Hinter den Worten eine andere Welt

Da sind so viele Worte in mir, oft zu viele, um wirklich den Wörtern in der Luft um mich herum zuhören zu können. Aber wirklich sind sie deshalb nicht weniger. Und auch nicht weniger wirksam.

Englische Notiz: I wish that just for one day everyone would just say exactly what they wanted.
Ich wünschte, dass wenigstens einen Tag lang alle exakt das sagen, was sie wollen. (Fundstück)

Sie flüstern andere Bedeutungen, lesen Zwischenzeiliges, mehr schlecht als hilfreich nachträglich zwischen Gesagtes Eingepapptes; an der Decke kleben sie, hochgestiegen wie Heliumballons vom Jahrmarkt. Und manche von ihnen sind lauter als jene Worte, die vorher ausgesprochen worden sind.

So behindern sie mich zuweilen ein wenig mit ihrer Vehemenz, verhindern mein Hören auf das tatsächlich Ausgesprochene. Und sie bereichern es.

Wortebenen wie Bildebenen. Aufeinandergelegt, übereinandergefühlt. Übereinander gefüllt. Übereinander gegossen. Verschmolzen. Untrennbar nun.

Subtexten gleich hinterlassen auch viele gesprochene, viele gelesene Wörter Abdrücke in mir, sinnliche Eindrücke.

Sag Meer und ich höre Möwen, rieche Salzwasser, höre Rauschen, fühle Wind auf der Haut und sehe Sand und Fels.
Sag Wald und ich höre Amseln, rieche feuchte Erde, höre den Wind in den Blättern, fühle weichen Erdboden und sehe grün und satt und braun.
Sag Berge und ich höre Stille, rieche Freiheit, höre das Rascheln von Murmeltieren, fühle den steinigen Boden unter den Füssen und sehe Weite, Weite, Weite.

Wörter öffnen Welten.
Wörter sind Vorhänge,
sind Schutzhäute,
sind Decken.

Reichtum ist es, den Worten hinter den Worten lauschen zu können. Alles aber hat einen Preis. Diese Fülle ist Geschenk und zugleich reizüberflutende, herzundhirnberauschende Knochenarbeit.

Interpretation, ja; alles ist und bleibt letztlich Interpretation.

Und noch ein Wort. Das letzte?

Ein Wort. Und noch ein Wort. Schon sind es zehn. Doch schreibe ich nicht um der Wörter willen. Auch nicht um der Zahlen. Ich schreibe, weil ich schreiben kann. Weil die Wörter in mir hocken, auf Bänken, wie Kinder in der Umkleide vor der Turnhalle. Sie tuscheln und warten auf den Anpfiff. Nun stehen sie auf und drängen in die Halle, rennen wild durcheinander und wollen so gar nicht ruhig stehen. Wollen sich so gar nicht in Reihen stellen, wollen nicht gezählt, wollen nicht betrachtet und wollen schon gar nicht geordnet und trainiert werden. Sie wollen einfach nur sein. Manche zerfallen in ihre Einzelzeile. Buchstaben liegen herum und ich, die Turnlehrerin wider Willen, habe keine Ahnung, wie ich dieses Chaos da … ja, was … wie ich dieses Chaos, so es denn eins ist, zähmen soll? Lässt sich zähmen, was wild sein will? Kann Chaos denn etwas anderes als Chaos sein und wenn ja, wozu? War Chaos nicht der Anfang von allem, was ist? Chaos als Quelle. Chaos als Kraft. Chaos als Neuanfang? Wozu auch immer.

Da stehe ich also und betrachte die Wörter, betrachte die Buchstaben und lasse sie gewähren. Alle sind sie da. Das Wörterbuch hat sich geöffnet. Sinn kommt auf mich zu und fragt, ob er mir helfen soll. Ich schaue ihn an, klein und schmächtig ist er, trägt eine Brille und schaut mit einem Blick, der so gar nicht zu seiner geringen Größe passen will, an mir vorbei. Nein, nicht an mir vorbei. Durch mich durch. Er durchschaut mich, er weiß, dass ich wortlos bin. Ich als einzige bin die ohne Worte. Bin weder Wort noch Buchstabe. Bin einfach nur Mensch. Eine, die sich mit Wörtern verbinden, mit Wörtern verbünden will, um zu verstehen. Das ist es, was ich will. Ihr Wörter, sage ich, ich will verstehen. Ja, Sinn, du kannst mir helfen. Wenn du das denn kannst. Ich will dich und deine vielen Geschwister hier verstehen. Nein, nicht euch, aber das, wofür ihr steht. Komm doch mal her, du da. Wie heißt du denn? Schüchtern kommt sie einen Schritt näher und flüstert ihren Namen. Ich habe sie nicht verstanden. Sinn souffliert: Liebe. Das ist Liebe. Sie mag aber ihren Namen nicht. Die Menschen lachen oft über sie. Und sie mag es nicht, dass alle Menschen zu wissen glauben, wer sie ist und wofür sie steht und in Wirklichkeit ist alles ganz anders.

Wie anders?, frage ich und bereue meine Frage bereits. Sinn lächelt traurig. Liebe kann man nicht erklären, Liebe kann man nur lieben. Sie ist rot geworden, die Kleine. Ich kann mir nicht helfen, ich möchte sie einfach nur in den Arm nehmen und tue das auch. Sinn lächelt. Ja, sagt er.

dontbelieveWeisheit ist groß und hat ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und ich weiß nicht, ob sie eine Sie oder er ein Er ist. Er sagt: Lass zu. Hör damit auf, zu wollen. Zu machen, zu müssen. Ich setze mich auf den Boden. Die Wörterfamilie sammelt sich um mich. Und auf einmal sind alle ruhig und wir sind uns ganz nah.

Geschichte erzählt mir, wie es in der Welt der Wörter zugeht. Ich begreife, dass die Wörter mehr verstehen von Demokratie, von Eigenmacht und von Kameradschaft. Manche Wörter erzählen mir, wie sie missbraucht werden. Macht stehen die Tränen in den Augen. Ich war nicht immer so, so traurig, so negativ besetzt, sagt sie. Sie ist erstaunlich schön, Frau Macht. Aber erst, wenn man genau hinsieht. Ich bin ein Missbrauchsopfer, aber diese Rolle ist einfach nur zum Kotzen. Und am liebsten will ich nicht mehr leben. Oder dann möchte ich wenigstens, wie das Menschen können, in eine Art Zeugenschutzprogramm für missbrauchte Wörter eintreten und an einem neuen Ort neu anfangen. Andererseits, wenn ich weggehe, werden sich die Menschen einfach ein anderes Wort nehmen, dass sie an meiner Stelle missbrauchen können um ihre Gier auszuleben.

Gier, ein kleiner blonder Bursche, sagt, dass er amputiert worden sei. Das Neu habe man ihm weggenommen und ihn schon als Kind von seinem Bruder Neugier getrennt. Aber im Herzen drin hoffe er noch immer auf ein Umdenken. An ihm solle es nicht liegen. Er würde sich gerne deleten lassen, wenn es der Menschheit diene.

Gewaltig, ein erstaunlich drahtiger kleiner Kerl, flüstert, dass er früher ein gutes Wort gewesen sei. Aber heute – er verdreht die Augen – heute assoziieren mich viele mit Gewalt. Aber ich, sagt Gewalt, ich bin auch nicht böse. Ursprünglich stand ich für die Kraft der Erde, die sich zuweilen schüttelt, um zu zeigen, wer das letzte Wort hat.

Unter den Zeilen

Quelle Text: deremil.wordpress.com
Quelle Text: deremil.wordpress.com

Zu Grunde gehen

dahin
wo es am tiefsten
ist

und wunden Muscheln die Hände öffnen
Perlenfischerin ich

Im Abstoßen vom Grund
mich vom Strudel
der mich abwärts zog
entfernen

Nähe zu mir findend
aufzutauchen
erneut

Luft
Atem

nehmen
holen

Land betretend
erneut
verstehen
warum die Flüsse
sind
was sie sind
und die Tiefen
da
wo es mich liebt
sein
die ich bin

Vergängliches
strömen
lassen
kommen
lassen

Lass
du
mich
schwimmend
in deinen Worten

Spüre den Boden
jetzt
unter den Zeilen
er trägt
erträgt
uns

Über die Enden

Viele Enden habe ich schon in meiner Sammlung. Enden von Arbeitsstellen, letzte Tage in Wohnungen, letzte Tage von Ferienreisen, Enden von Beziehungen, Liebesgeschichten und Blumensträußen.

toteRose_wzDie letzten Tage naher Menschen auch – Mutter, Vater, Sohn. Dann die Enden von Büchern, Musikstücken und Filmen. Und von Texten, die ich selbst geschrieben habe.

Doch selbst nach so viel Erfahrung mit Enden bin ich immer zuerst hilflos. Nein, an Enden kann ich mich nicht gewöhnen, oder zumindest nicht an die Löcher, die sich jeweils mit ihnen in mir auftun. Löcher ohne Brücken.

Aber immer auf Vorrat Brücken mit mir herumtragen, nur damit ich im Notfall gewappnet bin, wenn das nächste Ende kommt, will ich nicht. So bleibt mir nichts anderes als warten, bis sie langsam zuwachsen. Ballast habe ich eh schon genug. Sogar (zu) viele Wörter schleppe ich mit mir herum. Wörter, die keinen Sinn ergeben, solange ich sie nicht ausgespuckt habe.

Ob sie danach noch immer Ballast sind, kann ich nicht sagen. Oder sind sie neue Anfänge, sobald sie aufgeschrieben sind – von mir, von andern? (Und spielt es überhaupt eine Rolle, wer die Wörter aufschreibt, an denen ich kaue?)

Dort drüben, jenseits der Brücke, die es mir diesmal aus Wörtern zu spinnen gelungen ist, lauern sie, die neuen Anfänge. Das weiß jedes Kind, denn jede Brücke ist eine Verheißung. Eine Verführung vielleicht. Drüben ist es anders, ist es drüben besser gar? (Was die Frage impliziert, ob ich über die Brücke gehen soll. Lohnt es sich, dieses Ende hier, so sehr, dass es den neuen Anfang rechtfertigt? Aber was sonst? Denn so weitermachen kann ich schließlich nicht, oder?)

Fragen wogen auf und ab. Wellen im Fragenmeer.
Flut. Ebbe.
Manchmal ertrinke ich.
Manchmal finde ich ein Stück Treibholz und ertrinke diesmal nicht.
Manchmal finde ich sogar ein Ufer.

Schon wieder ein neuer Anfang.

Ja, ich kann sie gut, die Enden, auch wenn sie mich hilflos machen. Und leer. Paradox, ja, und auch die Sache mit den Brücken ist suspekt. Vielleicht klappen sie, wenn ich mittendrin stehe, hoch und lassen zuerst einmal die Schiffe passieren, auf jenem Fluss unter meinen Füßen, der Anfang und Ende verbindet und den Weg zum Meer weiß, weil er ihn ist.

(écriture automatique, 3.6.14, überarbeitet)

Wenn sie wieder Schlange stehen

Wenn die Wörter Schlangen stehen, muss ich alles fallenlassen, was ich tue. Ich muss mich hinsetzen und schreiben. Die Türe aufmachen, sie hereinlassen. Das heißt, ich müsste. Meistens kann ich es nämlich nicht. Was soll ich denn tun, wenn es mir zum Beispiel mitten im Yoga passiert? Wenn die Wörter genau dann, wenn ich im Hund stehe – den Po gen Himmel gereckt –, über mich kommen? Ist das nun Inspiration oder ist es profane Ablenkung, wenn ich genau dann ganze Sätze denke, die meine Protagonistin betreffen, Erkenntnisse mich heimsuchen oder irgendwelche Schreibideen um meine Aufmerksamkeit buhlen? [Ähm, und ist es allenfalls bloße Eitelkeit, die mich zum Schreiben nötigt?]

Kaum. Ich müsste nämlich platzen, könnte ich nicht schreiben. Sogar auf der einsamen Insel, ohne Schreibutensilien, würde ich mir neue Geschichten ausdenken müssen und sie in die Höhlenwände ritzen.

polaroid_00Schreiben als Sucht?! Lesen als Sucht!? Womöglich. Doch was weiß ich schon wirklich über Süchte, außer dass ich süchtig bin? Nach immer wieder andern Dingen und Mechanismen. Und oft haben meine Substanzen keine gesundheitsschädigenden Wirkungen im herkömmlichen Sinn, aber doch bin ich es: süchtig. Ganz besonders bin ich süchtig danach, meinem Denken und Grübeln und Sinnsuchen auf die eine oder andere Art entfliehen zu können.

In einem andern Leben war ich diszipliniert. Sehr diszipliniert. Und sehr kontrolliert. Zugegeben, zweites bin ich noch immer. Aber die Sache mit der Disziplin überzeugte mich je länger je weniger. Wozu soll ich mich abrackern und – nur so als banales Beispiel – jede Woche die Wohnung putzen, wenn es doch im Zwei- oder Dreiwochentakt reicht. Ich trage schließlich Sorge. So und anders argumentierte ich am Anfang noch, um mich selbst zu überzeugen. Heute bin ich es längst. Ja, ich bin überzeugt davon, dass ich Dinge nicht tun muss, wenn ich sie nicht einsehe. Heute brauche ich Gründe etwas zu tun, nicht etwas zu lassen. Aber alle machen es so und so!, reicht mir nicht mehr. Ich will, ich muss die Arbeit verstehen, ihre Verursacher, ihre Ursachen, um mich zu etwas motivieren zu können. Und ich will die Ursachen der Ursachen wissen. Und natürlich auch, warum sie die Ursache der Ursache ausgelöst haben. Doch genau hier scheitere ich ständig. Ich bleibe auf der Strecke, finde selten nahrhafte Antworten. Bestenfalls sind sie vorläufig, abschließend aber nie. Und das zermürbt mich Sucherin. Es ist unerträglich.

Darum brauche ich also jene Dinge, jene Handlungen, jene Suchtsubstanzen. Sie sollen mich ablenken. Sie sollen mich vom eigenen Denken ablenken. Vom Grübeln. Von den Anstrengungen, die das Leben ausmachen (und die mich aus meiner Wohlfühlzone herausschubsen könnten, die ich mir eingerichtet habe).

Auf einmal sind sie da. Sie finden mich immer, die Wörter. Und ich sie. Wir sind schon lange befreundet, doch ich weiß auch, wie verwirrend sie sein können. Eindeutig sind sie selten und fast alle sind ein klein bisschen stolz darauf, dass sie eine ganz eigene Bedeutung haben. Eine, die sie von allen andern unterscheidet. Außerdem spielt es auch immer eine Rolle, wie sie sich aufstellen und wo sie sich hinstellen. Sie spielen Rollenspiele, hat mir einst ein Wort verraten. [Welches verrate ich aber nicht.] Ständig wechseln sie Position, während ich schreibe. Sie lehren mich, genau hinzuschauen, denn die Reihefolge ist alles. Alles.

Wortgeburten

Am Anfang war der Buchstabe, das Satzzeichen, das Wort, der Satz. Der Satz gebiert Geschichten. Die Geschichten werden eigenständig, sind Teil einer noch grösseren Geschichte. Alles hängt zusammen und führt ins Nächste, ins Grössere.

Gestern, während des Blogkurses, den Irgendlink und ich gegeben haben, notiert (“automatisch geschrieben”).