Jetzt kann ich es nicht mehr leugnen. Wir fahren südwärts. Vorhin haben wir die Rückreiseroute ausballdowert. Uskavigården und Örebro sollen am Weg liegen, zwei Orte, die wir vor drei Jahren lieb gewonnen haben, wollen wir wieder sehen. Das eine zum Übernachten, das andere um der Kunst willen. Dann weiter Richtung Vaberg, südlich von Göteborg, mit der Fähre nach Dänemark und von Skagen dann schließlich in die Südpfalz. So irgendwie. Aber vermutlich wird dann doch alles anders. Was würde mich doch das Korsett einer fix geplanten Reise einschnüren! Ich bin froh um unsere So-tun-als-ob-Freiheit, die wir uns beim Reisen nehmen. Freiheit, so hatten wir neulich sinniert, auf dem Spaziergang durch Militärsperrgenbiet auf Härnösands Halbinsel, Unfreiheit, Freiheitsentzug ist im Grunde der Entzug des Rechts auf persönliche Bedürfnisse. Und darauf, die Dinge so zu tun, wie ich sie tun will, die Wege so zu gehen, wie ich sie gehen will. (Sorry, das mag jetzt zynisch klingen für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen Dinge nicht so tun können wie sie am liebsten wollen würden. Kenn ich ja selbst in anderen Lebensbereichen.)
Vermutlich ist Freiheit eh in der Welt der Dinge eine Art Illusion, denn wir alle werden von so vielen Dingen beeinflusst und müssen auf so viele Dinge reagieren, dass Freiheit wohl letztlich nur in uns drin gedeihen kann.
Dennoch: Beim Durch-die-Lande-Gondeln fühle ich mich zumindest so frei, dass ich zuweilen vergesse, dass ich in zehn Tagen wieder im eigenen Bett schlafen werde. Fast kann ich mir die eigene Wohnung kaum noch vorstellen. Das Dorf. Die Schweizer Straßen. Alles sehr weit weg. Physisch gesprochen über zweitausend Kilometer mit dem Auto. Innerlich wohl noch weiter.
Wie wir gestern vor uns her prokrastinierend auf dem Campingplatz Norrfällsviken ausmisteten, rumräumten, bloggten, frühstückten, duschten, philosophierten und es nach zwölf oder später wurde, bis wir endlich wegkamen, realisierte ich, wie gerne ich noch im Norden geblieben wäre. Ja, ein Tag länger vielleicht, das wäre eigentlich schon noch gegangen. Aber. Aber die Rückreise soll nicht zu einem Rennen gegen die Zeit werden. Kein Stress. Kein Rückreisestress. Das würde dieser genialen Tour nicht gut stehen.
Irgendlink, der Gute, wie er gestern mit der Technik gehadert hat, als sein Notizbuch auf dem Handy seinen gestrigen Blogartikel verschlungen hat. Schreibst du ihn nochmals?, fragte ich ihn hoffnungsvoll. Er haderte. Es ist doch so: Sich selbst kopieren ist schwer. Nur schon einmal gedachte Gedanken, wenn du sie nicht genau so sofort aufschreibst, wirken hinterher, wenn du sie, ohne dich an die genaue originale Satzabfolge zu erinnern, zu rekonstruieren versucht, schal, abgestanden, unauthentisch, leblos, fad. Selbst wenn sie inhaltlich mit der originalen Version übereinstimmen, fehlt ihnen die erste Begeisterung. Verstehe das jetzt, wer will.
Jedenfalls schrieb er seinen Text dann doch ein zweites Mal. Diesmal, und das merkte ich erst hinterher – im Auto Richtung Süden -, klemmte es beim Publizieren. Sein Artikel war sogar nur lokal auf seinem Handy gespeichert. Müühsam das. Lange Rede kurzer Sinn. Von außen sieht manches einfacher aus als es ist. Die Bloggerei ist Arbeit, Herzarbeit, geliebte Arbeit, ja, das natürlich schon, aber Arbeit, die Zeit beansprucht. Und wie ich am Anfang dieser Reise schon schrieb: dennoch ist es irgendwie notwendig, um den vielen Gedanken, Erfahrungen und Erlebnissen ein Gefäß zu geben.
Ich bin heute jedenfalls froh, dass ich vor acht Jahren, auf meiner ersten gemeinsamen Skandinavientour mit Irgendlink, bereits live gebloggt habe. (Wobei es live ja nicht wirklich trifft, denn ich schreibe einen Tag ‘hinterher’ über bereits Erlebtes. Ein bisschen mehr live sind wohl dann unsere Twittereien, die wir unter dem Hashtag #kursnord schreiben.)
Wie wir gestern also endlich, nach einem kleinen Spaziergang in einem Seltene-Orchideen-Garten in der Nähe vom Zeltplatz zuerst über Land und schließlich auf der Autobahn Richtung Süden fuhren, wurde es uns beiden schmerzlich bewusst: Der Norden ist nun wieder für eine ganze Weile Vergangenheit. Das tat fast physisch weh, als würde ich an einem starken Gummiband laufen, immer weiter weg, während sich das Band immer weiter spannt … und schließlich reisst. Ich glaube, mein Nordband riss irgendwo nach jener Brücke, jener genialen Autoseilbrücke, die den Beginn der Höga Kusten-Region einleitet. Dort schließlich hielten wir eine Siesta, machten Bilder, nahmen Abschied.
Richtung Sundsvall fuhren wir die gleiche Strecke wie auf dem Weg nach Norden, doch bereits einige Kilometer danach schoben wir uns von der Küstenautobahn weg ins Landesinnere.
Klimazonenwechsel. Vom Frühling in den Vorsommer katapultiert, von nördlicher Kargheit in grüne Opulenz. Lönnebergabilderbuchschwedische Bauernhöfe. Holperpisten.
Wir hatten uns nämlich kurz vor Sundsvall an jenen wunderbaren, ziemlich schrägen Zeltplatz erinnert, den wir auf ebendiesem Straßenstück vor acht Jahren fast zufällig gefunden hatten. Ob er noch existierte? Der Platzwart hatte ein Faible für schräge Sachen gehabt, durchaus wörtlich, denn das Badehaus stand ziemlich windschief in der Landschaft. Schon älter war der Mann gewesen, ein Jazzfan und Sammler, ein Mann mit vielen Geschichten. Der Platz war ziemlich überschaubar gewesen, direkt an einem See und wir durften gratis mit dem Ruderboot raus. Bergsjö.
Irgendlinks geografisches Gedächtnis ist beinahe fotografisch, während meins sich eher an Begebenheiten, Stimmungen, Sätze und Begegnungen erinnern kann. Doch auch mit diesen beiden Erinnerungsströmen im Doppelpack finden wir den Wegweiser zum damaligen Platz nicht. Dass er nur sehr unauffällig ausgeschildert war, wissen wir noch genau. Nun denn.
Fünfzig Kilometer weiter ist der nächste bereits offene Platz, den ich in unserm Campingführer gefunden habe. Und vielleicht gibt es unterwegs noch etwas, das nicht im Führer steht.
Über Land holpern wir weiter und erreichen kurz nach zwanzig Uhr Ljusdal Camping. Ein sehr schöner Platz mit auch noch reltiv wenig Gästen, aber hier ist deutlich mehr los als ein paar Breitengrade nördlicher. Vor allem die sehr nahe Landstraße brummt. Das Zelt ist schnell aufgebaut und eingerichtet und schon bald kochen wir uns etwas Feines.
Waren wir eigentlich bisher nachts immer an Gewässern?, frage ich mich. Hier ist nämlich auch ein See. Ein sehr schöner sogar. Ihm verdanken wir einen weiteren wunderschönen Sonnenuntergang, der allerdings auch bereits deutlich früher läuft und deutlich schneller als die Tage zuvor. Sogar eine Feuerstelle mit Bank finden wir und ein bisschen Feuerholz.
Die Nacht ist kühl, aber nicht kalt und jetzt knallt bereits die Sonne aufs Zeltdach. Es soll sommerlich warm werden heute. Glaub ich gern.