Eigentlich anders

Content warning »Sterbebegleitung, Sterben, Tod, Abschiednehmen«
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Eigentlich wollte ich dieser Tag hier einen liebevollen, begeisterten, einladenden Text über das geplante Live-Kunst-Reiseprojekt des liebsten Irgendlink schreiben. Einen Text über seine Pläne, via Helsinki ein weiteres Mal ans Nordkap zu radeln. Einen Text über die Umsetzung eines Traumes, der seit Mitte Pandemiezeit immer konkreter wurde und dieses Jahr in die Wirklichkeit geholt werden sollte.

Uneigentlich ist alles ganz anders. Gestern Nachmittag fand ein Gespräch statt, von dem wir uns erhofft hatten, dass danach unser lieber Freund S. endlich und seinem Wunsch, seiner mündlichen Patientenverfügung, entsprechend, von seinen unheilbaren Schmerzen befreit wird.

Diese existentielle Fragen liegen uns schwer auf Mägen und Herzen. Es geht um Würde und Autonomie bis zuletzt, und es geht um Fragen zu Lebenmüssen und Sterbendürfen. Um Entscheidungen, die wir für einen lieben Menschen treffen müssen, der sich nicht mehr zu Wort melden kann. Ich bin ja ’nur’als Mitmensch und langjährige Freundin im Boot, der Liebste jedoch als Beistand. Schwere Entscheidungen. Wir machen es uns keineswegs leicht.

Mein Herz ist schwer. So viele Erinnerungen an unseren lieben Freund S. tauchen auf, während ich an seinem Bett stehe. Die letzten Besuche im Pflegeheim. Mein letzter vor dem aktuellen Klinikaufenthalt war jener, bei welchem wir ihm das von Freunden finanzierten E-Mobil geliefert hatten. Das er aber, weil er von seiner zweiten Covid-Erkrankung noch so geschwächt war, noch gar nicht hatte probefahren können.

Leider hat das gestrige Gespräch nicht das erhoffte Ergebnis bewirkt, nämlich das Freund S. von seinen Leiden erlöst werden darf. Nochmals neun Tage Abwarterei. Heute oder jedenfalls bald bekommt S. einen Luftröhrenschnitt, dann soll das Morphin ausgeschlichen werden und alsdann soll S. bitteschön höchstpersönlich sagen, dass er nicht mehr weiterleben will. Obwohl wir eine Tonaufnahme von eben dieser Aussage haben. Und diese auch in verschriftlichter Form vorliegt. Und der Liebste immerhin S.s juristischer Beistand ist. Dass S. vor einem Monat jener einen OP zugestimmt habe, die ihn von seiner zunehmenden Lähmung erlösen sollte, sei doch Zeichen dafür, dass S. weiterleben wolle. Dass die OP eher nicht erfolgreich war, wird ignoriert.

Es ist ein Trauerspiel. Wir geben nicht auf.

Des Liebsten Reise ist jedenfalls gecancelt. Aber vielleicht ist ja aufgeschoben nicht aufgehoben. Bestimmt würde sich S. sogar freuen, wenn Irgendlink nochmals vom Nordkap in die Ferne gucken könnte. Ganz bestimmt sogar.

Next Exit

Ich bin ja bekennende Fanin von Liz Ritschard, der Luzerner Tatortkommissarin. Gestern habe ich mir darum die neue, am Sonntag verpasste Folge Freitod* angeguckt.

Ich bekenne außerdem, dass ich seit vielen Jahren Mitglied von EXIT bin, einer Schweizer Freitodvereinigung, ähnlich jener, die im Tatort von den FundamentalistInnen bekämpft wird. Im Laufe meines Lebens habe ich mich schon umfassend mit dem Thema auseinandergesetzt. Die Fragen, die Liz Ritschard ihrem Teamkollegen Reto Flückiger stellt, sind mir daher nicht neu. Sie versucht wiederholt, seine Meinung zum selbstgewählten Freitod zu erfahren. Seine pragmatischen Antworten sprechen von der Angst vor dem heiklen Thema und vor dem Tod selbst.

Ausnahmsweise habe ich mir die anschließende Gesprächsrunde im Schweizer Fernsehen, Sternstunde Philosophie, angeschaut.

Ein Teilnehmer der Runde war richtig gruselig. Ich leide sehr darunter, wenn und wie Menschen, die keinen persönlichen Bezug zum Thema Suizid haben, darüber urteilen, was Menschen, die sie nicht verstehen, entschieden haben. Die anderen drei GesprächspartnerInnen diskutierten fair und offen, teils kontrovers, teils sich treffend, nur der eine, ein österreichischer Philosoph mit Hang zum Missionieren (K. P. Liessmann), hat sich extrem dagegen gewehrt, dem Menschen die freie Wahl zuzugestehen. Er hat damit sich und seine sozialen Kompetenzen meines Erachtens selbst disqualifiziert.

Ja, es verletzt mich, wenn ich höre, wie andere Suizid (pauschal) interpretieren und verurteilen. Wer keinen persönlichen Bezug zum Thema hat, sollte, finde ich, den Mund halten. Oder nachdenken darüber, wie es wäre, falls.

Wer selbst noch nie daran gedacht hat, sich das Leben zu nehmen, nicht mehr leben zu wollen und/oder wer niemanden kennt, der das getan hat, weiß nicht wirklich, oder jedenfalls nur theoretisch, was es heißt. Und was es alles umfasst.

Es gibt ja Leid, das als Begründung für eine Sterbebegleitung nachvollziehbarer ist als anderes. Finale Krankheiten zum Beispiel. Dafür hat fast jede/r Verständnis. Anders ist es schon mit dem Bilanzsuizid (»ich habe genug und gut gelebt, jetzt will ich sterben«) und nochmals anders ist es mit dem Suizid aus Verzweiflung/im Affekt bei dem die Angehörigen aus allen Wolken fallen. (»Aber man hätte doch sicher eine Lösung gefunden …«, »Warum tut er uns das an?«)

Lange Rede, kurzer Sinn: Welche Alternativen hat ein Mensch, der dieses Leben, diese Umwelt, seine Umstände etc. aus welchen Gründen auch immer nicht mehr erträgt? Welche würdevolle Alternative gibt es zum begleiteten Suizid? Ich kenne keine und finde es daher sehr gut, dass sich EXIT und andere darum Organisationen in der Schweiz darum kümmern, dass Menschen, die sterben möchten, würdevoll und selbstbestimmt sterben können.

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Ihr sagt, wir seien undankbar,
weil wir das Leben, das wir schier nicht ertragen,
wegwerfen wollen.

Ihr sagt, wir seien feig,
weil wir das Leben, nicht mögen und es lieber
gegen den Tod eintauschen möchten.

(9-2016)

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Eigentlich geht es hier ja um die eine grundsätzliche Frage: Was ist das Leben für uns? Und die kann jeder und jede ausschließlich für sich selbst beantworten und bitteschön akzeptieren, dass andere es anders sehen.


* Plot: Eine deutsche Staatsangehörige reist mit ihrer Tochter in die Schweiz, um hier zu sterben. In einem Wohnblock am Rande der Stadt wird sie von einem Team empfangen und würdevoll in den Tod begleitet. Am nächsten Tag wird eine der Sterbehelferinnen tot aufgefunden, brutal erschlagen.