#Novemberschreiben23 #NaNoWriMo23 | Tag 1

Endlich ist es November, endlich ist Novemberschreiben, auch NaNoWriMo genannt. Das ist die amerikanische Abkürzung für National Novel Writing Month und aus dem National ist längst ein International geworden.

Auch wenn ich dieses Jahr ganz allein für mich mitmache, so ist es doch auch die Verbundenheit mit anderen Schreibenden auf der ganzen Welt, die mich motiviert.

Hier im Blog erzähle ich ab und zu, wie es mir mit dem Schreiben geht. Ob es fließt, ob es staut. Ob ich voran komme, stagniere, mir die Ideen ausgehen oder mich überfluten …

Der Anfang war zäh. Zwar sehe ich die Figuren, ich fühle sie. Ich habe sie vor mir. Aber wie bringe ich sie ins Spiel, in die Handlung? Der Gedanke, dass es keine Zensur gibt, dass mir niemand über die Schulter guckt, dass das alles nur superprovisorisch ist, hat mir enorm geholfen. Dazu weiß ich inzwischen, dass die meisten Buchanfänge am Schluss neu geschrieben werden. So jedenfalls geht ein Schriftsteller*innen-Gerücht.

Anfänge sind zum Warmschreiben. Zum Reinkommen in die Geschichte. Und ja, da bin ich dann doch moch gelandet. In die Geschichte reingekommen.

Dennoch war der zähe Anfang, das Herumsuchen, das Herantasten wichtig, um ein Gefühl für die Geschichte zu bekommen.

Ich habe mein Tagesziel erreicht. Aber jetzt bin ich für heute leergeschrieben. Hoffentlich wächst die Geschichte über Nacht nach und morgen weiter.

Meine persönliche kleine Zählmaschine sieht (als Screenshot) so aus:
[Draufklick macht die Grafik groß]

Screenshot einer Tabelle mit Listen und Grafiken, die die täglichen Fortschritte dokumentiert

Novemberschreiben 2023

Vor siebzehn Jahren habe ich das erste Mal bei einem Novemberschreiben mitgemacht. Boah. Ich glaube, es waren drei oder vier Jahre in Folge, in denen ich mitgeschrieben hatte. Mindestens zweimal habe ich die 50’000 Wörter geschaft. Was ich auch unserer damaligen Schreibgemeinschaft verdanke. Wir hatten damals ein sehr aktives Schreibforum. Außerdem gründeten wir Bernerinnen und Berner schon im ersten Winter eine Schreibgruppe, die Institution, Forum und Schreibszene sogar überdauert hat. Erst die Pandemie und auseinanderdriftende Bedürfnisse haben die Gruppe schließlich aufgelöst. Die freundschaftlichen Kontakte bestehen zum Glück weiterhin, wenn auch eher punktuell.

Sich gemeinsam zum Schreiben zu motivieren, über Schreibtechnisches und Literaturspezifisches auszutauschen, über Handlungsstränge und fiktive Figuren zu fachsimpeln, fand und finde ich noch immer eins der besten Dinge. Ein roter Faden durch mein Leben.

Zwar habe ich, trotz mehrerer fast fertiger Manuskripte noch nie den Mut für eine Roman-Veröffentlichung gehabt, doch die eine oder andere Kurzgeschichte und viele Artikel in virtuellen und Printmedien wurden seither publiziert und viele Fallgruben aus den Anfangsjahren sind bekannt.

Doch wie sieht es denn inzwischen überhaupt bei mir aus? Habe ich noch etwas zu erzählen? Warum schreibe ich eigentlich keine fiktiven Texte und keine Geschichten mehr, wo das doch für mich so eine wichtige und beglückende Tätigkeit ist? Fragen, die ich mir in letzter Zeit immer wieder gestellt habe. Fragen, die nun in der Entscheidung gemündet sind, mit all dem Gelernten und Erfahrenen nochmals neu in den Schreibsee zu springen und einfach drauflos zu schreiben. Die innere Zensorin zu ignorieren. Schreiben, als gäbe es kein Morgen …

Einen Monat lang meinen diesjährigen 50’000 Wörtern, die zu einem Novemberschreiben/Nanowrimo gehören, auf die Spur kommen. Sie aus mir heraus lassen. Den Geschichten Platz machen und den inneren Ideen lauschen.

Ja, ich bin bereit. Sowas von.

Auf der Suche nach einer Zählmaschine habe ich mich vor einigen Wochen auf der offiziellen amerikanischen NaNoWriMo-Webseite angemeldet. Das dortige Forum erschloss sich mir leider nicht und als ich feststellte, dass diese Seite vom großen A. gehostet wird, meldete ich mich wieder ab.

Gestern habe ich stattdessen auf Etsy ein Statistiktool, eine komplexe Tabelle mit Grafiken, gekauft und heruntergeladen, damit ich ab nächstem Mittwoch meine Schreiberfolge dennoch dokumentieren kann. Meine eigene Zählmaschine sozusagen, so als kleine Motivationshilfe. Diesmal schreibe ich also ohne Zahlen-Vergleich mit anderen Schreiberlingen. Ich hoffe, ich kann mich trotzdem motivieren. Irgendwann wird eh die Geschichte den Motivationspart übernehmen.

Ich freue mich auf den Flow, der hoffentlich nicht auf sich warten lassen wird.

Was wäre wenn?

An einem Sonntagmorgen früh aufwachen – na ja, immerhin ist es schon nach acht Uhr, aber ich bin erst um halb zwei ins Bett – und von der Dringlichkeit beseelt und bedrängt sein, zu schreiben. Das hatte ich schon lange nicht mehr. Schreiben, drauflosschreiben, schreiben, was mir gerade alles durch den Kopf geht, Tagebuchschreiben.

Ich will weiterschlafen, gehe nur kurz aufs WC, wieder ins Bett, aber irgendwie ist es zu warm im Zimmer. Ich schließe das Fenster, von draußen drückt Sommerwärme durch die Holzläden. Es ist sonntagsruhig draußen. Unten, auf der Hauptstraße, ab und zu ein Auto, das als einzelnes Geräusch, nicht als Teil eines diffusen Rauschens wahrnehmbar ist. Auf der Quartierstraße, an der unser Haus steht, ist es still. Keine Stimmen, keine Motoren. Dennoch stopfe ich mir prophylaktisch ein Ohropax ins linke, bessere Ohr. Das rechte, schlechte Ohr braucht meistens keins, außer es ist ganz laut.

Nach zehn vergeblichen Wiedereinschlafversuch-Minuten drückt der Darm, außerdem ist mir zu warm. Sogar ohne Decke. Ich stehe auf, öffne die Holzläden, schließe die Fenster, leere den Darm, hole iPad und externe Tastatur und mache es mir wieder, diesmal sitzend, im Bett bequem. Here I am.

Aufschreiben also. Gedanken zum eben zu Ende gelesenen Buch. Die Unvollendete. Von Kate Atkinson. Noch in meinen allerersten eBook-Lesezeiten – auf dem mir vom Liebsten geschenkten Tolino – hatte ich eine Phase, in welcher ich einige Bücher dieser wunderbaren britischen Autorin verschlungen habe. Das muss sieben oder acht Jahre her sein. Jedenfalls kam mir damals jene kostenlose XXL-Leseprobe von Die Unvollendete genau richtig. Dieser außergewöhnliche Roman dreht sich um eine junge Frau, Ursula Todd, die die Gabe hat, immer wieder geboren zu werden, wenn sie im Laufe ihres Lebens gescheitert und gestorben ist. Leider war es eben nur eine Leseprobe und so konnte ich die Geschichte nicht zu Ende lesen. Doch irgendwann kaufte ich das eBook, das ich dann aber doch nicht weiterlas. Und irgendwann später, als ich vergessen hatte, dass ich mir das eBook ja gekauft habe, stolperte ich antiquarisch über Die Unvollendete in Papierform (fand ich es in einem Bücherschrank?). Doch auch das blieb bisher ungelesen. Bis vor kurzem. Als ich auf so gar nichts Lesbares, das bei mir stapelweise rumliegt, Lust hatte, fing ich damit an, Die Unvollendete endlich zu vollenden.

Ursulas Leben und Sterben. Das erste Mal starb sie gleich nach der Geburt. Doch dann fängt alles nochmals von vorne an. Da capo al fine. Beim zweiten Mal stirbt sie nicht. Das nächste Mal stirbt sie als kleines Mädchen bei einem Sturz aus dem Fenster. Da capo al fine. Geboren 1910 erlebt sie als kleines Mädchen den ersten Weltkrieg, überlebt – allerdings erst beim zweiten und dritten Anlauf – die spanische Grippe, erlebt die Zwischenkriegsjahre, den zweiten Weltkrieg, erschießt Hitler oder auch nicht … Kurz: Was wäre wenn? Das ist das Thema, das mich nicht eben nur ein bisschen berührt, sondern sehr nachhaltig. Es ist ja auch immer wieder mein Thema gewesen.

Ein philosophisches Buch, das Fragen nach Krieg und Frieden, nach Gründen, nach Ursachen und Wirkungen stellt. Carpe diem oder Langfristigkeit? Angesichts der Schrecklichkeit von Kriegen verliert alles Gewohnte seine Bedeutung und anderes bekommt dafür einen Wert, das bis dahin unbeachtet war.

Vieles, was Ursula erlebt, fühlt sich auch aus heutiger Sicht sehr real, sehr aktuell an, so als würden wir gerade in einer ähnlichen Zeit leben wie Ursula in jener Zeit zwischen den Kriegen.

Ursula schließt sich in einer Version ihres Lebens während des zweiten Weltkrieges einer Gruppe von Luftschutzhelfer*innen an, die nach Bombeneinschlägen nach Toten und Verwundeten sucht und vor Ort hilft. Tagsüber arbeitet sie im Innenministerium, wo sie verantwortlich für Statistiken ist und die Schäden des Krieges dokumentiert. Sie ist sehr nahe dran am Kriegsgeschehen, sie packt mit an.

Was würde ich tun? Der Krieg, so wird an einer Stelle – ich glaube von Hugh, Ursulas Vater – gesagt, bringt in den Menschen das Schrecklichste und das Schönste zum Vorschein. Kameradschaft. Freundschaft. Aber eben auch Verrat. Rohe Gewalt. Überleben auf Kosten anderer.

Gestern Nachmittag vollendete ich Die Unvollendete endlich. Wie bei eBooks oft, gibt es am Ende des Buches einige Links. Zum Beispiel einen zur Webseite der Autorin.

Ich scrolle mich durch die englischen Bücher und überlege, welche davon ich – allerdings auf Deutsch – damals wohl gelesen habe und wie der Roman, den ich eben gelesen habe, wohl im Original heißt. Life after life. Ja, das passt.

Ich lese mich ein wenig fest und entdecke, dass das Buch verfilmt wurde. Die vierteilige Miniserie ist letztes Jahr auf Englisch, dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Ha. Wenn ich das Buch vor fünf Jahren schon gelesen hätte, hätte ich das mit dem Film bestimmt nicht mitbekommen, zumal die Serie nur im Bezahlfernsehen zu sehen ist. Und zwar ausgerechnet bei Magenta-TV, das ich eh abonniert habe. Ha. Was für ein Glück! Ich habe gestern Abend also vier Stunden das eben zu Ende gelesene Buch gleich nochmals erlebt, diesmal in Farbe.

Eine wie ich finde sehr gut gemachte Literaturverfilmung. Mit ein paar Schwächen, wie immer, aber unterm Strich wirklich sehr gut gemacht.


Link zur Verfilmung: Magenta-TV

Mit Orakeln die Welt retten?

Als ich erwache, finde ich mich auf dem Bauch auf dem Sofa liegend wieder. Mit Blick auf den Holzboden, auf dem ein paar Krümel* liegen. Ich schiebe sie mit den Händen zusammen und frage sie: Was wollt ihr mir bloß sagen? Ich grinse Irgendlink an, der neben mir liegt und auch ein kleines Krümelhäufchen mit den Händen zusammengeschoben hat.

»Kehr mich weg!«, sage ich, »sagen sie. Oder nein, vielleicht ist ihre Botschaft ja viel komplexer. Vielleicht«, sage ich, »vielleicht kommt es auf das Muster an. Vielleicht müsste ich nur das Muster entschlüsseln können und dann wüsste ich, was sie mir sagen wollen. Vielleicht ist das hier ja ein Krümelorakel. Vielleicht liegt ja in allen Krümelhaufen, in allen Dreckhaufen, in allen Mustern dieser Welt eine Botschaft?!«

Ich komme in Fahrt. »Vielleicht erfinde ich gerade jetzt eine App, die Muster entschlüsselt!«, sage ich. »Na ja, man müsste die App natürlich nur noch programmieren, aber dann … Die App könnte jedem fotografierten Muster ein vorher eigens festgelegtes Orakel zuordnen.«

»Aber in den AGB müsste stehen, dass wir jede Haftung ablehnen. Also für den Fall, dass das Orakel nicht eintrifft!«, sagt Irgendlink.

»Genau. Und die Orakelsprüche generieren wir aus allen Glückskeks-Sprüchen, aus allen Horoskopprognosen, aus allen Kalender- und Postkartensprüchen dieser Welt … nein, halt! Noch besser: Wir programmieren alle je geschriebene Literatur ein und die App entschlüsselt mittels Codes, die sie aus dem jeweiligen Muster zieht, den passenden Satz aus einem beliebigen Buch der Welt.«

»Damit die User:innen beim Personalisieren der App die Quelle ihres Orakels wählen können? Also ob sie einen Satz aus der Welt der Weltliteratur, der Trivialliteratur — vielleicht sogar nach Autor:in selektierbar? —, aus der Welt der Astrologie oder aus der Glückskeksideologie etc. möchten?«

»

Jawohl! Boah, was haben wir da Großartiges erfunden!«

(neulich in meinem Notizbucharchiv gefunden)


*Übrigens: normalerweise hat es nicht soo viel Krümel am Boden wie damals, als ich das geschrieben habe.

10 Jahre Kultur mit Silvia Bervingas und Matthias Wolf

Da war vor zehn Jahren dieser erste, sehr originelle Tatort aus Saarbrücken, der erste mit Devid Striesow, Sie erinnern sich? Eine der wenigen Tatort-Folgen übrigens, die ich je in meinem Blog (hier) besprochen habe. ’Melinda’ hieß sie und es ging um Drogenschmuggel. Soweit nichts Neues, doch es war auch nicht die Geschichte an sich, die es mir angetan hatte, es waren die drei Hauptfiguren: Melinda natürlich, dann Devid Striesow aka Jens Stellbrink und Silvia Bervingas aka Margot Müller.

Dass ich ’Margot Müller’, im echten Leben Silvia Bervingas, kurz darauf persönlich kennenlernen würde, wusste ich damals noch nicht. Es war nach einer Tucholski-Performance – ’Schräglagen’ – in der Galerie Prisma, als wir draußen, bei einer Zigarette, ins Gespräch miteinander kamen, Silvia, der liebste Irgendlink und ich. In dieser Kombination haben wir seither schon viele Stunden verbracht, am Feuer sitzend oder auf dem Sofa und einander aus unseren Leben erzählend.

»„Schräglagen“ hieß der Abend, 25 Besucher waren in die damals noch existierende Zweibrücker Prisma-Galerie gekommen. Bervingas las und spielte ausdrucksstark, Wolf erzeugte Hintergrundgeräusche, spielte dann aber auch stimmungsvolle Soli. In der Pause plauderten die Künstler ganz ungezwungen mit dem Publikum.«
Zitat/Quelle: Rheinpfalz

Einen großen Teil ihrer Lesungen und Performances habe ich in den letzten zehn Jahren mitverfolgt, gehört und gesehen. Vielen kostbaren Texten und wohltuenden Klängen habe ich seither gelauscht. Zum Beispiel der ungehaltenen Rede Katharina von Boras, Martin Luthers Ehefrau, die ich hier besprochen habe.

»In der Folge erarbeiteten die beiden bis heute zehn abendfüllende Programme. Texte von Kurt Tucholsky, Erich Kästner, Christian Morgenstern, die ungehaltene Rede der Katharina von Bora an ihren Martin Luther, bissige Kurzgeschichten der Amerikanerin Dorothy Parker, literarisches Kabarett der 1920er und 1930er Jahre, Liebesbriefe von Frauen an Adolf Hitler. Die Programme sind geprägt durch die sorgfältige Textauswahl, die eindrucksvolle Stimme von Bervingas und die Musik für Kontrabass von Wolf, die meist jazzig angehaucht ist. Die Programme kamen gut an, sie wurden nicht nur in Zweibrücken, sondern auch an anderen Orten aufgeführt.«
Zitat/Quelle: Rheinpfalz

Gestern Abend nun spielten, performten, sangen und lasen die beiden ihre Lieblingsstücke der letzten zehn Jahre. Die Rheinpfalz kündigte die Vorstellung so lustvoll an, dass der Veranstaltungsraum, die Zweibrücker Himmelsbergkapelle, gestern Abend schier überquoll. Über hundert Menschen – manche gar stehend, weil es keine Sitzplätze mehr gab –, tauchten gemeinsam in eine heitere, bissige, politisch motivierte, musikalisch bezaubernde Atmosphäre ein und lauschten, lachten und seufzten mit den Protagonist*innen der ganz unterschiedlichen Stücke.

Witzig, charmant und gekonnt boten Silvia Bervingas und Matthias Wolf ein über zweistündiges Programm, das berührt, begeistert und inspiriert.

Mikro

Viele Male
schmerzt etwas
Großes oder Kleines
Eine Holzfaser unterm Fingernagel
Der Kopf dröhnt
Eine Mücke sirrt durchs Zimmer
Ein lieber Mensch sagt Nein, ich will nicht
Du brichst dir den Arm
Die Seele weint
Dieses Chaos im Bauch

Etwas schmerzt
Alles tut weh
Du leidest
Manchmal wie Sau

Addiere Schmerz
nenn ihn klein oder groß
Addiere ihn mit dem von mir
Mit dem von ihr
Mit dem von denen, die da drüben
stehen und weinen
Summieren wir
All diesen verdammten Schmerz
Unerträglich

Das eigene kleine kurze Leben
kaum größer als dein Weisheitszahn
aus der Sicht eines Elefanten
im Vergleich zur Unendlichkeit
Die Leben aller anderen
Addiere alle Leben
Addiere deine Träume
Addiere ihre Freude
Addiere unser Lachen
Addiere unsere Kraft
Summieren wir
Lebenskraft
Lebensmut
Lebensfreude
Lebendigkeit

Zwei Summen
Wir subtrahieren

Minus?
Plus?

Was bleibt?
Was zählt?

Er radelt wieder

Er radelt sogar schon fast eine von geplanten knapp drei Wochen. Von Herrn Irgendlink ist die Rede. Seine Fernrad-Reiseblog-Projekte waren vor der Pandemie geradezu legendär. Mitreisen konnten alle, die Lust auf velosophische Radabenteuer zwischen Nordkap, Gibraltar, Bodens- und Nordsee und um das eine oder andere Bundesland hatten. Lesend konnten wir ihn begleiten – im Blog und auf Twitter. Und dann kam die Pandemie.

Vor dem Lockdown hatte er geplant, ein drittes Mal innerhalb von zwanzig Jahren, nach Andorra zu radeln, um herauszufinden, wie sich das Land und der Weg verändert haben. Doch dann kam ihm der Lockdown dazwischen. Diesem jedoch verdanken wir zwei fiktive Reisebücher, die sich lesen, als wäre der Reisekünstler höchstpersönlich unterwegs.

Sehr sehr lesenswert:
1. Zweibrücken-Andorra, die Dritte.
2. Radlantix

Die pandemische Lage lässt es inzwischen wieder zu, dass er das im Sommer 2019 wegen Starkregen und Überschwemmungen abgebrochene Reiseprojekt #Umsland/Bayern weiterführen kann.

Kommt alle. Reist alle mit.

Reiserad geleht an rote Metallbank auf Brücke, vor Fluss und Bergen im Hintergrund, darüber Blauhimmel

Hier gehts zum verbloggten E-Book der 2018 und 2019 erradelten Streckentexte.

In seinem täglichen Blog servieren wir euch wieder Texte und Bilder in gewohnter Manier. Ich bin erneut als Homebase an Bord und füttere euch mit Kartenlinks und kleinen abendlichen Zusammenfassungen.

Ich stelle fest, dass mir dieses Mitreisen sehr gut tut. Ein wenig Altes im Neuen, ein Stück Heile Welt, ein bisschen Frieden im Alltag, der von Krisen geprägt ist.

Ausgelesen #40 | Blauwal der Erinnerung von Tanja Maljartschuk

Das Ende am Anfang. Eine namenlose Ich-Erzählerin hat in alten ukrainischen Zeitungen einen Nachruf gefunden. Neugierig geworden besucht sie im Nordwesten der Ukraine in einem kleinen Dorf das Museum, das ebenjenem einst berühmten politischen Philosophen und Publizisten Wjatscheslaw Lypynskyj gewidmet ist. Dieser hatte sich zeitlebens für eine freie Ukraine eingesetzt. Am Tiefpunkt einer schweren Lebenskrise findet die Erzählerin Halt darin, Lypynskyjs Leben zu ergründen, da sie trotz ihrer sechs veröffentlichten Bücher, «die kaum jemand braucht», feststeckt.

Das Buchcover zeigt im oberen Drittel die Fotografie einer Blauwalschwanzflosse, Darüber der Autorinname. Unter der Flosse öffnet sich das weiße Titelblatt wie längst aufgeschnitten. Darüber steht der Buchtitel in leichten, schwarzen Buchstaben. Die Erzählung mäandert zwischen diesen zwei Menschen, die Verluste, Krankheiten und eine selbstzerstörerische Leidenschaft für die eigenen Überzeugungen verbinden. Außerdem sind beide heimat- und wurzellos, von der Liebe enttäuscht und seelisch wund. Unvergleichlich intensiv schreibt die Autorin Tanja Maljartschuk über das Leben mit Depression und Angststörung.

Die in der Ukraine geborene Autorin, die heute in Wien lebt, erzählt in ihrem Roman sehr bildhaft zwei Geschichten von Entwurzelung, die sich immer wieder schmerzhaft berühren. Darüber hinaus ist «Blauwal der Erinnerung» auch eine hochaktuelle Geschichte vom Kampf der Ukraine um Unabhängigkeit.


Roman von Tanja Maljartschuk, 2019
Kiepenheuer & Witsch
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck

  • Hardcover
    288 Seiten
    ISBN: 78-3-462-05220-6
    22,00 € inkl. MwSt.
  • eBook (epub)
    ISBN: 978-3-462-31958-3
    18.99 €
  • Taschenbuch
    288 Seiten
    Erscheint am 09.06.2022
    14,00 €
    ISBN: 978-3-462-00418-2

Ausgelesen #39 | Der Mauersegler von Jasmin Schreiber

Jedes Buch so lesen, als wäre es das erste. Das erste dieser Autorin, dieses Autors. Das erste überhaupt. Das würde dabei helfen, Erwartungen zu vermeiden. Nach Jasmin Schreibers ’Marianengraben’, das ich sehr gern gelesen und hier besprochen habe und das mich tief berührt hat, wartete ich erwartungsvoll – viel zu erwartungsvoll vielleicht – auf Jasmin Schreibers zweiten Roman.

Buchcover zeigt flächendeckend drei stilisiert gemalte Mauersegler, zwei schwarze und ein roter auf hellblaugrauem Hintergrund. Darüber der Autorinname in schwarz und Titel in rot.
Buchcover

Während ihr erster Roman ein ausgesprochen originell geplottetes zugleich trauriges als auch humorvolles Roadmovie zwischen zwei Buchdeckeln war, ist Schreibers zweite Geschichte eine eher ernste. Die Geschichte einer Flucht und die Geschichte eines schweren Verlustes. Doch Jasmin Schreiber erzählt auch die Geschichte einer wunderbaren Männerfreundschaft.

In ’Der Mauersegler’ begleiten wir Prometheus auf seiner Flucht aus dem Krankenhaus, wo er als Arzt an einer Studie für eine neue Krebstherapie forscht. In Rückblicken sehen wir ihm zu, wie er und sein Freund Jakob aus kleinen Jungs, die den Mauersegler mögen, Teens und junge Männer werden. Freunde fürs Leben sind sie, die beiden.

Doch als bei Jakob Blasenkrebs diagnostiziert wird, wird alles anders. Jakob will nicht sterben, zumal er bald zum zweiten Mal Vater wird. Er bittet Prometheus ihn als Nr. 51 in seine Studie zu schmuggeln. Dieser will zuerst nicht, doch alle Freunde und Familienangehörigen reden Prometheus gut zu. Bis er schließlich nachgibt. Da ist so viel Hoffnung. Jakob darf nicht sterben!

Aber er tut es doch.

Prometheus flieht. Und er strandet. Und zwar buchstäblich und im doppelten Sinn. Sein geplanter Suizid, mit dem Auto ins Meer zu fahren, scheitert am Sand. Nach einer verzweifelten Nacht im festgefahrenen Auto, das kaum mehr Benzin hat, finden ihn am nächsten Morgen ein Pony und zwei ältere Frauen, die in der Nähe einen Ponyhof und ein Gästehaus betreiben.

Prometheus wird von Schuldgefühlen zerfressen. Er will nicht mehr leben. Das spirituelle und zugleich bodenständige Leben seiner Gastgeberinnen ist ihm fremd; er selbst ist sich fremd geworden und er weiß nicht, wohin mit sich. Die Wochen auf dem Ponyhof gehen allerdings nicht spurlos an ihm vorbei.

Besonders gut gefallen mir die Dialoge zwischen Jakob und Prometheus. Sie wirken glaubwürdig, lebendig, nachvollziehbar. Überhaupt mag ich, wie authentisch Jakobs Fühlen und Denken vermittelt wird. Obwohl er nicht die Hauptfigur ist, ist er mir auf Anhieb sympathisch – im Gegensatz zu Prometheus, der mir bis am Schluss ziemlich fremd bleibt. Immer wieder erfahren wir von Jakob und Prometheus etwas über das Leben der Mauersegler. Das gefällt mir grundsätzlich, wirkt dennoch da und dort ein wenig erzwungen.

Streckenweise tauche ich ganz wunderbar in den Erzählfluss ein, doch immer wieder falle ich heraus, weil ich über allzu flapsig formulierte, holprige Stellen und über konstruiert wirkende Übergänge stolpere. Ja, manches wirkt auf mich künstlich und leider auch oft recht klischeehaft. Während mich die Innenschauen der verschiedenen Menschen weitestgehend überzeugen, vermögen das die Außenansichten nicht immer. Gerade der Lebensstil der beiden Gastgeberinnen mutet klischeehaft und idealisierend an. Alles in allem wirkt die Zeit auf dem Ponyhof auf mich wie aus einem Märchen, in welchem der traurige, tragische Held geläutert werden soll.

Trotz allem mag ich den ’Mauersegler’, trotzdem habe ich diesen Roman sehr gern gelesen und dennoch empfehle ich ihn gern weiter. Es ist ja das Ganze, das zählt. Und das Ganze ist eine mutmachende Geschichte.

Herzlichen Dank, liebe Jasmin Schreiber, und Eichborn-Verlag für das wunderschön gestaltete Rezensionsexemplar mit seinem sehr ansprechenden von der Autorin gestalteten Schutzumschlag.


Eichborn Verlag

Webseite der Autorin: www.jasmin-schreiber.de

Schwerwiegende Entscheidungen

Handeln wir angesichts größter Not und unter Lebensgefahr anders als wir es von uns gedacht hätten, wenn man uns im Voraus gefragt hätte? Sind wir wirklich die empathischen Menschen, für die wir uns gehalten haben, bevor uns diese eine Katastrophe in die Knie zwang?

Der größte gemeinsame Nenner der drei Bücher* und der einen Serie*, die ich im Laufe der letzten Woche gelesen, gehört und gesehen habe, ist diese eine Katastrophe, welche über die Protagonist:innen hereinbricht. Sei es Krebs (1), ein Attentat (2), eine Überschwemmung (3) oder eine traumatische Erfahrung (4) – Katastrophen zwingen uns zu handeln. Wie aber handeln wir?

Würden wir – wie Philipp (2) – geliebte Menschen im Stich lassen, um das eigene Leben zu retten? Würden wir – wie Barney (3) – selbst angesichts des eigenen Todes noch darauf bestehen, dass uns das verlorene Handy ersetzt werden müsse? Würden wir gar – wie Prometheus (1) – versuchen, eine Studie, die zum Scheitern verurteilt ist, zu faken, um uns selbst zu beweisen, dass doch noch Hoffnung besteht? Wie weit würden wir gehen, um für uns den Schaden überschaubar zu machen oder um Ungerechtigkeit und Verrat zu sühnen?

In allen vier Erzählungen erleben die Protagonist:innen Unerträgliches, potentiell Traumatisierendes. Und in allen Geschichten verursachen sie durch ihr Handeln oder Nicht-Handeln den Tod mindestens eines anderen Menschen. Sie tragen ungewollt, weil die Umstände so und nicht anders sind, dazu bei, dass etwas individuell Schreckliches im allgemein schrecklichen Kontext geschieht. Sie sind zur falschen Zeit am falschen Ort, sagen die falschen Dinge und schaffen so Umstände, die die große Katastrophe zu einer persönlichen machen.

Besonders in ’Wenn die Stille einkehrt’ (2) und in ’Die Flutwelle’ (3), wo es um die Schicksale vieler einzelner Menschen geht, wird deutlich, wie es nicht einfach die eine richtige und die eine falsche Entscheidung gibt. Ist es zum Beispiel richtig oder falsch, sich selbst zu retten, wenn andern zu helfen das eigene Leben gefährden würde? Der Fluch der Überlebenden – wie lebt es sich mit ihm, wenn man erfährt, dass es andere, die weniger Glück hatten, nicht geschafft haben?

Wird man angesichts des Todes zum Egoisten, zur Egoistin oder bleibt man empathisch und hilfsbereit? Ist die Katastrophe der Moment, in welchem unser wahrer Charakter zum Vorschein kommt?

Was ist mit Opferbereitschaft? Und wie ist es mit Schuld? Wie definieren wir sie und warum genau so und nicht anders? Und Moral und Ethik: was spielen sie im Moment der Katastrophe für eine Rolle? Sind sie angesichts des Todes überhaupt noch relevant – oder sogar ganz besonders in diesem Moment?

Wie sieht es aus, wenn wir das Unglück überleben? Können wir mit den im Katastrophenfall getroffenen Entscheidungen leben?

Eine Frage, die bei mir immer wieder auftaucht: Sind gewisse Schuldgefühle letztlich nicht eigentlich ein Egoding? Und wird womöglich die eigene Bedeutung oder Verantwortung im Kontext mit den gemachten Erfahrungen überschätzt und wäre alles auch ohne unser Zutun geschehen?

Die vier Geschichten lassen mich demütig zurück. Ich denke darüber nach, welche Entwicklungen die einzelnen Figuren durchmachen.

Mich freut es sehr, dass sich die Autor:innen in ’Wenn die Stille einkehrt’ entschieden haben, ein versöhnliches Ende zu erzählen. Weil es Mut macht. Weil wir alle Mut brauchen. Weil wir Hoffnung brauchen. Weil wir aus Geschichten Kraft schöpfen können. Und weil sich selbst zu verzeihen, für mich der einzig mögliche Weg, weiterleben zu können ist, wenn die Katastrophe erst geschehen ist.


*Die vier Geschichten sind:

  1. Der Mauersegler (Roman von Jasmin Schreiber)
  2. Wenn die Stille einkehrt (Dänische Mini-Serie, arte/ARD)
  3. Die Flutwelle (Roman von Mikael Niemi)
  4. Der Flüstermann (Krimi von Catherine Shepherd)