Er sitzt einfach da. Der Kaffee ist kalt geworden. Später Nachmittag und er kritzelt Männchen. Und Kreise. Pfeile. Ein bisschen Voodoo auf Papier. In seinem Bauch grummelt es. Dieses Telefongespräch eben, mit seinem Vermieter. Diese Intoleranz. Zum Kotzen.
Wut. Wut ist jene Kraft, die ihn antreibt. Erfüllt. Mehr als jede andere. Wut darüber, dass die Welt nicht ideal ist. Wut darüber, dass so viele Menschen nicht sehen – nicht sehen wollen! – wie die Welt vor die Hunde geht. Dass die Welt auf die Hilfe jedes einzelnen angewiesen ist. Dass sie ihr Umdenken, ihre Solidarität braucht. Da ist Wut in ihm, heiße Wut, auf all jene Menschen, die mit andern, schwächeren Menschen – weil sie kein Geld haben oder weil sie zu dumm sind, es zu merken – umspringen wie mit Marionetten. Ausbeutung. Missbrauch. Und da ist auch Wut darüber, dass er zu den Privilegierten gehört, ja, auch diese Wut spürt er. Wut darüber, dass er in meiner sogenannten Privilegiertheit doch so verdammt hilflos ist. Oder vielleicht resigniert. Oder phantasielos.
Ja, da ist auch Wut darüber, dass die Welt schon so starr ist, dass sich in unserm Alltag so wenig verändern lässt, neu erfinden, neu erschaffen. Oder fehlen ihm bloß die Ideen, wie er diese Welt zu einem bessern Ort mitgestalten könnte? Oder das Selbstvertrauen … Und vielleicht ist er, geht es ihm durch den Kopf, sogar am allermeisten wütend genau darüber, dass er gar nicht so anders ist als alle andern. Er schüttelt den Kopf.
Die Wut steht ihm im Weg. Will er vorwärts, steht sie da. Will er nach links oder nach rechts, steht sie da. Und hinten? Auch da steht sie. Sie verhindert, dass er etwas tun kann. Sich zu verändern zum Beispiel. Dankbarer zu werden, wie Christa ihm einmal vorgeschlagen hat. Dankbar dafür, dass er in einem sicheren Land lebe. Dass er ein Dach über dem Kopf habe, genug Geld auf dem Konto für die Wohnungsmiete und das Brot auf dem Tisch.
Was für eine Arroganz! Er redet laut. Es hört ihn ja doch niemand. Was für eine Arroganz, zu denken, dass das besser ist als … okay. Aus den Augen der Ärmsten dieser Welt sind das gewiss Vorteile, große sogar, Vorteile, die das Leben erträglich machen. Aber dennoch ist es doch auch anmaßend, wissen zu meinen, was andere wollen oder brauchen. Schlussfolgerungen treffen wir immer aus der Warte unseres Wissensstandes, unserer Erkenntnisse, unserer Erfahrungen … Er schreibt diesen Satz auf. Er scheint ihm wichtig. Wissen. Erkenntnis. Erfahrung. Kreist die Worte ein. Fährt den Buchstaben wieder und wieder nach – solange bis die Wörter ihren Sinn verloren haben. So ist es doch. Je älter er wird, desto weniger glaubt er daran, dass unser Wissen, dass unsere Erfahrungen und Erkenntnisse wahr sind. Wahr im Sinne von allgemeingültig.
NEIN!, schreibt er groß. All sein Wissen ist doch immer nur eine Momentaufnahme – gemessen an der Ewigkeit kleiner als ein Pünktchen.
Auf einmal kann er durchatmen. So lässt sich die Wut halbwegs ertragen, sie schrumpft und wird relativ.
Seine Augen werden nass. Es tropft auf die Kritzelei. Das große NEIN verschwimmt. Sehnsucht steigt auf, denn noch immer will sein Herz an die Liebe glauben und daran, dass sie die einzige Kraft ist, die wirklich zählt, die wirklich verändern und heilen kann, die wirklich wirklich ist. Er will. Jetzt. Obwohl sie kaum mehr zu erkennen ist, so sehr wurde sie verkleidet, übermalt, mit Füßen getreten, pervertiert und ins Gegenteil verdreht.
Ist sie wirklich unkaputtbar? Wenn es denn etwas göttliches gäbe, dann sie. Wenn …
(Ausschnitt aus dem Manuskript von Loch im Eis, Rohfassung 2014, © by Sofasophia)