Innehalten

Kann man ein Buch so (und ähnlich und anders) schreiben, was meint ihr?

Eine kleine Kostprobe aus meinem aktuellen Buchprojekt:

Kapitel 97_ […] Auf den Großtierzoo von Järvsö übersetzt: haben es jene Tiere leichter, die resigniert haben und sich mit den zugegeben riesigen Gehegegrenzen abfinden oder jene, die ständig in der Nähe der Grenzen herumschleichen, hoffend sie öffnen sich. Wenn ja, was dann? Was würden sie mit jener Freiheit anfangen. Da haben es wohl die in Gefangenschaft geborenen leichter.

In Gefangenschaft geboren – wie ich. Wie wir alle. Gefangen. Dochdoch, mir geht’s gut, danke. Ich habe ja frei, Urlaub. Neinnein, es ist nicht die Arbeit, die mich gefangen hält.

Illusion beides, die Gefangenschaft ebenso wie die Freiheit. Nur das Leben, das ist echt. Die Elche, Wölfe und Rentiere ebenso. Und ich auch.

Auf der Weiterreise Richtung Süden denke ich oft: Ich will da ja gar nicht hin, wo ich hinfahre. Ich will hierbleiben. Oder zumindest endlich herausfinden, was ich wirklich will. Und mir klarwerden, was Freiheit, meine persönliche Freiheit bewirken kann. Gas- und Bremsfuß sind sich uneinig.

Natürlich siegt die Vernunft. Siegen Pflichtbewusstsein und der Ruf der Normalität. Wir kehren eines schönen Samstagabends wieder auf den Hof zurück. Seltsame Zwischenwelt. Wieder da. Noch nicht da. Noch nicht Alltag.

Der Alltag holt mich erst am Montagmorgen wieder ein. Im Büro. Wie nach einer Einweihung fangen die eigentlichen Herausforderungen erst dort an, wo wir diese unfassbare Zwischenwelt des Geprüftwerdens wieder verlassen.

Was will ich hier? Der Kehrreim meines Lebens holt mich nach der Reise durch Skandinavien mit einer Wucht ein, die ich nicht erwartet hätte. Was will ich wirklich? Was will ich mit meinem Leben?

[Kapitel 98_ …]

Kapitel 99 _ Hier. Jetzt. Ende Mai 2015. Draußen ein Tag, der nicht so recht weiß, was er will. Ein bisschen Sonne, ein bisschen Sturmwind, Hochnebeldecke mit blauen Klecksen. Kurz nach eins. Ich bin seit Stunden am Schreiben. Zwischendrin kam K., mein Exmann, der ebenfalls wieder glücklich liiert ist, vorbei, um eine Pflanze, die ich ihm versprochen hatte, abzuholen. Danach telefonierte ich lange mit Irgendlink, der gestern nach zehn Tagen gemeinsam verbrachter Zeit wieder nach Hause gefahren ist.

In drei Wochen wird er aufbrechen und ans Nordkap radeln. Diesmal, so ahne ich, wird er es schaffen. Vor zwanzig Jahren drehte er um, weil sie, sein Freund P. und er, keine Lust mehr hatten, dem kalten, regnerischen Wetter zu trotzen. Vor fünf Jahren drehten wir beide um, weil wir zu wenig Zeit im Gepäck hatten.

Doch diesmal radelt er früher im Jahr los. Nur auf sich selbst gestellt, allein, aber mit einer Gruppe Menschen im Rücken, die mitfiebern werden. [Hier kann man seinen Rücken stärken: → klicken!]

Nicht dass er nicht wieder umdrehen dürfte, das darf er. Er kann scheitern. Er darf scheitern. Auch das habe ich von ihm gelernt. Zu scheitern ist kein Makel. Auch schwach zu sein, auch um Hilfe zu bitten, nicht. Er darf seinen Weg so gehen, wie er will. Und er geht seinen Weg so, wie ihn außer ihm niemand gehen kann. Das ist wohl – in Kurzform – etwas vom wichtigsten, was ich in den letzten Jahren gelernt habe. Und es ist wohl das, was hinter dem Satz, dass das Leben ein Geschenk sei, in Wirklichkeit steckt. Nur ich kann so, wie nur ich kann. Im falschen Tontopf habe ich zu lange gesteckt. In der falschen Ecke des Gartens gestanden. In den falschen Schuhen bin ich gewandert. Zu lange.

Es ist die Liebe zu mir selbst, die mir geholfen hat, endlich die zu sein, die ich immer schon gewesen bin. Und es ist diese Fähigkeit, die mir letztes Jahr bei Pilgern endlich nachgewachsen ist: Dass manche Dinge nicht zu ändern sind. Und darum einfach zu akzeptieren. Ohne zu hadern.

Einfach ja sagen. Einfach? Nun ja, einfach ist nicht einfach. Aber es tun, tut gut.

Über Privilegien und die Wut im Bauch

Er sitzt einfach da. Der Kaffee ist kalt geworden. Später Nachmittag und er kritzelt Männchen. Und Kreise. Pfeile. Ein bisschen Voodoo auf Papier. In seinem Bauch grummelt es. Dieses Telefongespräch eben, mit seinem Vermieter. Diese Intoleranz. Zum Kotzen.

Wut. Wut ist jene Kraft, die ihn antreibt. Erfüllt. Mehr als jede andere. Wut darüber, dass die Welt nicht ideal ist. Wut darüber, dass so viele Menschen nicht sehen nicht sehen wollen! wie die Welt vor die Hunde geht. Dass die Welt auf die Hilfe jedes einzelnen angewiesen ist. Dass sie ihr Umdenken, ihre Solidarität braucht. Da ist Wut in ihm, heiße Wut, auf all jene Menschen, die mit andern, schwächeren Menschen – weil sie kein Geld haben oder weil sie zu dumm sind, es zu merken – umspringen wie mit Marionetten. Ausbeutung. Missbrauch. Und da ist auch Wut darüber, dass er zu den Privilegierten gehört, ja, auch diese Wut spürt er. Wut darüber, dass er in meiner sogenannten Privilegiertheit doch so verdammt hilflos ist. Oder vielleicht resigniert. Oder phantasielos.

Ja, da ist auch Wut darüber, dass die Welt schon so starr ist, dass sich in unserm Alltag so wenig verändern lässt, neu erfinden, neu erschaffen. Oder fehlen ihm bloß die Ideen, wie er diese Welt zu einem bessern Ort mitgestalten könnte? Oder das Selbstvertrauen … Und vielleicht ist er, geht es ihm durch den Kopf, sogar am allermeisten wütend genau darüber, dass er gar nicht so anders ist als alle andern. Er schüttelt den Kopf.

Die Wut steht ihm im Weg. Will er vorwärts, steht sie da. Will er nach links oder nach rechts, steht sie da. Und hinten? Auch da steht sie. Sie verhindert, dass er etwas tun kann. Sich zu verändern zum Beispiel. Dankbarer zu werden, wie Christa ihm einmal vorgeschlagen hat. Dankbar dafür, dass er in einem sicheren Land lebe. Dass er ein Dach über dem Kopf habe, genug Geld auf dem Konto für die Wohnungsmiete und das Brot auf dem Tisch.

Was für eine Arroganz! Er redet laut. Es hört ihn ja doch niemand. Was für eine Arroganz, zu denken, dass das besser ist als … okay. Aus den Augen der Ärmsten dieser Welt sind das gewiss Vorteile, große sogar, Vorteile, die das Leben erträglich machen. Aber dennoch ist es doch auch anmaßend, wissen zu meinen, was andere wollen oder brauchen. Schlussfolgerungen treffen wir immer aus der Warte unseres Wissensstandes, unserer Erkenntnisse, unserer Erfahrungen … Er schreibt diesen Satz auf. Er scheint ihm wichtig. Wissen. Erkenntnis. Erfahrung. Kreist die Worte ein. Fährt den Buchstaben wieder und wieder nach – solange bis die Wörter ihren Sinn verloren haben. So ist es doch. Je älter er wird, desto weniger glaubt er daran, dass unser Wissen, dass unsere Erfahrungen und Erkenntnisse wahr sind. Wahr im Sinne von allgemeingültig.

NEIN!, schreibt er groß. All sein Wissen ist doch immer nur eine Momentaufnahme – gemessen an der Ewigkeit kleiner als ein Pünktchen.

Auf einmal kann er durchatmen. So lässt sich die Wut halbwegs ertragen, sie schrumpft und wird relativ.

Seine Augen werden nass. Es tropft auf die Kritzelei. Das große NEIN verschwimmt. Sehnsucht steigt auf, denn noch immer will sein Herz an die Liebe glauben und daran, dass sie die einzige Kraft ist, die wirklich zählt, die wirklich verändern und heilen kann, die wirklich wirklich ist. Er will. Jetzt. Obwohl sie kaum mehr zu erkennen ist, so sehr wurde sie verkleidet, übermalt, mit Füßen getreten, pervertiert und ins Gegenteil verdreht.

Ist sie wirklich unkaputtbar? Wenn es denn etwas göttliches gäbe, dann sie. Wenn …

(Ausschnitt aus dem Manuskript von Loch im Eis, Rohfassung 2014, © by Sofasophia)