Am Anfang war das Loch

Blogfrei war gestern. Gestern wollte ich einfach mal wieder in die handfeste Materie eintauchen – ganz ohne Virtualität. Zwar habe ich auf dem iPhone Mails gelesen und ein klitzeklein bisschen gesurft, das war es aber auch schon. Gar nicht mal schlecht, ab und zu offline zu sein. Auch meine saubere Wohnung dankt es mir.
Ein Tag ohne Laptop ist dafür ein Tag mit Notizzetteln. Denken in Echtzeit, steht auf einem von ihnen. In Stichworte gepackte Erkenntnis. Auf einem schönen Novembersonne-Mittwochnachmittagsspaziergang begriff ich, dass für mich Schreiben die einzige Tätigkeit ist, die ich zeitgleich mit Denken tun kann. Eben: Denken in Echtzeit. Jedes andere Tun verhindert gleichzeitiges Schreiben, gleichzeitiges Konservieren von Gedanken. Obwohl ich bei allem, was ich tue und lasse über das Leben nachdenke oder nachfühle. Doch diese Gedanken sind ätherisch. Wie Düfte. Kaum gedacht, schon weg. Wie wichtig diese meine Gedanken sind, sei dahingestellt. Dennoch will ich Gedankenblitze und kleine Erkenntnisse, die mir das Leben begreifbarer machen, eben oft festhalten. Sie festhalten und sie auch gleich schreibenderweise einkochen, um sie später hervorholen zu können. Ich will die gefundenen Spuren zu mir selbst behalten, festhalten, halten.
Gegenteil von Loslassen! Oops, die Gedanken, was sag ich da, die Finger machen sich mal wieder selbständig und tippen schneller, als ich denken kann. Von Loslassen wollte ich hier gar nichts schreiben. Viel zu anstrengend.
Auf einem anderen Zettel steht Innerer Arzt. Er soll mich an jene Sendung, die ich vorgestern spät abends mit meinem Liebsten gehört habe, erinnern. Neulich auf Arte war ein Beitrag zum Thema. Sehr gut gemacht, finde ich. ((Hier klicken zur SendungDanke, Kati, für den Link und den Input!))
Ha, jetzt hat‘s auch die Wissenschaft
endlich begriffen, sagte ich. Uraltes Wissen, das hier! In den Kursen von Luisa Francia haben wir genau diese Erkenntnisse schon vor fünfzehn Jahren praktiziert. Imagination, nennt sich das. Und da steckt das Wort Magie drin, das Außenstehende immer so schön nervös macht. Dabei geht es genau darum, dass wir uns, und damit eben auch unseren Körper, dorthin begleiten, wo wir wahrnehmen, was ist. Und was wir wirklich (= für die Wirklichkeit) brauchen. Wie wir uns heilen können. Uns vertrauen. Dem Körper vertrauen. Darum geht’s. Sogar die in der Sendung vorgestellten Techniken, um solche Prozesse in Gang zu setzen, sind denen ähnlich, die wir damals in unseren Workshops kennengelernt und geübt haben. Doch jetzt ist die Wirkung von Imagination und die Selbstheilungkraft des Körpers endlich auch für Weißröcke und deren Gläubige wissenschaftlich nachgewiesen. Na also, geht doch.
Schade, dass wissen allein nicht genügt. Ich praktiziere all mein Wissen und Ahnen viel zu wenig. Das Asthma zum Beispiel, das ich seit einem Jahr in akuten und latenten Stressphasen habe, wie könnte ich es wohl mit Hilfe meiner Inneren Ärztin lösen? Und würde ein Placebo meine Schilddrüsenfunktion ebenso normalisieren, wie es meine Tabletten (hoffentlich) tun? Und wie wäre es wohl, wenn eine Frau, die schwanger ist, statt Folsäure ein Placebo nähme? Wie verhält sich der Körper zu Informationen, die ihm geliefert werden? Wo ist die Schnittstelle?
Apropos Schnittstelle. Machen wir doch hier mal einen Schnitt.
Neulich habe ich über Sucht gebloggt. Vorgestern, beim Arbeits-/Weihnachtsessen meines ehemaligen Teams, das mich unbedingt dabei haben wollte, kam das Gespräch aufs Rauchen. Ich erzählte im Verlauf der Diskussion, wie ich mir vor ungefähr zweieinhalb Jahren das Rauchen abgewöhnt hatte. Nämlich einzig und allein mithilfe der Erkenntnis, dass ich mir irgendwann mit sechszehn eingeredet haben muss, das Zeug schmecke gut. Natürlich war die Geschichte damals ein klein bisschen komplexer, doch irgendwie und irgendwo muss ich damals irgendeinen Schalter umgelegt haben. Und den gleichen Schalter hatte ich eben vor zweieinhalb Jahren zurückgekippt. Stopp Lebenslügen!, war mein Ansatz damals. Diese eine zu knacken war jedenfalls kein schlechter Anfang.
Jede Sucht ist eine Ersatzhandlung, sagte ich. Kopfnicken rundum und die nächste erzählt eine Episode aus ihrem Leben.
Ersatzhandlung. Ersetzen. Ersatz. Unersetzlich. Ersetzlich. Während ich später nach Hause fahre, beginnt das Wort in mir zu taumeln. Am Anfang war nicht das Wort, nein, am Anfang war das Loch. Sonnenklar! Das Loch. Der Fall aus dem Paradies war nämlich ganz anders. Da war das Loch. Die Sehnsucht. Und Löcher bringen es so mit sich, dass sie gefüllt werden wollen. Sie sind magnetisch. Wie Sehnsüchte. Wir scheitern ständig am Versuch, etwas ersetzen zu wollen, das nie da war – außer als Ahnung, als Erinnerung, als Urinnerung. Das nie mehr war als eine Ahnung von Himmel.
Fast unstillbar dieses Ziehen! Keine Droge kann dieses Loch füllen. Keine Handlung. Nichts.
Außer … dass du das bist und das lebst, was nur du kannst. Auf diese deine Weise. Und das liebst, was du bist. Ganz. Denn das warst du schon immer. Ich auch. Und ja, auch in diesem großen Ganz drin hat es Löcher, doch die müssen sein. Die Löcher gehören dazu.

Barcode-Mysterien

Wie wir heute Morgen in Sachen Geld nach P. fahren – er zur Verbraucherzentrale wegen der Sache mit unserer Telefonrechnung, ich aufs Arbeitsamt, um zu erfahren, dass ich bereits Ende Monat Arbeitslosengeld bekommen werde – fällt mir auf einmal unser Barcode ein. Jenen, den J. am letzten Freitagabend selbstgebaut hat und der nun am Galerie-Schaufenster der Walpodenakademie klebt, in welchem unsere Bilder ausgestellt sind. Wer ihn lesen kann, erfährt so unsere Kontaktdaten. Schwarz auf weiß, winzige Quadrate, beliebig zusammenzusetzen. Jedes klitzekleine Feld steht für ein Wort, für einen Buchstaben, für Satzzeichen, für Links, für Leerzeichen.

Bild: unser Barcode nach bester iDogma-Manier verappt, will heißen mit Apps bearbeitet. Als da wären eine ganze Symphonie fürs Hintergrundbild, dazu Blender und Halftone für die Fertigstellung.
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Unheimlich für uns, die wir das Ding nicht mit unseren Augen, mit unseren Sinnen, mit unseren uns im Laufe des Lebens angeeigneten Werkzeugen entschlüsseln können was wir ständig mit allem tun, was uns begegnet.
Unheimlich, um nicht zu sagen apokalyptisch – jedenfalls noch vor zwanzig Jahren, als die ersten Strichcodes eingeführt wurden.
Unheimlich, weil unbekannt.
Kannst du jedoch die Zeichen lesen, erschließt sich dir eine ganze Welt. Und du wirst wissen. Mit J.s iPhone, das mit einer Dechiffrier-App namens Barcoo ausgerüstet ist, wird Verstehen zum Kinderspiel. Er muss bloß das schwarzweiße Quadrat fokussieren, schon piepst das schlaue Technikding sein Simsalabim und auf dem iPhone steht die Antwort. Kontaktdaten zum Beispiel. Wie eben bei jenem, das J. für uns beide gebaut hat.
Unheimlich ist, was wir nicht kennen. Wie wäre es mit der vierten Dimension? Im schon wiederholt zitierten Buch Flächenland geht es vor allem um die Flachländer, jene Geschöpfe, die ausschließlich in zwei Dimensionen leben. Die Geschichte erzählt von einem, der das unheimliche Land der drei Dimensionen gesehen hat. Als dieser anderen von der dritten Dimension erzählt, beißt er auf Granit. Das kann ja nicht sein!, sagen sie. Und kerkern ihn ein.
Doch auch mit der dritten Dimension ist das Ganze nicht zu Ende. Ich sag gleich noch einmal vierte Dimension.
Vielleicht ist ja jedes Bild – j-e-d-e-s Bild! – wenn wir es riesig vergrößern, so dass wir nur noch die einzelnen Pixel sähen, die allerdings noch irgendwie zu schärfen wären –, eine codierte Information? Wir müssten sie nur dechiffrieren!, sage ich zu J., der im Gegenlicht das Auto nach P. lenkt. Meine Augen halb geschlossen, weil ich zu faul bin nach der Sonnenbrille zu suchen. So wäre jedes Bild eine Geschichte. Und umgekehrt lässt sich wohl auch jede Geschichte in einen Barcode bringen.
Fiktiv geht das auf jeden Fall, ich tu‘s ja schon. Hier und jetzt. Gedanken und Ideen kennen keine Grenzen. Ob es praktisch geht, muss ich noch ausprobieren.
Doch irgendwann brauche ich vielleicht gar keine technischen Hilfsmittel mehr dazu. Ja, ich sehe es schon vor mir! Im nächsten Leben werde ich Bilder- und Geschichtenflüsterin.
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EDIT:
Hier (klicken) habe ich den fettgedruckten Satz aus obigem Artikel in den nachfolgenden Barcode generiert 🙂

Bloggitis und Schwester Glück

Die Diskussion um Sinn und Unsinn der virtuellen Tagebuchschreiberei – sprich Bloggen – macht immer mal wieder die Runde. Ob in Gesprächen mit FreundInnen, in Mails oder in Blogs selbst – irgendwie scheinen wir Bloggenden immer wieder auf großes Unverständnis zu stoßen. Nein, nicht um mich für mein sinnloses Tun zu rechtfertigen, schreibe ich diesen Artikel, sondern aus dem gleichen Grund, warum ich blogge.
Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, mein Leben im Internet auszubreiten!, meinte S. vor ein paar Wochen.
Mein Leben interessiert doch niemanden, was sollte ich da schon erzählen?, meinte C.
Und selbst, wenn ich wollte: Wo sollte ich auch die Zeit hernehmen?, sagte R.
Da haben wir‘s: Ein geradezu unanständiges Mitteilungsbedürfnis, gepaart mit der hirnrissigen Hoffnung, andere könnten sich möglicherweise für die eigenen Gedanken, Bilder und Erlebnisse interessieren – das macht den wahren Blogger und die echte Bloggerin aus. Dazu ein scheinbar grenzenloses Zeitgefäß. Halt, da fehlt etwas, das Wichtigste sogar! Die Lust am Schreiben, die Lust am Erzählen, die Lust, Gedanken in Worte zu fassen. Ja, Lust. Nicht müssen, sondern wollen.
Doch ist ein Text erst mal lustvoll gepostet – was neudeutsch für ins Netz gestellt ist –, geht der Spaß weiter. Ich gestehe es: Ich liebe Kommentare. Als erstes, nachdem ich mein iPhone oder den Rechner eingeschaltet habe, schaue ich unmittelbar nach den Mails in meinem Blog und in meiner Bildergalerie vorbei und lese allfällige Kommentare. Freue mich. Zum Glück beeinflusst dies mein Kunstschaffen nicht wirklich, höchstens inspirierenderweise. Auch sind Kommentare kleine Motivationsspritzen, falls dies mal nötig sein sollte.
Die Kommentarstränge stillzulegen, könnte ich mir aus eben diesen Gründen nicht vorstellen. Ich liebe den virtuellen Austausch sehr, diesen Dialog, der nur dank moderner Technik möglich ist. Sich schriftlich mit Unbekannten auszutauschen, ist allerdings kein Phänomen der Moderne. Auch früher gab es Brieffreundschaften. In den letzten Jahren haben sich jedoch die Mittel der Kommunikation auf damals unvorstellbare Weise verändert. Und die anonymisierte Form, wie wir sie heute Dank der Pseudonyme kultivieren, macht den Austausch möglicherweise sogar ein wenig authentischer. Das Pseudonym ist quasi die Fasnachtsmaske. Für einmal im mehrheitlich positiven Sinn gemeint.
Bloggenderweise können wir – ähnlich wie beim Schreiben eines Romans –, eine neue Identität aufbauen. Wie Schreibende wissen, steckt ja in jeder Figur, die wir kreieren, immer ein Quäntchen ICH mit drin – und sei es nur ein bisschen vom Anti-ICH. Ebenso ist es beim Bloggen: Auch hier erschaffen wir gleichsam ein neues Selbst. Nein, Quatsch, was rede ich da? Wir erschaffen es nicht, wir lassen bloß eins unserer vielen Selbste an den Tresen, an die Tasten.
Kurz und gut: Schreiben macht Spaß. Und was Spaß macht, hat oft auch das Zeug zum Glücklichmacher. Ja, mich macht schreiben glücklich. Schreibenderweiser tauche in einen leicht berauschenden Zustand ein, den ich schlicht dadurch erreiche, dass ich in Gesellschaft von Worten bin. Dass ich meinem Innen im Außen, auf dem weißen virtuellen Blatt, Raum gebe. Egotrip pur oder ist Bloggen gar ein Weg zur Erleuchtung? Lacht nicht! Wer weiß das schon so genau?
Um mein Glück jedoch wirklich genießen zu können, gibt‘s noch einiges zu lernen. Zu verlernen wohl eher. Grübeln zum Beispiel. Willst du den Orgasmus, kommt er sicher nicht. Es ist doch so, dass, kaum werden wir uns des Glücks gewahr und grübeln über seine Ursache und Herkunft nach, wir auch schon aus der Glücksblase herausfallen. So will ich daher lernen, mein Glück so ähnlich zu genießen, wie es Kinder tun, die sich ihres Glücks als eigentlich normalen Zustand nicht bewusst sind.
Ich schreibe und blogge also, um mich glücklich zu fühlen? Oder schreibe ich, weil ich schon glücklich bin? Weder noch. Bloggen und Glück sind zufällige Bekannte. Oder Schwestern. Glück kommt möglicherweise am liebsten, wenn wir es locken und uns in seiner Nähe aufhalten. Und wenn wir so tun als ob. Dann kommt es und lässt sich in unserer Nähe nieder.
Doch am besten du vergisst das alles gleich wieder. Mit dem Kopf jedenfalls.
Bloggen tu ich wohl einfach, weil ich Lust dazu habe. Ob das nun unsinnig oder sinnvoll ist. Und ob Unsinn manchmal nicht sinnvoller ist, als all die ach so sinnmachenden Dinge?

eindeutig mehr

„Was mich immer wieder fasziniert, ist die Tatsache, dass Begriffe, von denen wir meinen, sie sind absolut gesetzt, in bestimmten Zusammenhängen ihre Eindeutigkeit verlieren.“
Einer dieser Sätze, die mir auf der Zunge zergehen. Mützenfalterin schrieb ihn im Kommentarstrang ihres Artikels über den Künstler Aaron Siskind (> mehr …)
Ja, richtig, auch Wörter sind relativ. Genau das habe ich gemeint, als ich neulich schrieb, dass viele Wertmaßstäbe von der Definition der jeweiligen Gesellschaft abhängen.
Nimm mal, nur so als Beispiel, das Wort „Gewissen“. Was fällt dir dazu ein? Und dir? Und jetzt denkst du kurz an das, was deine Eltern darunter verstanden haben. Eben.
„ich schreibe aus visionen heraus, die sprache ist zwar wichtig, aber in erster linie transportmittel. ich wähle die worte, aber einen kult mach ich jetzt auch nicht aus ihnen“, schrieb Luisa Francia gestern in ihr Webtagebuch.
Und ich? Ja, ich schreibe auch vor allem, weil ich eine Vision, eine Idee, eine Absicht habe. Berühren, anrühren will ich. Etwas auslösen. Die Welt ein bisschen lebenswerter machen, weil Lesen gut tun kann. Ich will ein Lächeln in ein Gesicht zaubern oder das Herz unter diesem Gesicht zum Nachdenken bringen.
Doch es gibt noch etwas dazwischen: Worte sind Transportmittel, ja, auch für mich, doch sie sind mir mehr als dies. Und ja, ich mach gerne zuweilen einen kleinen Kult aus ihnen. Denn ich liebe es, nicht nur das gute Wort zu finden, sondern das bestmögliche. So gut ich kann. Und genau da sind wir wieder bei der Eindeutigkeit. Das Beste? Was für mich eindeutig das beste Wort ist, mag dich möglicherweise nicht erreichen. Doch ich schreibe weiter.
Dreimal doch in einem Absatz? Den kleinen Widerspruch dieses Wortes mag ich. Brauche ich – habe ich zuerst geschrieben. Nein, brauchen tu ich ihn nicht, aber er tut mir gut. Was so ein einziges kleines Wort mit vier Buchstaben für dich, für dich oder für dich bedeuten mag, ist ganz und gar nicht unbedeutend.
Doch und Aber tut echt gut.

später mal

Wie Irgendlink und ich heute Nachmittag über die Felder und durch die Wälder wandern, diskutieren wir über Sinn und Unsinn der kostenlosen Updates*, die wir uns meistens nach deren Erscheinen auf unsere iPhones laden. Doch sind diese Ergänzungen wirklich notwendige Verbesserungen? Machen sie uns nicht viel mehr abhängig von Betriebssystem-Aktualisierungen? Habe ich nicht die neueste Betriebssystemversion auf dem Kleinstcomputer – oder das neueste iPhone in der Hand –, laufen die Programme auf einmal unzuverlässig, stürzen häufig ab, speichern die Bilder nicht mehr. Ich muss also im vorgegebenen Takt mitlaufen, damit nicht eines Tages meine Apps überhaupt nicht mehr funktionieren.
Die ewige Glühbirne!, sagt J. plötzlich. Ursprünglich wurde die Glühbirne, erzählt er, für die Ewigkeit gebaut. Eine dieser Prototypen brennt, seit er erfunden und gebaut worden ist. Angeblich. Schon immer. Für immer. Doch was wäre eine Industrie wert, wenn sie ewig haltbare Produkte herstellen würde? Schnelllebig wie der aktuelle Zeitgeist sind auch ihre Produkte. Ein drei Jahre alter Rechner? Vergiss es! Veraltet! Kauf dir einen neuen. Der ist eh besser. Größerer Speicher. Schnellerer Prozessor. Vorwärts. Mehr. Zuckerbrot und Peitsche digital.

Bild 1: iDogma – Unterwegs. Fotografiert und bearbeitet mit Pro HDR, Update vom 11.11.

Bild 2: iDogma – Irgendlink in Action (The Making Of A Dandelion Pic oder Wie fotografiere ich im November Löwenzahn?) – Fotografiert und bearbeitet mit Pro HDR, Update vom 11.11.
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Beim Abendessen ist auf einmal der Frosch auf dem Tisch. Der Frosch? Ihr wisst schon, jener Frosch, der sitzenbleibt, während das zu Beginn kühle Wasser, das ihn umgibt, allmählich heißer wird. Tödlich heiß schließlich. Doch er bleibt sitzen, im Gegensatz zu jenem Frosch, der sofort davon springt, wenn wir ihn in eine Schüssel mit bereits tödlich heißem Wasser setzen wollen. Diese viel zitierte Metapher, die für uns Menschen steht, die wir nicht merken, dass uns das Wasser längst bis zum Hals steht – auf einmal war sie da. Würde ich sagen, ich hätte das Froschexperiment leibhaftig ausprobiert oder zumindest beobachtet, wären alle schockiert. Der arme Frosch!, würden sie sagen. Dennoch greifen wir alle auf dieses Bild zurück, als wären wir dabei gewesen.
Wer kann bestätigen, dass der erste der beiden Frösche aus dem Experiment wirklich im heißer werdenden Wasser sitzengeblieben ist?, fragt J. Hat dieses Experiment wirklich je stattgefunden? Wir glauben Dinge, weil sie glaubwürdig klingen. Ob an ewige Glühbirnen oder an dumme Frösche ist dabei egal. Und wenn ich solche Begebenheiten erzähle, wird mir geglaubt, weil ich glaubwürdig bin.

Wir glauben alle so gerne, weil wir glauben wollen. Weil es im Internet steht. Weil es uns erzählt wird. Selbst wenn es hier wie oft nur um die Metapher geht. Das Ei und das Huhn sind gleich alt und gleich jung, denn die Zeit ist eine Spirale und Eva isst noch immer Äpfel, die gar keine sind. So ist Zukunft nichts anderes als noch nicht gelebte Gegenwart. Und Vergangenheit gelebte.
Wir sammeln und heben auf, was immer wir finden können und horten es. Für später, sagen wir. Für die Zukunft. Und wir laden Updates aufs iPhone – für später.
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* mehr zur iPhoneographie unter iDogma

Wie viel wiegt Liebe?

Wie ich da gestern Nacht nordwärts fahre, tun sich mir all die vielen Geschichten, Stränge, roten Fäden aller Menschen auf, die ich getroffen habe. Ich sehe vor meinem inneren Auge ein buntes Gewebe. Ein Teppich.
Und ich sehe die vielen Papierbündel und –säcke vor mir, die wir an die Straße gestellt haben, meine Schwester und ich. Wir haben gestern, bei ihr zuhause, die persönlichen Sachen meiner Tante, die sie in ihrem Zimmer im Pflegeheim bei sich gehabt hatte, gesichtet. Ein großer Teil waren Worte. Beschriebenes Papier. Einladungen zu Vernissagen, zerlesene und noch nicht einmal ausgepackte Zeitschriften, Ausstellungslisten, Steuerunterlagen, Rechnungen …
Soweit so gut. Doch da waren auch unzählige Kassenzettel aus den letzten beinahe dreißig Jahren dabei, die sie feinsäuberlich aufgehoben und die jeweilige Konsumation dazu geschrieben hatte. Da und dort ein Geldschein und ein paar Münzen. Weiter fanden wir unzähligen Dinge, die sie in zigfacher Ausführung gehortet hatte. Streichholzschachteln, Fuselroller, Zahnbürsten, Lippenpflegestifte. Sammlerin war sie, leidenschaftlich sparsam. Festhalten, was ist. Beschreiben. Sich erinnern.
In klitzekleinen Büchlein hatte sie in ihrer akkuraten, wunderschönen, klitzekleinen Handschrift über das Leben nachgedacht. Selbstverständlich konnte ich solche sehr persönlichen Dinge nicht wegwerfen. Oder? Vielleicht hätte sie gewollt, dass alles weggeworfen wird. Vielleicht hatte sie gehofft, dass jemand eines Tages ihre Notizen liest und ihren Gedanken zuhört. Und annähernd versteht, zu verstehen versucht, wer sie war. Ob ich das darf? Ob sie das wollte?
Wie vergänglich ein Leben ist, führten wir uns buchstäblich mit jedem neuen Bündel vor Augen, das H. und ich an den Straßenrand trugen. Als hätte es das Altpapierabfuhr-Team geahnt, kam es ausgerechnet gestern, ganz untypisch, erst nachmittags um zwei, als wir die letzten Säcke herausgetragen hatten. Wir schauten vom Fenster aus zu, wie das schwere Gefährt den Schlund aufriss und Sack für Sack und Bündel für Bündel verschlang. Recycling. Da entsteht schon bald Papier, das von neuem beschrieben und bedruckt werden kann. Ich schluckte leer und wischte mir verstohlen eine Träne aus dem rechten Augenwinkel, als das Auto endlich wieder Fahrt aufnahm, um beim nächsten Haus anzuhalten.
Das Gespräch mit meiner Tante E. nach der Abschiedsfeier fällt mir ein. Als ich sie fragte, ob sie nicht Lust habe, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, winkte sie lachend ab.
Wozu?,
fragte sie. Ich lebe, das genügt. Nein, so wortwörtlich hat sie zweites nicht gesagt. Verstehen geht nicht wirklich. Ich interpretiere.
Die einen – wie ich, ich gestehe es – haben das Bedürfnis sichtbare Spuren zu hinterlassen, schreibenderweise oder sonst wie. Andere, wie meine Tante E., sind einfach da. Sie hinterlassen Spuren, während sie leben. Für jetzt. Sie haben kein Interesse, ihre Biografie zu verewigen. Auf eine sich selbst wertschätzende Art sich nicht wichtig nehmen, nenne ich das. Klingt paradox. Ist es vermutlich auch. So wie fast alles. Schreiben ebenso. Wozu Spuren aus der Vergangenheit in die Zukunft legen? Wozu und für wen?
Die Fahrt von A. nach Z. zieht sich unglaublich in die Länge. Ich bin unsäglich müde. Habe schlecht geschlafen. Habe in L.s Gästebett zur Wolfsstunde wachgelegen und gegrübelt. Über Lebenswert, Rücksicht, Ethik und so Sachen. Die Fahrt alleine zu bewältigen, strengt mich an. Ich habe keine Übung mehr. Früher fuhr ich diese Strecke jeden Monat, weshalb meine Nerven früher Muskeln hatten, die mir halfen, diese Strecke ohne große Anstrengung zu schaffen. Nun aber haben sie Muskelkater. Ich fühle mich zudem wie am Vorabend wieder fiebrig, während ich die vielen Gespräche verdaue.
Wir gewöhnen uns an alles, heißt es. Alles, das wir mehrmals tun, gibt irgendwo Muskeln. Oder stumpfen wir bloß ab? Töten Gewohnheiten unsere Fähigkeit, zu merken, wann genug ist? Ich spiele tatsächlich unterwegs mit dem Gedanken, irgendwo im Elsass in einem Landgasthof unterzukommen, doch die Sehnsucht nach meinem Bett hält mich davon ab. Die Sehnsucht nach J., nach meiner Wohnung, nach meinem Zuhause lässt mich weiterfahren und auf einmal, nachdem ich die Hälfte der Strecke geschafft habe, wird es leichter. Als würde ich auf Schienen fahren, als wäre ich eine Zahnradbahn, die von der gegenüberliegenden Bahn angetrieben, gezogen wird. Da fällt mir die Waage ein. Die Balkenwaage. Auf der einen Waagschale liegt mein Leben, mein Beziehungsnetz in der Schweiz, auf der anderen mein neues Leben in Deutschland. Die Liebe zu J. und all die neuen Beziehungen. Wie viel wiegt Liebe? So viel, dass ich dorthin will, dort zu Hause sein will, wo J. ist. Auch wenn die schweizerische Waagschale schwer wiegt, die deutsche ist schwerer. Oder leichter. Je nach Definition. Definition ist alles.
Liebe ist leicht. Liebe wiegt schwer. Liebe ist gut und Liebe nährt.
Fremd bin ich da wie dort. Außer im Kanton Bern bin ich – wenn wir von meiner Autonummer ausgehen jedenfalls – überall fremd. So dachte ich im Kanton Zürich und im Kanton Aargau, wo ich mich die beiden letzten Tage aufgehalten habe. Stimmt dennoch nicht. Im Kanton Aargau habe ich – ebenso wie im Kanton Zürich – viele Jahre gelebt. Früher. Vertrautes berührt Fremdes, Altes das Neue.
Geschichte ist, was war. Geschichten sind, was ist, war, sein wird. Rote, blaue, gelbe, bunte Fäden, verwoben zu einem riesigen Teppich, der stetig wächst und längst aufgehört hat, jemandem zu gehören. Das Leben sind alle Fäden zusammen. Alle. Alle Schichten. Verdichtet. Von überall her kommend. Ohne Anfang, ohne Ende.
Mein Faden, dein Faden, sage ich müde.
Meine Meinung, deine Deinung,
sagt mein Liebster. Später am Feuer. Wir erzählen uns unsere Zwei-Tage-Geschichten, weben unsere Fäden in den riesigen Teppich.

Richtig falsch, oder?

Wie ich so die Wäsche aufhänge – Tücher genau so, Unterhosen natürlich anders, Pyjamateile wieder anders – geht mir durch den Kopf, dass meine These nicht stimmt. Dass ich mich selbst belüge, wenn ich behaupte oder zumindest anstrebe, die Dinge nicht mehr werten zu wollen. Tu ich nämlich nicht. Nicht hier, nicht beim Wäscheaufhängen. Und auch sonstwo nirgends. Es gibt bei mir richtig. Und falsch auch.
Ich hänge die Wäsche richtig auf, so richtig wie ich es von meiner Mutter und anderen früher mal gelernt habe. Nicht weil man (besser wohl frau) es einfach so macht, sondern aus guten Gründen. Weil es – wird es so gemacht – Arbeit beim Falten erspart. Wenn ich die Kleider mit einem kleinen Umschlag am Rand anklammere, kann ich mir das Bügeln sparen und die Kleider bleiben in Form. Zum Beispiel.
Richtig und falsch gibt es bei mir sehr wohl. Ich bewerte laufend, was ich tue. Was andere tun. Bewerten, so denke ich, bei der letzten Unterhose meines Liebsten, die ich an die Leine im Garten klemme, bewerten hilft beim Überleben. Würde ich nicht laufend Umstände nach Gefährlichkeitsgrad einstufen, wäre ich wohl längst unter einem Auto gelandet. Zum Beispiel.
Offenbar kann ich nicht leben, ohne Dinge für mich zu bewerten. Was ich aber kann, ist nicht zu verurteilen. Und das übe ich auch im Alltag. Weil ich nicht weiß, was andere wirklich denken, fühlen, erleben, erlebt haben, brauchen, nicht mehr brauchen, vermeide ich es, mit meiner Erfahrung und Meinung, will heißen mit meinen Werten, zu hausieren. Zum Beispiel.
Zurück in der Wohnung packe ich die Probenummer der Zeitschrift Connection zum Thema Vision aus und lese schon mal das Editorial. Muss grinsen. Ach, lest selbst:

Visionieren und bewerten
Wenn Visionäre als Spinner abgekanzelt werden geht es mir oft so, wie wenn ich von Spiris höre, dass sie “nicht mehr bewerten” wollen: Da kann ich kaum glauben, wie eine so grundwichtige menschliche Eigenschaft, die wir alle haben und brauchen, dermaßen abgewertet wird. Sogar die intelligenten unter den Tieren können das und brauchen es: Sie haben Vorstellungen davon, wie etwas sein soll und vergleichen die wahrgenommene Welt mit dieser inneren Vorstellung – und natürlich bewerten sie auch, gutes Essen gegenüber schlechtem Essen, den richtigen Sexualpartner gegenüber dem Falschen, und so weiter. Der Vergleich der vorgefundenen Welt mit der inneren Vision des Erwünschten impliziert immer eine Bewertung.
Wolf Schneider

Quelle: Connection Spirit 09/11 im Editorial von Wolf Schneider

Nussbaumsetzling, Eichensprössling …

Über die Bäume will ich schreiben – über das Leben der Wurzeln und Äste. Die Erde, die alles hervorbringt, erwähnen. Von Baumstammkraft erzählen, die wachsen lässt – in die Breite ebenso wie in die Höhe. Wie dankbar ich jedem einzelnen Baum dafür bin, dass er da ist! Bäume, ohne euch könnte ich nicht leben.
Und eines Tages werden sie gefällt. Nicht alle. Viele aber. Von Menschen, für Menschen. Für uns sterben sie, ohne sie wären wir längst erstickt. Doch auch nach dem Fallen leben sie weiter. Als Zeitungspapier ein paar Tage. Als Buchseite ein paar Jährchen oder mehr. Als Möbel gar länger als ein Menschenleben. Und als Feuerholz hoffentlich solange bis sie trocken sind.
Wärme und Holz. Holz und Wärme.
Grob gesägt liegt ihr da, ihr Holzstücke, an die Wand gestapelt. Menschen- und Baumkraft vereint. Mit der Säge werdet ihr nun ein weiteres Mal halbiert, damit ihr in den Ofen passt. Alsdann werdet ihr mit der Axt gespaltet. Zerteilt. In den Schubkarren gelegt. In die Kiste umgeschichtet. In die Wohnung getragen. Dankbar in die Glut gelegt.
Und jetzt? Letztes Aufbäumen. Finale. Asche.
Ich trage sie in den Garten zurück, wo alles wieder von vorne anfängt.
Dort ein Nussbaumsetzling, hier eine junge Eiche …

jetzt und immer

Wenn ich wie jetzt so dasitze – am Wohnzimmertisch in der warmen Stube –, denke ich: So könnte es eigentlich immer sein.
Wenn ich wie gestern Abend mit sympathischen, inspirierenden Menschen zusammen bin – mit den Frauen der neu ins Leben gerufenen Frauen-treffen-Frauen-Runde in meinem Wohnzimmer –, denke ich: So könnte es eigentlich immer sein.
Wenn ich alleine bin, alleine Auto fahre, alleine spazieren gehe, alleine in meinen Gedankenräumen herumtanze, denke ich: So könnte es eigentlich immer sein.
Heute beim Spätstück mit meinem Liebsten, wie wir so vor uns hin murmeln und über dies und das philosophieren, denke ich: Eigentlich ist mein persönliches Lebensziel ganz einfach: Glücklich zu sein.
Einfach? Sobald es mir gelingt, mir selbst bedingungslos das Beste zu gönnen. Ohne jegliche Selbsteinschränkungen wie “ich darf doch nicht glücklich sein, solange andere leiden!” Niemand hat etwas gewonnen, wenn ich nicht gut zu mir selbst schaue!
Laut gedachtes, das hier, Gedanken in Worte gepacktes Gespinst. Ich erhebe keine literarischen Ansprüche. Heute nicht. Zu viel ist in mir drin in Bewegung, zu viel beschäftigt mich. Meine berufliche Zukunft ebenso wie was ich heute noch alles tun werde. Tun? Lassen! Sein!
Einmal nichts zu tun ist gar nicht so einfach. Vielleicht sogar ähnlich herausfordernd wie glücklich zu sein. Beide übrigens irgendwie anarchistische Ansinnen. Ganz und gar unökonomische Ansätze. Wer glücklich ist, muss nämlich keine Lecks füllen, muss nicht konsumieren, ist immun gegen Werbeversprechen. Wer nichts tut ebenfalls, da er ja nichts tut, eben auch nichts konsumiert.
Nichts tun konkret: Putzen? Nö, heute nicht, heute nur tun, was das Überleben sichert. Kochen und Holz holen, damit wir nicht verhungern und erfrieren, ist erlaubt. Und Buch lesen auch, die Seele füttern. Bloggen. Und glücklich sein. Jetzt.

Reiseerkenntnisse

Irgendwie wäre es richtig toll, wenn ich immer einen Rechtschreibe-Duden dabei hätte, sagte ich letzten Montag auf der Fahrt in die Schweiz. Irgendlink saß am Steuer und konzentrierte sich auf die Straße. Ich hätte immer etwas zu lesen, weißt du, erklärte ich. Alles da. Jedes Wort.
Alle Bücher deutscher Sprache bestehen einzig aus seinem gewichtigen Inhalt,
sagte J.
Weißt du was? Ich könnte eigentlich mithilfe des Rechtschreibe-Dudens meine nächste Geschichte schreiben.
Du hast etwas vergessen,
sagte J.. Da gibt es nämlich ein Problem, ein großes sogar: das Copyright! Du weißt doch, dass Abschreiben verboten ist!
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Was meinst du, fragte ich später, sind meine orthopädische Einlagen wohl eher Brillen oder eher Zahnspange für meine Füße?
Keine Ahnung,
sagte J., der auf seinem iPhone Bilder bearbeitete, während ich uns durch die Landschaft Richtung Winterthur lenkte.
Wenn ich es mir so überlege … eigentlich ist jeder Mensch irgendwie Brille oder Zahnspange für seine Mitmenschen, sofasophierte ich weiter.
Oder eine Dialyse, meinte mein Liebster.
Wie wäre es mit einem Herzschrittmacher?, sagte ich.
Noch besser: ein Nierentransplantat!, sagte er.
Wir sitzen eben alle im gleichen Boot, pardon, im gleichen Auto … 🙂