Wie ist das jetzt eigentlich mit dieser neuen Etikette mit den vier Großbuchstaben an meiner linken Zeh, was macht sie mit mir? Obwohl ich insgeheim schon längst geahnt hatte, dass ich ein ADHS-Hirn habe, ist es doch irgendwie anders, diese Diagnose endlich hochoffiziell zu wissen. Auch wenn Diagnosen letztlich nur Werkzeuge, nur Hilfsmittel sind, um uns Verständnis für unsere Verschiedenheiten, unsere Diversitäten zu verschaffen.
»Es gibt keine zwei Gehirne, die sich gleichen. Menschen denken unterschiedlich und stellen auf verschiedene Weisen Bezug zur Welt her. Was ist Neurodiversität, und wie gehen wir damit um?«, fragt André Frank Zimpel, Psychologe und Professor mit dem Schwerpunkt ’Lernen und Entwicklung’. Er fragt es in einem Podcast, den neulich Herr Buddenbohm in seinem Blog empfohlen hat.
Neurodiversität | Zwar anders, aber völlig richtig im Kopf
Bei dieser Podcastfolge handelt es sich um einen Vortrag, den Zimpel am 3. April 2023 im Rahmen der ’Vorlesung für alle’ der Uni Hamburg im Dialoghaus Hamburg gehalten hat.
Er vergleicht das menschlich Gehirn mit Schneeflocken. Von weitem sehen sie alle gleich aus, aus der Nähe betrachtet ähnelt keins dem anderen. »Wir können mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen, es gibt keine zwei Personen, deren Gehirn sich gleicht. Und das ist die Grundlage für Neurodiversität.«
André Frank Zimpel ist Psychologe, Erziehungswissenschaftler und leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung in Hamburg Eppendorf. Dort erforscht er mit seinem Team, wie unterschiedlich Menschen denken, lernen, wahrnehmen oder Probleme lösen. »Neurodiversität überfordert unsere Gesellschaft oft, hauptsächlich die Menschen, die es betrifft, aber auch die Umgebung, wenn Neurodiversität nicht erkannt wird und nicht verstanden wird.« (Ich zitiere hier die Podcast-Webseite des Deutschlandfunks Nova (Hörsaal), wo der Podcast direkt gehört werden kann.)
Dass wir alle auf ganz verschiedene Weisen der Welt begegnen, ist an sich kein Problem. Doch […] unserer Gesellschaft orientiert sich in vielen Hinsichten an der Gruppe der so genannten ’neurotypischen’ Menschen.
Er erzählt von sich als Synästhesie-Betroffenem und spricht das Bilddenken an. Ich höre zu und weiß ganz genau, wovon er spricht. Ja, hier geht es um Menschen wie mich und um meinesgleichen. Mit vielen anschaulichen Beispielen illustriert er, was ich genau verstehe. Wie unterschiedlich Lernen sein kann. Und wie wichtig es ist – für uns alle, insbesondere aber für Eltern und Lehrende –, diese Unterschiede zu kennen und zu verstehen, denn wenn es um Schule und Erziehung geht, passt das klassische Schema des Unterrichtens und Lernens für viele Menschen nicht. In den regulären Schulen sind Unterricht und soziale Erwartungen vor allem an Sprache orientiert. In Förderschulen ist jedoch der Anteil von Kindern, die stark bildbezogen denken, besonders hoch. Das gleiche gilt für die Gruppe der Hochbegabten, auch bei ihnen dominiert das Bilddenken. Das sollte uns zu denken geben, sagt Zimpel.
»Wenn Neurodiversität ignoriert wird, dann haben wir viele Probleme. Immer wieder stellen wir fest, dass wir keine Lernbehinderung oder keine geistigen Behinderungen vorfinden, sondern dass wir Menschen haben, die einen anderen Bezug zur Welt herstellen«, so Zimpel und illustriert, wie anders zum Beispiel gerechnet wird, wenn sich jemand die Welt über Bilder erschließt.
Wenn wir mehr Diversität zulassen, wenn […] Schulen sich auf unterschiedliche Lernwege einstellen, führe das auch zu größeren Lernerfolgen. Bei seinen Studien stellten sie immer wieder fest, dass Menschen mit verschiedenen Syndromen – ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche, Trisomie 21 oder Dyskalkulie – keine Lernbehinderung oder geistige Behinderung hätten, sondern einen anderen Bezug zur Welt herstellten.
Diversitäten sind von der Natur vorgesehen, Diversitäten sind wichtig, ohne sie leidet das Gleichgewicht. Wir Menschen sind unglaublich unterschiedlich und genau das macht uns reich. Und auch die nichtmenschliche Natur ist divers. Und das soll auch so bleiben.
Darüber erzählt die Biologin und Autorin Jasmin Schreiber in ihrem Artikel Ecological Grief, oder: das Unfassbare fassbar machen.
Jasmin erzählt, wie wir biologische Vielfalt besser verstehen können. Ein Artikel, der sehr grundlegende Themen anschneidet und den ich hier herzlich gern weiterempfehle.