht es auch in Klarissas Leben. Was war, löst sich auf und macht Neuem Platz. Neuen Beziehungsansätzen, neuen Perspektiven. Und neuen Verlustängsten. Alles was ist, kommt auf den Prüfstand.
Zwischen ihre Alltagserzählung schiebt Klarissa zehn nummerierte Texte in kursiver Schrift mit der Überschrift Was ich im Wasser sah ein. In diesen Texten geht es um Irina, um dieses Wesen, das aus dem Meer gekommen ist. Dieses Wasserwesen, diese unzähmbare Frau, die sich schließlich doch zähmen lässt und sich ab da immer mehr aufzulösen beginnt. (Hier drängen sich mir im Rückblick Verbindungen zu Andersens Meerjungfrau auf.)
Bei Köller geht es jedoch um mehr als nur um die fragilen Beziehungen zwischen ihren Figuren, um mehr als enttäuschte Freundschaft, verratene Ideale und unmögliche Liebe. Es geht auch und vor allem um das Wesen der Natur, um die Erkenntnis, dass es Wesen gibt, deren Mund zugleich ihr After ist, und die darum ihre Beute verschlingen können, indem sie sich selbst umstülpen. Wieder so ein Bild, das nachhallt.
Es wird klar, dass Unglück, das der Natur angetan worden ist, sich letztlich nicht ungeschehen machen lässt. In der Verantwortung stehen allerdings nicht nur die Täter:innen, sondern auch die Mitwissenden. Gift verströmt unsichtbar. Aber nicht unmerklich …
»Denn die Schachtel, die eine Büchse der Pandora war, die man aufmachen, aber nie wieder schließen konnte, trieb im Hafen und verstrahlte die Insel mit unglücklicher Liebe.« (S. 252)
Klarissas Alltagsdinge spiegeln die globalen Dinge. Das Große im Kleinen.
Schließlich spitzen sich die Ereignisse zu und auf einmal geht es um Leben und Tod. Um das Überleben. Und genau darum geht es letztlich immer.
Katharina Köllers Buch hat mich von der ersten Seite an berührt. Ich mag die Bildkraft und Sinnlichkeit ihrer Sprache, aber ich mag auch ihre Figuren und deren Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe. Aus Klarissas Sicht erzählt, deren Blick der einer Filmerin ist, bekommen solche erzählerischen Qualitäten einen Doppelsinn. Kurz gesagt hat mich diese Erzählung von Anfang bis Ende überzeugt und ich empfehle sie herzlich zum Lesen.
Herzliches Dankeschön an die Autorin und die Frankfurter Verlangsanstalt für die aufwühlenden Lesestunden mit diesem Rezensionsexemplar.
FVA
320 Seiten
September 2020
Hardcover
ISBN 9783627002794 22,00* E-Book
ISBN 9783627022891 14,99 €
Ein Buch wie ein Song. Blues. Rock. Garry Disher ist ein Meister des Fading wie wir es aus der Musik kennen, denke ich, als ich das Buch zuklappe. Das Buch hört so leise auf, wie es angefangen hat.
Buchcover
Hochsommer. Das Land seufzt unter der Hitze. Ein Provinzpolizist, der eben noch bei einem Farmhaus, wo Brand gelegt und Kupferdraht gestohlen wurde, bei Feuerlöscharbeiten geholfen hat, findet auf dem Rückweg zum Revier einen abgemagerten Hund, auf den eine aktuelle Vermisstenmeldung passt. (Hier sich im Hintergrund ein einsames Saxophon vorstellen.)
Alltag im australischen Outback, wie ihn Paul Hirschhausen, von allen Hirsch genannt, kennt. Er mag seine neuen Aufgaben und geht ihnen mit einem herzlichen Engagement nach. Disher zeichnet seine Hauptfigur als unspektakulären Alltagsmenschen, was mir diesen sofort sehr sympathisch macht. Grummelige Superhelden ohne Privatleben gibt es schließlich genug. Wobei: Pauls Privatleben kommt in diesen zwei Wochen, von denen hier erzählt wird, auch eher zu kurz. Er muss sogar auf die eigentlich freien Weihnachtstage mit seiner Freundin Wendy und deren halbwüchsiger Tochter Katie verzichten. Zwischendurch sehen sie sich zwar, doch so richtig erholsam sind diese Tage nicht.
Der kleine Ort Tiverton bereitet sich auf das alljährliche Santa Claus-Event vor, bei dem diesmal Paul als offiziell gewählter Santa Claus hoch zu Ross allen Kindern Geschenke verteilen darf. Zugleich soll er, als Chef der örtlichen Polizeistelle, die Hausbesitzer:innen mit der schönsten Weihnachtsbeleuchtung küren.
Langsam bekomme ich als Leserin einen Blick und ein Gespür für den Ort, für die Menschen, für die Energie, die diesen Landstrich beherrscht. Zänkereien, Neid, psychische Krankheiten, Drogen und häusliche Gewalt gibt es auch in diesem Irgendwo im Nirgendwo. Hirsch gelingt es mit seiner empathischen und klaren Art, zu deeskalieren. Jedenfalls fast immer. Und fast immer sieht er, wenn die Menschen, die abdriften, einsichtig sind, von Strafverfolgung ab. So auch bei einer jungen Frau, deren Kind im geschlossenen Auto fast einen Hitzschlag erlitt, weil diese eine Minute zu lange für eine Besorgung gebraucht hatte.
Langsam nimmt die Lautstärke zu, der Rhythmus wird härter und schneller, der Sound wird dichter, und auf einmal findet sich Hirsch inmitten vieler einzelner Verbrechen, die so gar nicht an diesen Ort passen wollen. Tot gestochene Pferde zum einen, zum anderen zwei Leichen und zwei Mädchen auf der Flucht.
Verstärkung aus Sydney trifft ein und gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den nächstliegenden Revieren gilt es die einzelnen Fälle aufzuklären. Weil Hirsch die Menschen hier am besten kennt, wird er – trotz seines niedrigen Rangs – immer wieder als Schlüsselfigur einbezogen. Und er ist es denn auch, der am Ende die Fäden aufdröselt und das Fade-Out schafft.
Auf einer Metaebene der Geschichte liest Paul immer wieder in einem alten Tagebuch, das er in der Schublade seines neuen Arbeitsplatzes gefunden hat. Das Tagebuch erzählt die Geschichte der Kolonialisierung Australiens aus der Sicht weißer Einwanderer, die den Anspruch hatten, sich alles zu unterwerfen. Ich höre ein Bassgitarre-Solo. Gestern und heute verweben sich in Hirschs Gedanken.
Jedes Dorf hat seine Gwynnes und seine Flanns, dennoch lässt sich Disher nicht auf stereotypisches Wiederholen von Klischees ein und selbst Nebenfiguren zeichnet er mit deutlicher Tiefenschärfe. Ich habe mich von Dishers Komposition mitreißen lassen und das Buch geradezu verschlungen.
Die bildhafte, sinnliche, unaufgeregte Sprache Garry Dishers hat mein Kopfkino inspiriert. Der Stoff eignet sich für eine Krimi-Serie, eine Mini-Serie, denn an Fäden, die es aufzuklären gilt, mangelt es nicht. Sogar den Soundtrack kann ich bereits hören.
Ich bedanke mich herzlich beim Autor und beim Team des Unionsverlages für die anregenden Lesestunden mit diesem Rezensionsexemplar.
Unionsverlag
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Erschienen im September 2020
Hardcover, 336 Seiten
€ 22.00, FR 30.00, €[A] 22.70
Gebunden
ISBN 978-3-293-00563-1
E-Book
€ 18.99
ISBN 978-3-293-31093-3 (EPUB)
ISBN 978-3-293-41093-0 (Kindle)
ISBN 978-3-293-61093-4 (Apple)
Alles fängt mit einem Skelett an, das Jugendliche vor zwölf Jahren an einer Geröllhalde gefunden haben. Es ist das Skelett eines kleinen Mädchens. Eine dieser Jugendlichen ist die heutige Polizistin Malin, die inzwischen vom Fundort weggezogen ist. Sie wird zurück nach Ormberg geholt, als die für Ormberg zuständige Polizeistelle diesen alte Fall neu bearbeiten will. Auch Hanne und ihr Partner Peter, ein Ermittler der Stockholmer Kriminalpolizei werden an Bord geholt, da sie neulich bei der Aufklärung einer Mordserie so erfolgreich waren. Und wo Peter ist, darf natürlich auch Manfred nicht fehlen, ein guter Arbeitskollegen und Freund der beiden. Der junge Polizist Andreas vervollständigt schließlich das Cold Case-Team.
Buchcover
Demenz, Rassismus in vielen Schattierungen, Alkoholismus, häusliche Gewalt, Mobbing, Transgender. In der Tat ziemlich viele brisante Themen, die in diesem vielseitigen Roman behandelt werden. In einem Roman allerdings, der unter dem Untertitel den Hinweis Psychothriller trägt. Themen, die inzwischen alltäglich geworden sind.
Schon im ersten Band der Geschichte – Wenn das Eis bricht – ist mir die Psychologin Hanne, die der Stockholmer Polizei zuweilen als Profilerin zur Verfügung steht, ans Herz gewachsen. Noch stand sie im ersten Teil am Anfang ihrer fortschreitenden Demenz, im zweiten Band ist die Krankheit bereits umfassender, einschneidender und deutlich sichtbarer.
In ihrem zweiten Band – Tagebuch meines Verschwindens – lässt die Autorin Camilla Grebe erneut mehrere Ich-Erzähler:innen zu Wort kommen. Zum einen hören wir Jake, einem fünfzehnjährigen Jungen, zu, der gern Frauenkleider trägt, zum andern Malin, der erwähnten jungen Polizistin. Hannes Stimme hören wir aus ihrem Tagebuch und in einigen aus ihrer Sicht erzählten Kapiteln.
Hanne und Peter befinden sich auf Grönland, wo sie sich gemeinsam – vor dem vollständigen Verlust von Hannes Erinnerungen – deren alten Reiseraum erfüllen, als sie ins Cold Cases-Ermittlungsteam nach Ormberg gebeten werden.
Es ist Ende November, der Anfang eines kalten, schneereichen Winters in der Pampa von Mittelschweden, und die Voraussetzungen, den alten Fall lösen zu können, sind schwierig. Zwar sind die Ermittlungsmöglichkeiten inzwischen fortschrittlicher, doch ist seit dem Skelettfund viel Zeit vergangen.
Jake trifft auf einem seiner seltenen Spaziergänge in Frauenkleidern im Wald auf die vor einer Gefahr flüchtende Hanne, die er schließlich zur Landstraße begleitet, wo sie ein Auto anhalten kann um wegen Unterkühlung und Dehydrierung ins Krankenhaus gebracht zu werden. Sie hat keinerlei Erinnerungen mehr an die letzten zwei Tage. Auch weiß sie nicht, wo Peter abgeblieben ist und warum sie beide überhaupt im Wald gewesen sind.
Jake hat sich, nachdem er Hanne in Sicherheit wusste, im Wald versteckt, denn er möchte nicht in Frauenkleidern gesehen werden. Doch er hat Hannes Tagebuch am Straßenrand gefunden, das ihr aus der Tasche gefallen sein muss, bevor sie in das rettende Auto steigen konnte.
Seit Hanne immer mehr vergisst, ist ihr Tagebuch gleichsam ihr ausgelagertes Hirn. Sie hat es sich angewöhnt, alles akribisch aufzuschreiben, damit sie sich später wieder erinnern kann. Jake liest in den nächsten Tagen alles, was Hanne während der ersten Ermittlungstage erlebt und erkannt hat. Bis zu ihrem Verschwinden also, in der ganzen Zweideutigkeit dieses Wortes. Er weiß, dass er das Tagebuch der Polizei übergeben müsste, doch dann müsste er ja zugeben, dass er jene junge Frau gewesen ist, die die Polizei als Zeugin sucht.
Im Laufe der Geschichte erkennen wir als Lesende, wie sehr die Bevölkerung von Ormberg sich abschottet und Neuem gegenüber verschließt. Geschehnisse, die über fünfundzwanzig Jahre zurückliegen, wurden unter den Teppich gekehrt. Damals verschwanden eine Frau und ein Mädchen aus dem Flüchtlingszentrum, das damals am Ortsrand in einer alten, stillgelegten Fabrik untergebracht war, spurlos. Inzwischen ist das Flüchtlingszentrum wieder aktiviert worden, um Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Sehr zum Unmut der Bevölkerung vom Ormberg, die nach zahlreichen Schließungen von Fabriken durch Abwanderung geschrumpft ist.
Ein erster Erfolg für das Cold Case-Team ist die Identifikation des Mädchens. Es ist das damals verschwundene, wie die DNA seiner Tante offenbart, von seiner Mutter fehlt jedoch noch immer jede Spur.
Während das Ermittlungsteam mit der Unterstützung von anderen Polizeidienststellen weiträumig nach Peter sucht, wird eine weitere Leiche entdeckt. Die einer Frau. Erschossen am Wochenende von Peters Verschwinden. Und wieder ist der Fundort die Geröllhalde, nicht weit von da, wo das Mädchen vor zwölf Jahren gefunden wurde. Wie hängt das alles zusammen, wer ist die grauhaarige Frau, warum liegt sie ausgerechnet dort und wo ist Peter? Von ihm fehlt noch immer jede Spur.
Jake erfährt im Laufe der Geschichte immer mehr über die Hintergründe und gerät schließlich ganz unerwartet auf eine Spur, die letztlich zur Auflösung der Fälle führt, die alle irgendwie zusammenhängen. Den Prozess, den er durchläuft, zeichnet Camilla Grebe ebenso nachvollziehbar und glaubwürdig nach wie den Malins. Zurück in der alten Heimat wird diese mit vielen alten Geschichten konfrontiert und muss einiges aufarbeiten, um endlich herauszufinden, wer sie ist, was sie will und wohin ihr Weg führen könnte.
Auch Hannes Weg ist kein einfacher. Natürlich verläuft jede Krankheit anders und natürlich bin ich zu unerfahren, um mich mit Demenz wirklich auszukennen, doch weil die Schwester der Autorin Psychologin ist und die beiden ja in ihren gemeinsamen Krimis um die Therapeutin Siri Bergmann bereits ihre Kenntnisse über menschlichen Innenwelten offenbart haben, halte ich die Erzählungen über Hannes Krankheit für glaubwürdig.
Die Geschichte verdichtet sich gegen Ende je länger je mehr. Der Ausgang überrascht. Die Aussagen des Täters zu seinen Motiven lassen mit sprachlos zurück und ich verstehe auf einmal, warum der schwedische Originaltitel Haustier lautet.
Der Autorin gelingt, was ich sehr schätze: Sie erzählt eine von Anfang an dichte Geschichte, schreibt gut, flüssig, spannend, orientiert sich jederzeit an ihrem spannenden Plot und dröselt die offenen Fäden bis zum Schluss glaubwürdig auf. Ich mag ihren Schreibstil und hre Herangehensweise an die heiklen Themen dieser Geschichte, die zudem je nach Figur unterschiedlich interpretiert werden und mich zu eigenem Nachdenken inspirieren.
Im Nachwort schreibt Grebe: „Es sind mehr Menschen auf der Flucht als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. […] Mein Ormberg gibt es eigentlich nicht, aber es existiert trotzdem – überall um uns herum. Vielleicht wohnt du in Ormberg, ohne es zu wissen. [… ] Du könntest die sein, die vor Krieg und Hunger geflohen ist, sagt Andreas zu Malin. Und diese schlichte, aber zugleich wichtige Botschaft wollte ich mit diesem Buch vermitteln.“
btb
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Originaltitel: HUSDJURET
Originalverlag: Wahlström & Widstrand
Paperback/Klappenbroschur
608 Seiten
ISBN: 978-3-442-71881-8
Erschienen am 09. September 2019 Leseprobe
Angefangen zu lesen habe ich das Post-Corona-Buch des Zukunfsforschers Matthias Horx als George Floyd noch lebte. Nach dessen Tod habe ich es weitergelesen. Der Tod eines Menschen kann den Blick verändern. Die Umstände, unter denen wir ein Buch lesen, wirken sich auf die Leseerfahrung aus und verändern unsere Haltung.
Buchcover
Horx benutzt in seiner Vision von der Zeit nach Corona den Begriff Re-Gnose. Der Rückblick aus der vorgestellten Zukunft sozusagen. Vor zwei Monaten war ich diesbezüglich hoffnungsvoller, heute stelle ich fest, dass sich meine Re-Gnose in den letzten Wochen wieder verdüstert hat.
Höre ich Horx als Leserin zu, tue ich das als weiße Frau, geboren in einem der reichsten Länder der Welt, doch wie würde ich Horx lesen, wenn ich als dunkelhäutige Schweizerin geboren wäre? Und wie als Nigerianerin oder Chilenin? Und wie als Chinesin oder als Inderin? Gedanken, die ich mir in der letzten Zeit immer häufiger stelle. Nicht nur wenn ich ein Buch lese. Würde ich mich in den Szenarien, die der Autor hier entwirft, wiederfinden?
Ich verdanke den letzten Monaten ein wachsendes Bewusstsein für meine Privilegien, für die ich größtenteils nichts kann. Dass ich in einem Land lebe, dass die Verbreitung des Virus im Verhältnis zu anderen Ländern durch einen – wenn auch späten – Lockdown dimmen konnte, ist ein weiteres Privileg.
Am Anfang gefiel mir Horx’ visionäre Kopf-und-Herz-Reise in seine mental-psychische Dimensionen von Krise und Krisenlösungsversuch. Die Ansätze, die er entwirft, wollen Mut machen, die Welt besser zu gestalten. Wie wäre es, wenn ich in einigen Monaten, im Rückblick auf heute, auf April 2020, auf März 2020, lauter heilsame Erfahrungen aufzählen könnte, die von dort aus in die nahe und weitere Zukunft weiterwachsen? Wäre das nicht wunderbar?
Nein, Horx ist kein Phantast. Was er aufzählt, was er in Betracht zieht, wäre durchaus machbar. Theoretisch jedenfalls. Jedenfalls wenn wir Menschen nicht so wären, wie wir Menschen nun mal sind. Und ich glaube, das ist es schließlich auch, was mich immer mehr stört. Oder vielleicht beneide ich ja einfach nur Matthias Horx für seine Fähigkeit, sich die Welt so schön vorstellen zu können? Vielleicht bin ich neidisch darauf, dass jemand noch so viel Hoffnung auf eine bessere Welt haben kann?
Ich bereue es nicht, dieses Buch gelesen zu haben. Einige Gedanken haben mich sehr angesprochen, andere haben mich aufgewühlt, manches kam mir bekannt vor. Zum Beispiel habe ich mich in Horx’ depressiven Freund Ferdinand wiedererkannt. Dieser sei im Lockdown geradezu aufgeblüht.
»Bei Ferdinand hatte die Krise offenbar zwei Effekte gleichzeitig. Das, was er ständig prophezeiht hatte – dass alles zusammenbrechen würde –, war plötzlich Realität. Diesen Stimmigkeitseffekt hat bereits Charlotte Roche, die Autorin von Feuchtgebiete, beschrieben. Sie schilderte in ihrem Blog das Gefühl, in einer Welt aufzuwachen, in der all die Ängste, die man in sich trägt, plötzlich Wirklichkeit geworden sind. Roche hat ein schweres Trauma davongetragen, als ein Teil ihrer Familie bei einem Autounfall ums Leben kam. ’Jetzt ist das, was draußen passiert, im Gleichklang mit drinnen«, beschrieb Roche nun ihr Corona-Gefühl.’« (Zitatende)
Na ja, zwar bin nicht gerade aufgeblüht, aber das Phänomen, das Horx beschreibt, kommt mir doch bekannt vor. Da fürchtet man sich ständig vor Weltuntergängen und dann geht die Welt tatsächlich – jedenfalls gefühlt – ein wenig unter. Und – tada! – wir sind noch da, wir haben es überlebt. Corona-Syndrom nennt Horx das. Innen und außen im Gleichklang nennt es Roche.
Für mich, die ich aus Gründen eh sehr zurückgezogen lebe, fand noch ein weiterer Gleichklang statt, eine Art Angleichung an die Masse, denn auf einmal war mein Lebensstil die Norm. Und ja, das hat sich nicht mal so schlecht angefühlt. Auch die ungewohnte Ruhe da draußen, am Himmel, auf den Straßen, hat mir gefallen.
Wie gesagt: Vieles, was Horx schreibt, ist inspirierend, spannend, mutmachend. Doch da ist eben auch dieser so deutlich im reichen Westen verortete, satte Blick, der mich nicht wirklich davon überzeugt, dass wir Menschen in der Lage zu solch grundlegenden Wandlungen sind. Wir sind zu konsumgewohnt, zu träge, zu satt, zu gierig. »Mit den Schlüssen, die er aus dieser Erkenntnis zieht, bleibt er jedoch in der Mitte wohlhabender Industrienationen, in denen die Menschen sich um ihre innere Entwicklung kümmern können, um einen inneren Sinn fernab von Wachstum und Konsum zu finden. Ein sanfter Wandel, der das System nicht gefährdet,« schreibt auch Elke Engelhardt (hier) über Horx’ Aufsatz.
Selbstverständlich ist Horx’ langes Essay weder Anleitung, noch Prophezeiung noch Lehre, sie ist eine Möglichkeit, ein Versuch, die Welt anders zu sehen. Sie ist ein Spiel mit den Möglichkeiten. Ich lese von viel Hoffnung, viel Vertrauen und vor allem von viel Konjunktiv.
So oder so: Wenn wir etwas verändern wollen, braucht es viel Bewusstsein und den Mut, genau hinzuschauen. Auf uns. Wie wir leben, was wir wollen, wohin die Reise gehen soll.
Herzlichen Dank an den Autor und den Econ-Verlag für die anregenden Lesestunden.
Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona.
Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert.
»Es geht um Depression, Trauer, kleine Brüder und um die langsamste Verfolgungsjagd in der Geschichte der Verfolgungsjagden.« So beschreibt die Autorin Jasmin Schreiber ihr Buch Marianengraben auf ihrer Webseite. Was irgendwie stimmt, aber irgendwie auch viel zu tief stapelt. Denn das Buch ist mehr. Es ist eine Liebeserklärung an das Leben. Nun ja, nicht von Anfang an, denn am Anfang wird gestorben. Paulas zehnjähriger Bruder Tim ertrinkt. In den Ferien. Und Paula, die Ich-Erzählerin, ist nicht da, um ihn zu retten.
Cover des vorgestellten Buches
Paula, die kurz vor ihrer Doktorarbeit als Biologin steht, fällt in eine tiefe Depression. Zwei Jahre lang mäandert sie in tiefer Trauer durch ihr Leben und beginnt schließlich und endlich mit einer Therapie. Ihr Therapeut, mit dem sie – um dem Kern ihres Schmerzes nicht in die Augen schauen zu müssen – stundenlang über Kochrezepte diskutiert, gibt Paula den entscheidenden Schubser, der dazu führt, dass Paula eines Nachts Helmut kennenlernt. Eine turbulente Begegnung mit Folgen, die weder Paula noch Helmut hätten ahnen können. Und Hündin Judy schon gar nicht.
Paula begibt sich spontan zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise. Und es wird eine von jene Reisen, die Menschen zuweilen brauchen, um zu sich selbst zurückzufinden. Paula, von Helmut zuweilen Heulboje genannt, da sie beim kleinsten Anlass in Tränen ausbricht, erzählt hier von ihren Erlebnissen nach dem Tod ihres Bruders und so ist dieses Buch letztlich ein einziger langer Brief an Tim, in welchem sie sich immer wieder an Gespräche mit ihm erinnert. Und an seine Begeisterung für das Meer, deren tiefste Stelle, der Marianengraben, den Titel für das Buch liefert. Aus Gründen. (Und ganz nebenbei lernen wir auch viel über die Tiefen der Tiefsee.)
Weil sich Paula an Gespräche erinnert, erfahren wir viel über die Dynamik ihrer Beziehung zu Tim. Ihre Kapitel benennt Paula nach der jeweils aktuellen Tiefe ihres persönlichen Marianengrabens, dem Synonym für ihre Trauer.
»Jetzt liebe ich dich nur noch gefangen in einer Zwischenwelt aus Präteritum und Konjunktiv und in einer Realität, die vor deinem Tod ein Leben und danach nur noch ein Zustand war.« (S. 9.)
»Ich hatte schon oft in meinem Leben das Gefühl, einsam zu sein. […] Aber erst jetzt verstand ich, dass man nur wirklich einsam ist, wenn man zurückbleibt, wenn man übrig ist. Und dann fährt man in die Berge, weil sie so unendlich groß und mächtig sind und man selbst so klein, und man hofft, dass das irgendetwas kompensiert. Dass die Weite des Gebirges den Raum ausfüllen kann, den der andere zurückgelassen hat, dass das Schmelzwasser der Gletscher in alle kleinen Ritzen und Lücken eindringt und alles wieder mit Leben befüllt. Aber kein Gebirge der Welt kann diese Leere kompensieren.« (S. 52)
Jasmin Schreiber, ursprünglich Biologin wie Paula, schöpft, was das Sterben betrifft, aus einem tiefseetiefen Erfahrungsschatz. Sie begleitet ehrenamtlich Eltern, deren Kinder im Sterben liegen oder gerade gestorben sind. Als ehrenamtliche Trauerbegleiterin weiß sie, wovon sie redet. Und auch Depressionen sind ihr persönlich bekannt.
Ihre beiden Figuren hat sie sehr glaubwürdig und vielschichtig gezeichnet. Helmut und Paula kommen sich im Laufe der Reise, die sie zusammen unternehmen, innerlich näher und teilen Gefühle und Gedanken um geliebte und verstorbene Menschen. Sie sprechen sozusagen die gleiche Sprache, die Sprache der Trauer.
»Wenn Trauer eine Sprache wäre, hätte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich, nur mit einem anderen Dialekt.« (S. 96)
Wer jetzt aber meint, dass Marianengraben ein furchtbar trauriges Buch sein muss, täuscht sich. Und zwar mega. Noch nie habe ich über Trauer so ein witziges Buch gelesen, und das ohne jegleiche Plattheiten, Geschmacklosigkeiten oder Kitsch. Wer allerdings Heile-Welt und Happy End sucht, ist hier falsch.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gleichzeitig so viel gelacht und geweint habe. Trotz aller Situationskomik erzählt die Autorin hier eine sehr schmerzhafte Geschichte, eigentlich sogar mehrere. Geschichten aber, die mich allesamt – mit meinen eigenen Trauergeschichten – ein bisschen getrösteter zurücklassen. Und die mir Hoffnung schenken. Und immer wieder ein Lächeln.
Ich bedanke mich sehr herzlich bei der Autorin und beim Eichborn-Verlag für das nicht nur innen, sondern auch außen wunderschön gestaltete Buch.
Dass Manfred Keitel ein sehr inniges Verhältnis zu Sprache hat, wird mir spätestens beim Öffnen des kleinen Büchleins klar. Schnell bekomme ich den Eindruck, dass der Autor inmitten von Wörtern lebt. Da ist etwas Organisches, Selbstverständliches, das mich sofort berüht. In seinen fünf Kapiteln lädt er uns ein, die Welt durch seine Augen und mit seinen Worten im Ohr zu betrachten und zu erfahren. Eine sinnliche, eine feinsinnige Reise.
Mal sind es melancholische Texte, mal heitere, mal absurde, komisch-verspielte, liebevolle, mal dem Tod hin-, mal der Liebe zugewandte. Allesamt mit einem feinen Gespür für die vielen Schichten mancher Worte, für Wendungen und Kontraste, für Quer-im-Raum-Stehendes und für Paradoxien geschrieben. Wenn ich mich auf die oft nur kurzen Texte einlasse, horche ich ihrem Nachhall; manche einzelnen Zeilen lese ich wieder und wieder, weil ich ihren Sinn und den Sinn dahinter und den darunter hören will, verstehen vielleicht sogar. Und jedes Mal sehe ich irgendwo noch ein weitere Bewegung, die ich beim ersten Lesen nicht gesehen habe. Das hier ist ein leises Buch, eins das inspiriert und zum Innehalten einlädt. Ich bin sehr angetan.
Es folgen ein paar Zitate.
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weiter hin
der Träumer ist weiterhin erwacht
Der Träumer ist weiterhin eine Katze
Zwischen Sternen ruhen Nächte
und er schläft doch nie
Was schläft ist anders wach
Es ist Gesang nur
und damit Welt
Weite weit aus die Ströme der Nacht
S. 9
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Ohne Deckel (Luftbestattung)
Ich wünsche ich könnte
Am dem Loch sterben
An der Lücke die er
In meinem Herzen
Dem daSein hinterließ
Mein Leben wäre erfüllt
[…]
S. 10
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Sternlüstergeflüster
ich bin den Sternen
von den Maschen gerutscht
für zu leicht befunden
im Staub zusammengekehrt
herab zum Ich geballt
nur wir im Dunkeln funkeln
glitzern sternschnuppenleer
S. 29
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alles rundum ist randvoll mit Heißhunger gestillt
keiner ist frei
Jeder bei sich
Selbst Wurzeln schlängeln
S. 51
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Kurz gesagt: Herzliche Leseempfehlung!
(Und nein, mein Büchlein ist kein Rezensionsexemplar. Ich habe es mir selbst geschenkt.)
Manfred Keitel | nichts | Gedichte
Mit einem Nachwort: Erratanomicon.
Mai 2019. 62 S.
Titelbild von Peter Thiersch. Umschlaggestaltung von Anke Enzmann
Format 12,8 x 20,8 cm.
ISBN 978-3-936905-71-7
Verlag ERV
13,80 €
Die junge Französin Pauline Delabroy-Allard schreibt als ginge es um Leben und Tod. Und letztlich tut es das auf temporeiche, geradezu schwindligmachende Weise auch.
Das hier ist eine Liebesgeschichte, wie ich sie so noch nie gelesen habe. Eine Amour fou, die je länger je mehr weh tut. Die zwei bis dahin heterosexuellen jungen Frauen – Sarah und die Ich-Erzählerin – begehren und lieben sich schon bald mit einer Raserei, die einem Flächenbrand ähnelt. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein. Sarah, klassische Musikerin und Künstlerin, lebt zudem so ganz anders als die Ich-Erzählerin, die als Lehrerin arbeitet. Schon bald können die beiden nicht mehr ohne einander sein. Doch auch miteinander wird es immer schwieriger. So schwierig, dass die Ich-Erzählerin sich immer wieder krankschreiben lassen muss. Als Alleinerziehende mit einer kleinen Tochter und bis dahin immer zuverlässig Agierende steht ihre Welt auf einmal Kopf. Sie verliert ihre innere Mitte immer mehr, und der Boden unter ihren Füßen beginnt zu schrumpfen.
Es kommt wie es muss. Die beiden trennen sich. Das heißt, Sarah trennt sich von der Erzählerin. Doch nur, um immer wieder zu ihr zurückzukommen. Bis Sarah eines Tages ihrer Partnerin etwas erzählt, das das Leben der beiden noch grundlegender verändert als alles Bisherige.
Nach und nach wird Es ist Sarah auch zur Geschichte einer Depression, ja, es ist nicht zuletzt eine Geschichte zweier depressiver Frauen. Eine Geschichte von Verlassen und Verlassen werden. Eine Geschichte von Krankheit und der Sehnsucht nach Ganzheit. Eine Geschichte von der leisen Hoffnung, beim Versuch eines Tages wieder ein überschaubares, aushaltbares Leben zu führen, nicht kaputt zu gehen. Denn ja, dieses früher so normale, so alltägliche Leben ist für die Erzählerin inzwischen unvorstellbar geworden.
Pauline Delabroy-Allard hat mich mit ihrer eindringlichen Sprache und der allumfassenden Sinnlichkeit ihrer Erzählung buchstäblich aus den Socken gehauen. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, bis ich es fertig hatte. Weil es mitreißt. Weil es so rasant, so intensiv, so berührend, so erschöpfend, so aufwühlend geschrieben ist. Und so traurig. Es nicht gelesen zu haben, wäre allerdings keine Option.
Ich bedanke mich herzlich bei der Frankfurter Verlagsanstalt und der Autorin, die mir mit diesem Rezensionsexemplar aufwühlende Lesestunden geschenkt haben.
Frankfurter Verlagsanstalt FVA
Übersetzt von Sina de Malafosse
192 Seiten
Hardcover
Ca. € 22,– (Print, D), € 14,99 (eBook, D)
ISBN 978-3-627-00266-4 (Print), 978-3-627-02276-1 (eBook) FVA