Sandsteinweisheiten

Irgendwo in einem kleinen Dorf lebte eine Frau, die in ihrem Leben schon ganz viele Steine gesammelt hatte. Jeder einzelne Stein hatte eine eigene Geschichte, wie er irgendwann in ihr Leben gekommen war. Einige Steine hatte sie selbst gefunden und nach Hause getragen, andere waren ihr von Freunden als Geschenk überreicht worden. Wieder andere waren schon lange vor ihr da gewesen. Genau da, wo später ihr Haus gebaut worden war. Doch wenn wir genau sein wollen, waren eigentlich alle Steine schon vor ihr da gewesen. Viel länger waren sie alle schon da, sehr viel länger. Vielleicht deshalb mochte die Frau ihre Steine so sehr. Zugegeben, es ist anmaßend, Steine als Besitz zu sehen. Das wusste die Frau und deshalb behandelte sie die Steine auch mit sehr großem Respekt.
Da lagen also überall in ihrer Wohnung Steine herum, Sandsteine einträchtig neben schlichten Kieselsteinen, Granitbrocken neben Edelsteinen und Versteinerungen neben erstarrten Lavaklumpen. Steine seien irgendwie weise, sagte die Frau eben zu ihrer Freundin, mit der sie Tee trank. Steine hätten schon alles gesehen. Den Anfang der Welt hätten sie miterlebt und sie würden auch noch da sein, wenn wir Menschen längst wieder vergangen seien.
Weise?, fragte sich ein kleiner Sandstein, den die Frau letzte Woche auf einem Spaziergang aufgehoben hatt. Er lag direkt an der Sonne, auf dem Fensterbrett. Von seinem Platz aus konnte er alles sehen. Und alle. Wie schön es hier war! Dass es so viele andere Steinarten gab, hatte er nicht einmal geahnt. Steine mit allen möglichen Mustern, in allen Schattierungen, Farben und Texturen. Wie schön sie alle waren! Zum Glück sah niemand zu ihm hin. Der kleine Sandstein konnte sich keinen Reim darauf machen, warum er hier war. Warum er mitten unter diesen wunderschönen Steinen sitzen durfte. Schließlich war er ja nur ein kleiner Sandstein. Ein paar Sandkörner, die vor unzähligen Jahren zufällig auf Quarz getroffen und sich durch ein paar weitere ebenso zufällige Begebenheiten mit diesem verkittet hatten.
Im Berg, wo er sein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, waren übrigens noch ganz viele von seiner Sorte. Eines Tages als Menschenkinder in seiner Nähe herumgetollt hatten, waren einige von ihnen heraus gepurzelt. Lustig war das gewesen. Zuerst. Doch schon bald war es langweilig geworden. Am Boden liegend hatte er keine so gute Aussicht mehr gehabt wie zuvor in der Felswand. Sein Leben war irgendwie sinnlos geworden. Bis sie gekommen war, die Menschenfrau. Sie hatte ihn gefragt, ob er mit zu ihr kommen wolle. Zugegeben, das hatte ihm gefallen, und natürlich hatte er eingewilligt. Nun war er da. Inmitten all der Schönheiten. Am besten gefiel ihm der Stein dort drüben. Er glänzte, seine Oberfläche war anthrazitfarbig und er hatte viele verschiedene Einsprengsel, die je nach Tageszeit hell oder dunkel funkelten.
Hart wie Granit sollte man sein, hatte jemand von den anderen Steinen geflüstert. Vielleicht war es sogar der kleine, grüne Edelstein gewesen, der sich manchmal ein wenig aufspielte. Er könne heilen, hatte er vorgestern behauptet. Und wenn!, dachte der kleine Sandstein. Aber du bist dennoch nicht so schön. Und schon gar nicht so schön hart wie der Granit da drüben.
Hart, ja, hart wäre er gerne, unser kleiner Sandstein. Nicht so weich, dass er immer darauf aufpassen musste, nicht kaputt zu gehen. Eingebettet in der Felswand war das kein Problem gewesen. Erst nachdem er herausgefallen war, fingen die Probleme an. Wenn die Frau das Fensterbrett abstaubte, nahm sie ihn ganz vorsichtig hoch und wischte die Sandbrösel unter ihm weg. Ich vergehe, dachte er jedes Mal. Ich werde immer weniger. Bald bin ich ganz weg. Und meine Teile werden überall verstreut sein. Ich bin viele, bestehe aus unzähligen Körnern und nur dem Quarzzement verdanke ich, dass ich überhaupt da bin. Noch da bin. Glücklicherweise gefällt mir wenigstens meine Hautfarbe. Immerhin etwas. Rötlich und hellbraun ist wirklich ganz in Ordnung. Doch ich wäre einfach zu gerne hart. Ganz hart. Wie Granit. Niemand könnte mir etwas anhaben. Niemand könnte mich einfach zerbröseln. Niemand würde über mich spotten. Hart sein ist alles! Für uns Steine ist das das Wichtigste überhaupt!
Während sich der kleine Sandstein mehr und mehr in etwas hinein steigerte, das sich schon bald nicht mehr bremsen lassen würde, fühlte er auf einmal, wie er aufgehoben wurde. Schon wieder abstauben?, fragte er sich. Das hat sie doch heute Morgen erst gemacht.
Schau!, hörte er die Stimme der Frau, dieses Kerlchen hier habe ich neulich im Steinbruch drüben gefunden. Er lag auf einmal vor meinen Füßen. Fast wäre ich weitergegangen, doch ich konnte nicht anders. Ist er nicht wunderschön? Mir gefällt, dass er so fein, weich und zerbrechlich ist. Er fällt beinahe auseinander. Eigentlich ist er wie ich. Wie gerne wäre ich manchmal so hart wie der Granit dort drüben. Dann schaue ich mir diesen Stein hier an und denke: Es ist gut, so zu sein wie ich bin. Weich. Porös. Durchlässig. Zerbrechlich. Ich bin so. Sinnlos Granit sein zu wollen. Granit hat es genug auf der Welt. Aber wir Sandsteine sollten uns nicht mehr länger dafür schämen, dass wir Sandsteine sind. Diese Welt braucht uns …
Behutsam hatte sie den rotbraunen Stein wieder aufs Fensterbrett gelegt. Sie spazierte mit ihrer Freundin durch die Wohnung und ihre Stimmen wurden leiser. Auch unser kleiner Stein war ganz still geworden. Und ein klein bisschen größer geworden war er auch, innen drin auf jeden Fall.