Es hat gedauert, bis ich mich an den autofiktiven Roman der Frankfurter Soziologin Minka Pradelski gewagt habe. Bereits letzten Sommer habe ich diesen Buch bekommen, doch das Lesen immer wieder vor mich her geschoben. ’Es wird wieder Tag’ erzählt die Geschichte der jungen Familie Bromberger im und nach dem zweiten Weltkrieg. Wir lesen hier die Geschichte zweier KZ-Überlebender und ihres nach dem Krieg geborenen Kindes.

Allen drei Stimmen erteilt Pradelski abwechselnd das Wort. Als Leser:innen begleiten wir Klara, Leon und schließlich auch deren Sohn Bärel durch die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Wie der Sohn der beiden ist übrigens auch die Autorin in den ersten Nachkriegsjahren im Lager für Displaced Persons in Zeilsheim geboren. Ihr Roman erweitert mein Wissen um die Shoah um eine weitere persönliche Perspektive.
Das Schweigen, das sich nach dem zweiten Weltkrieg auf viele KZ-Überlebenden gelegt hat, um am Erlebten nicht zu zerbrechen, trifft auch Klara und Leon, denn vieles ist unaussprechlich. Alles verändert sich, als Klara eines Tages, bei einem Spaziergang mit ihrem Sohn, einer ihrer Aufseherinnen aus dem KZ begegnet. Ihre Wege kreuzen sich, doch Klara gibt sich nicht zu erkennen. Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass sie ’Liliput’ gesehen hat.
Diese Begegnung triggert sie zutieftst und ihre traumatischen Erlebnisse tauchen aus dem Verdrängen an die Oberfläche. Klara gerät in eine existenzielle Krise, die alle Ängste, alle gesammelten Erfahrungen und gemachten Erlebnisse in die Gegenwart holt; sie droht daran zu zerbrechen.
Leon, der ebenfalls einige Jahre in einem KZ verbracht und wie Klara nur knapp überlebt hat, verzweifelt beinahe. Auch weil Klara ihren Sohn vernachlässigt. Dennoch wollen beide nicht, dass Leon Bärel bei Verwandten unterbringt. Klara weigert sich, Hilfe von außen anzunehmen oder sich in eine Klinik zu begeben. Als Leon sich keinen Rat mehr weiß, fordert er Klara auf, alles aufzuschreiben. Ihre Geschichte in Worte zu fassen. Das tut sie schließlich auch und es hilft ihr tatsächlich.
Nach dem Prolog des Romans, in welchem Bärel sein Geburtserlebnis aus der Sicht eines neunmalklugen Kindes erzählt, übernimmt Klara den Faden und erzählt von ihrer Kindheit und Jugend, der Umsiedlung in ein polnisches Ghetto und der Flucht aus diesem, vom Aufenthalt im KZ und ihrer dortigen Arbeit in einer Flugzeugfabrik. Sie erzählt, was sie nach dem Ende des Krieges erlebt hat und sie erzählt vor allem von ’Liliput’, jener Aufseherin, welche sie kürzlich auf der Straße gesehen hat, die damals mit ihrer subtil ausgeübten Macht das ganze Lager dominiert und schikaniert sowie sich am quslvollen Sterben vieler Gefangener schuldig gemacht hat.
Unterbrochen wird ihre Geschichte mit von Bärel erzählten Momentaufnahmen aus der Gegenwart der Protagonist:innen. Die Familie hat sich nach dem Krieg in Frankfurt ein neues Leben aufgebaut. Leon ist ein geschickter Geschäftsmann, der sich anfänglich mit Schwarzhandel und später mit einer Transportfirma einen Namen gemacht hat. Über allem schwebt der Traum von der Auswanderung nach Amerika.
Erst im vorletzten Kapitel hören wir Leons Geschichte und erfahren, wo und wie sich das Paar kennen- und liebengelernt hat. Auch seine Erfahrungen gehen mir sehr unter die Haut und ich bewundere seine Überlebenskräfte und -strategien.
Sowohl er als auch Klara erzählen sehr nüchtern, beinahe unemotional. Beide schönen ihre Erfahrungen nicht. Eindrücklich jene Szene, in welcher Klara als Fünfzehnjährige aus dem Ghetto flieht. Da ist keine Dankbarkeit gegenüber ihren Eltern dafür, dass sie ihr die Flucht ermöglicht haben.
Zu guter Letzt hören wir wieder Bärel, der inzwischen schon ein paar Jahre alt ist. Gewohnt neunmalklug und für meinen Geschmack schon von Anfang an ziemlich überzeichnet und allzu zynisch erzählt er aus seinem Alltag. Er fand sich erst allmählich mit der Tatsache ab, dass diese beiden Menschen tatsächlich seine Eltern sein sollen. Seine Zugewandtheit zu ihnen wächst erst allmählich. Fast hätte Bärel es übrigens geschafft, dass ich das Buch nach dem Prolog zugeklappt und auf die Seite gelegt hätte. Doch zum Glück habe ich weitergelesen.
Minka Pradelski hat mit ’Es wird wieder Tag’ einen wichtigen Beitrag zum Thema Judenverfolgung im Nationalsozialismus geleistet. Zwar habe ich schon viele Bücher über das Leben in Konzentrationslagern gelesen, doch über die Jahre des Wiederaufbaus ist mir wenig bekannt.
Die Autorin ist eine sehr exakte Beobachterin, die kluge, passende, berührende Worte für ein historisches und persönliches Trauma gefunden hat. Weder sentimental noch moralisierend macht sie sichtbar, was Krieg mit Menschen macht.
Minka Pradelski ist ein wichtiges, lesenswertes Buch gelungen. Ich danke ihr und der Frankfurter Verlangsanstalt für die aufwühlenden Lesestunden mit meinem Rezensionsexemplar.
FVA
384 Seiten
August 2020
Hardcover
ISBN 9783627002770
24,00
E-Book
ISBN 9783627022877
15,99 €