Versehrte Kindheiten

Bastard, dieser deutsche Psychothriller mit Martina Gedeck als Kriminalpsychologin, der zurzeit auf ARD Mediathek zu sehen ist, wartet mit Szenen auf, die beinahe die Netzhaut verätzen. Ein Film, der Bilder sichtbar macht, wie ich sie Tage vorher im neuen Buch von Linus Reichlin gelesen habe. In einem anderen Leben.

Zwar ist es unmöglich, beiden – Film und Buch – in diesem Artikel gerecht zu werden, da die Geschichten grundsätzlich verschieden sind; ich möchte einzig ein paar Parallelen erwähnen.

ReichlinCoverDie weibliche Hauptfigur aus Bastard, das Mädchen Mathilda, erinnert nämlich an das Kind, das die erwachsene weibliche Hauptfigur Nora in Reichlins neuem Roman, einmal war. Beide haben eine Kindheit erlebt, die keine war. Beide haben ihre Gespenster – auch Noras Partner und Ich-Erzähler Luis. Kindheiten, die keine waren. Eltern, Elternteile, die sich aus der Verantwortung gesoffen oder mit Pillen heraus katapultiert haben.

Während in Bastard dreizehnjährige Kinder versuchen, einzufordern, was ihnen versagt geblieben ist, versuchen Luis und Nora einen Weg zu finden, mit den Entbehrungen ihrer Kindheit umzugehen.

Im Film diese Szene, wo Mathilda nach Hause kommt und ihre Mutter, die den Tod des Vaters vor zehn Jahren noch immer nicht verarbeitet hat und mehr trinkt als ihr gut tut, vom Boden aufkratzt und in die Dusche schleppt. Natürlich hat sie nichts gekocht.

Im Buch diese Szene, wo Nora Luis erzählt, wie ihre Mutter jeweils in der chinesischen Reisschale ihre Tabletten vermörsert hat. In eine Wattewelt geflüchtet ist. Dem Kind nicht die Mutter war, die dieses gebraucht hätte. Versehrte Kinder.

Reichlin seziert die Gefühle der beiden, entblößt, schaut hin, schönt nicht, schreibt über Verdrängung so dicht, so unglaublich menschlich, so schwerzhaft präzis, dass wir nicht anders können als verstehen. Er macht es sich nicht einfach, wenn er beschreibt, wie sich Nora und Luis angesichts der Veränderungen, die sich in ihrem Leben abzeichnen, beinahe gegenseitig kaputtmachen.

Beinahe.

Buch und Film ist gemein, dass die Enden neue Anfänge sind Und dass sie Mut machen, wider alle Vernunft, Mut, dem Leben doch immer wieder neu zu vertrauen. Und dass trotz der erlebten Dramen neue Möglichkeiten warten.

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Bastard – Film von Carsten Unger
In einem anderen Leben – Roman von Linus Reichlin