neunzig und eins

Heute wäre der neunzigste Geburtstag meines Vaters. Sein Todestag jährt sich im Sommer zum zwölften Mal. Was sich doch seit seiner Geburt und nur schon seit seinem Sterben alles auf dieser Welt verändert hat! 1923 waren Atombombe und Internet bestenfalls Visionen einiger kranker Spinner. Als Vater geboren wurde – mitten zwischen zwei Kriegen, was er aber noch nicht wusste, als er Kind war – da war die Welt zwar nicht eine andere (zumindest der Mensch ist sich in etwa gleich geblieben), doch sie drehte sich doch noch ein klein bisschen langsamer.
In letzter Zeit lese ich immer häufiger Artikel über die digitale Verdummung, über die Sucht nach Internet und ewiger Verfügbarkeit. Als Handys aufkamen, gab es bald das Lager der VerweigererInnen, dem ich bis vor bald neun Jahren auch angehört hatte, und das derjenigen, die immer lauter das Segenslied der ständigen Erreichbarkeit sangen. Nein, ein Handy hatte mein Vater keins, doch Internet hat er am Rand miterlebt, ohne selbst im Netz gefischt zu haben.
Vor einigen Tagen habe ich endlich mit dem Buch Die Wand von Marlen Haushofer, drei Jahre vor meinem Vater geboren, zu lesen begonnen. Aus der Perspektive dieser surrealen und doch unglaublich glaubwürdig erzählten Geschichte aus den frühen Sechzigern kommen mir Dinge wie Internetabhängigkeit oder Zentralheizung äußerst seltsam vor. Mit der Protagonistin frage ich mich: Was zählt wirklich? Sie hat alles verloren, was ihr einst lieb war, und lebt seit Jahren allein in einer Waldhütte. Hinter einer unsichtbaren Wand, die einfach eines Morgens da war. Wegen der Wand hat sie alles verloren. Und sie hat dank der Wand alles gewonnen. Ihre Hände als Werkzeuge. Dazu einen Hund, eine Kuh, die bald kalbt und eine Katze. Ich stecke noch mittendrin und kenne das Ende der Geschichte nicht (doch ist es nicht immer so, irgendwie?).
Womöglich hätte die Ich-Erzählerin, als sie am Tag nach ihrer Ankunft in der Hütte auf der Suche nach ihren verschwundenen Freunden die tödliche Wand entdeckte, aufgegeben, wären da nicht die Tiere gewesen – und ihr Verantwortungsgefühl. Und wohl auch ihre Neugier. Sogar Hoffnung hatte sie noch, natürlich, am Anfang jedenfalls. Hoffnung, dass das alles nur vorübergehend inszeniert worden ist – die Wand als solche und ihre Gefangenschaft allein im Wald im besonderen.
Allmählich verändert sie sich und passt sich den neuen Umständen an. Sie lernt, unter Schmerzen und mit Schwielen und Blasen, einen Kartoffelacker anzulegen und zu bepflanzen, Holz zu sägen und zu spalten, die Kuh, die eines Tages auf der Wiese steht, zu melken, Gras zu mähen, Wild zu jagen. Zu überleben. (Ob ich das alles könnte? Rein handwerklich? Rein kräftemäßig?)
Noch spannender als der äußere Prozess, den sie durchläuft, finde ich den inneren. Die Veränderung ihrer Werte. Wenn eine Pinzette, die früher der (eitlen und sinnlosen) Augenbrauenzupferei diente, auf einmal notwendig für die Entfernung der vielen Splitter vom Holzhacken wird. Zum Beispiel.
Wäre ich sie, die Protagonistin, hätte ich wohl bald aufgegeben. Hätte sie auch aufgegeben ohne Tiere? Wie lange kann man autark leben? Wie lange klebt das zivilisierte Leben an einer und einem? Die Ich-Erzählerin verbietet sich müssiges Nachdenken über die Wand. Sie konzentriert sich auf das Überleben. Doch wie ich mich kenne, hätte ich wohl meine ganze Energie darauf verwendet, über die Wand und ihren Sinn nachzudenken. Herauszufinden, was sie für mich ist, wie ich mit ihr umzugehen habe, ihre Grenzen auszuloten. Ich hätte die Wand viel persönlicher genommen als die Protagonistin, da bin ich mir sicher. Doch wie die Figur im Buch hätte ich wohl auch Äste in die Erde gesteckt. Mir gefällt zum einen das Bild der allmählich austreibenden Äste, die sich der Mauer emporranken. Ich denke dabei ans Dornröschenschloss und seinen Zauber. Zum anderen veranschaulicht die Hecke das Eingesperrtsein nur umso deutlicher.
Was haben wir wirklich in unserer eigenen Hand? Wer sind unsere Verbündeten? Wer bekämpft uns? Wie können wir am besten leben? Wieso wollen wir weiterleben?
Hin und wieder denke ich an meine Geschichte Hinter dem Horizont. An die Parallelen. Überlebende (bei mir war es eine Weltüberschwemmung) versuchen sich das Leben so angenehm wie möglich zu machen – sobald die Grundbedürfnisse gestillt sind. Die Grauzone zwischen Grundbedürfnissen und Wohlfühl-Ansprüchen ist breit. Nur ein Minimum Wasser (für Kochen und Trinken) zu haben, wäre für mich ein großer Stressfaktor, denn Waschen ist für mich wichtig. Zum Beispiel. Was würde ich noch vermissen? Puh … Unsere Protagonistin vermisst im ersten Sommer Süßigkeiten sehr. (Oh ja, Süßes würde ich gewiss auch vermissen!) Der Zuckervorrat ist schnell aufgebraucht, doch allmählich lässt das Bedürfnis nach (der Entzug ist überstanden). Und sie beschreibt sich gesünder als je. Kein Kopfweh mehr. Weniger wird mehr. Eine Grenze wird zur Chance, sich zu finden.
Ist nicht letztlich jedes gelebte Leben ein Leben hinter einer Wand? Ist nicht die Welt eine einzige große, schöne, hässliche Illusion und sind nicht all die Möglichkeiten, die wir meinen zu haben, nichts als Augenwischerei? Einmal blinzeln, schon sind wir wieder weg. Trotzdem sind wir als Einzelne und als Kollektiv extrem auf uns fixiert, auf unsere Bedürfnisse, auf unser Vorankommen, auf Karriere, Reichtum, spitze Ellbogen, Leistung und Erfolg. Die Wand macht mir klar, dass ich noch immer nicht begriffen habe, was das Leben wirklich meint. Mehr auf alle Fälle.
Weil sich die Protagonistin das Grübeln über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbietet, verbietet sie sich auch zu trauern. Die Welt hinter der Wand, so erkennt sie, wenn sie auf dem Berg mit dem Fernrohr die Gegend absucht, ist tot. Alle ihre Lieben sind gestorben. Darum wird sie im ersten Winter von schrecklichen Albträumen heimgesucht, denen sie erst entgehen kann, nachdem sie sich ihren schweren Gedanken und der Trauer stellt, alles zulässt, Trauer, Schmerz, Sehnsucht Platz schafft. Wie beim Eiterherd, den sie im Kiefer hatte und eines Tages endlich aufzuschneiden wagte, wird auch nach dem Entschluss, alles zuzulassen wie es ist, ihr Leben erträglich.
Ich schweife ab. Mein Vater. Sein Neunzigster. Was würde er zur heutigen Welt sagen, er, der er dem neuen immer sehr aufgeschlossen gegenüberstand, obwohl er früher seine Freizeit und später, als Pensionierter, die meiste Zeit seines Lebens der Erforschung von Vergangenheit, von gelebter Geschichte, gewidmet hatte, was würde er sagen? Mit seiner elektrischen Schreibmaschine hackte er mit zwei Fingern seine Forschungsberichte und Archivtranskriptionen, die ihm viel Anerkennung und Aufmerksamkeit eingebracht hatten. Würde er noch immer forschen?
Danke, Vati, für all das, was ich von dir lernen durfte. Fragen stellen und an Lösungen glauben, zum Beispiel. Und improvisieren. Und Nägel einschlagen. Ich hoffe, dass ich das nie verlerne.
Heute ist Baby-N. bereits ein Jahr alt. Was wohl sein wird, wenn sie neunzig ist?
Gibt’s einen andern Grund ein Kind in Welt zu setzen, als die Hoffnung, damit ein klein wenig die Welt zu verbessern?, gedacht, als ich ihrer Mama, Freundin C.(2), heute Morgen meine lieben Wünsche smste.