Ankommen zu wollen?

Dieses weiße Blatt – nun ja, kein Blatt, ein Feld, ein Fenster, eine Fläche, ein Spiegel vielleicht sogar –, es sagt, es ruft, es befiehlt: Schreib. Und ich, ich zögere. Schaue diese weiße Fläche an. Und fühle mich leer. Nein, nicht leer, wortlos, nein, auch nicht … desorientiert womöglich.

Nicht, dass ich die Tastatur und das Schreiben auf ihr verlernt hätte nach den drei Wochen Touchscreen-Schreiberei unterwegs am Rhein, eher ist es so, als wüsste das Herz nichts mehr mit diesem Sesshaftsein hier und dem Laptop und dem Hier- und So-Sein anzufangen.

Viereinhalb, fast fünf Tage bin ich nun wieder daheim und es ist ein Daheim, das ich mag. Ein Dorf, in welchem ich mich wohlfühle. Ein Bett, in dem ich gerne schlafe. Ein Bad, in welchem ich mir gerne die Zähne putze, den Spiegel angrinse, die Dusche benutze. Eine Wohnküche, in der ich gerne koche und am Tisch sitze, essend, lesend. Doch, ja, aber … hm, ja, da ist ein Aber. Eins, das sich mir noch nicht so richtig zeigt. Und ich weiß nicht, was es mir sagen will.

Derweil lese ich weiter im Buch von Rachel Joyce, das den schönen Titel Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry trägt. Vor unserer Wanderung habe ich es zu lesen angefangen und nun wandere ich wieder weiter mit Harold, der nach vielen Nächten in Pensionen damit angefangen hat, draußen zu übernachten und dabei – ähnlich wie ich – zu merken beginnt, wie die Natur einen Menschen verändert. Ihn demütiger macht, bewusster, wacher. Noch mehr als ich stellt Harold dabei fest, wie wenig er eigentlich wirklich braucht, um den Weg, den er gehen will, gehen zu können.

Vor ein paar Tagen habe ich über den Kontrast zwischen dem Leben draußen und dem Leben drinnen auf Flussnoten, unserm Rhein-Blog geschrieben. (Dort drüben haben wir in den letzten Wochen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen erzählt und dort hat es auch einige wenige Bilder.)

Die meisten Bilder aber haben wir noch nicht gezeigt, selbst noch nicht wirklich angeschaut. So viele Bilder. Ich muss sie erst mal sichten, einige davon auswählen und verkleinern, bevor ich einige hier und auf Flussnoten zeigen kann.

Schreib!, tönt es also, das weiße Blatt, und ich würde gerne. Ich würde gerne dort weitermachen, wo ich – … ja, was? – aufgehört habe? Geht das überhaupt? Immer weiter und immer weitemachen, bloß um …?

Anzukommen?

Wie wichtig ist das Ziel? Und wenn ja, wie sieht es überhaupt aus, mein Ziel? Ist es nicht vielmehr so, dass ich eine Unterwegse bin, eine die geht. Mal schneller, mal langsamer, und dass das Ziel nicht mehr als eine Illusion des Ankommens erzeugt in seiner ganzen Vorläufigkeit? Zugegeben eine erwünschte Illusion, eine wohltuende. Eine, die dem Leben seinen vorläufigen Sinn gibt. Geben kann.

Pause.

Ich erlaube mir inzwischen, häufiger Pausen zu machen als noch vor kurzem. Weil ich sie brauche. Weil ich mich erholen muss. Beim Wandern waren die getrockneten T-Shirts, die getrockneten Socken und Schuhe unsere Pausenmaßstäbe. Was es wohl im Alltag sein könnte? Werde ich mir treu bleiben können im Alltag, mir, meinem wiedergefundenen Tempo und meiner akutellen Gegenwärtigkeit?

Das Gespür für sich selbst. Ich habe es endlich wieder und ich will es nicht mehr verlieren.

Den Schlüssel umdrehen

Ein Quäntchen Unzufriedenheit fördere die Weiterentwicklung. Sagt man. Denn wäre alles immer gut, würden wir stagnieren. Zu viel Unzufriedenheit aber ist kontraproduktiv und lebensfeindlich. Und bei mir ist es schnell mal zu viel, da ich in meiner Selbstkritik oft nicht sehr freundlich mit mir umgehen. Mit anderen auch nicht.

Dass in mir ein ziemliches Quäntchen Wut ist, habe ich gestern gemerkt. Bei größter Hitze bin ich kurz vor eins, weil um eins die Bäckerei schließt, ins Dorf runter. Da ich noch Geld ziehen wollte, ging ich also zuerst zur kleinen Dorfbank. Als ich die Straße überquerte, fuhr ein Mann auf einer Vespa auf den Platz vor dem Bankomaten jenseits des Fußgängerstreifens. Er bockte seine Vespa auf, hob den Helm ab, kramte im Gepäckraum der Vespa und ließ dabei die ganze Zeit den Motor laufen.

Es gibt fast nichts, das mich im Alltag mehr nervt als ein unnötig laufender Motor. Diese dreifache Emission: gleichzeitig Lärm, Gestank und Benzinverschwendung. Meine Nase und meine Ohren sind wohl meine sensibelsten Sinne, und ich bin vermutlich eher überdurchschnittlich lärm- und geruchsempfindlich. Und ein bisschen sehr sparsam, da als Arme-Leute-Kind aufgewachsen.

Wie auch immer: ich nähere mich also dem Bankomaten und realisiere, dass dieser Mensch ebenfalls Geld ziehen will. Vor mir. Dass ich warten muss. Mein Frust ist groß, zumal ich an unser aller Hitze, zunehmend leide. Warten in der Hitze ist da schon mal schlecht. Ich frage also, um wenigstens einen Stressfaktor zu eliminieren, ob er nicht den Motor ausmachen könne. Er reagiert nicht, nestelt nur weiter an seinem Geldbeutel herum. Murmelt vor sich bin. Seltsamer Mensch.

Das Motorrad ist etwa anderthalb Meter hinter ihm vom Bankomaten entfernt. Nachdem er nicht reagiert hat, reagiere ich. Übergriffig. Was mir aber durch meine Wut gerechtfertigt erscheint. Ich drehe den Zündschlüssel seines Motors nach links. Aus. Ruhe. Der Mann, er ist wohl so zwischen fünfundfünzig und sechzig Jahre alt, dreht sich um und sagt mit drohender Stimme: Nicht anfassen, einfach nicht anfassen! Als wäre es eine Bombe, die gleich hochgehen wird. Oder er.

Ich flüchte mich in den nächstbesten Schatten. Um die Ecke. Außer Sichtweite. Sehe ihn nur in einer Autoscheibe gespiegelt. Höre, wie er vor sich hinbabbelt: Hat die mir doch einfach den Motor ausgemacht. Ich denke zuerst, dass er in ein Handy spricht, doch das tut er nicht. Das Handy holt er erst nachher raus, als er das Portemonnaie verstaut und ich mich am Automaten zu schaffen mache. Ich belausche ein Gespräch, weil ich da bin. Weil ich nicht weghören kann. Aber ich komme darin nicht vor. Er komme gleich, sagt er. Ist Mutter auch da. Er sei noch an der Bank. Blablablub.

Nun ja, mein Nacherziehungsversuch ist in die Hose gegangen. Im Grunde, ich gestehe es, wollte ich ihn ja sensibilisieren für Ruhe, für Motor-aus und so. Die meisten Menschen, die ich bitte, den Motor auszumachen, machen ihn aus. Oder sagen wir mal zwei Drittel ungefähr. Mit den andern führe ich oft sehr emotionale Diskussionen, die im Grunde nichts bringen.

Verschobene Wut? Ist da etwas von mir selbst, ein Quäntchen Wut auf mich selbst, auf meine ach so vielen Inkonsequenzen, die ich mit solchen Aktionen bloß nach außen verlagere und an andern Menschen, die auch nicht nett zur Umwelt sind, auslasse?

Oder war es sogar ein bisschen zivilier Ungehorsam, ein bisschen Zivilcourage?

Wäre es nicht hin und wieder sogar gut, ein paar Schlüssel umzudrehen?

Wieder da … oder doch noch nicht ganz?

Als ich  am Montagmittag durchs Dorf Richtung Arbeitsplatz radelte, ertappte ich mich dabei, wie ich die Leute auf der Straße ganz selbstverständlich mit Hej-hej grüßen wollte. Auf dem Weg zur Arbeit, kurz vor dem Büro, ein Anruf meines Chefs. Wann wir uns wo sehen zur Lagebesprechung und so, wollte er wissen. Morgen, elf Uhr?, frage ich. Wie immer? Erst als ich aufgelegt hatte, merkte ich, dass das meine ersten schweizerdeutschen Worte seit Wochen gewesen waren.

Alles wie immer?

Nein, wie immer ist es noch nicht. Wird es auch hoffentlich nicht so bald. Was dieses ‘wie immer’ auch immer sein soll.

Und heute, im Büro, wie ich mit meiner Arbeitskollegin unser neues Büro fertig einrichte – den Tisch so? Oder doch besser so? Meinen Rechner da? Oder nein, so ist es besser! – spreche ich nach einer kleinen Pause auf einmal hochdeutsch mit ihr. Ganz automatisch. Immerhin nicht englisch.

Bin ich also wirklich schon da?

Schweden 4_Falun_54Genau heute vor einer Woche, um diese Zeit, saß ich mit dem Liebsten am See. Es war ein wunderbarer Abend, einer der schönsten unserer acht Tage in Falun-Udstiggen. Wehmut vor dem bevorstehenden Abschied wollte sich ein klein bisschen vor den Augenblick des Genießens schieben. Am Nachmittag hatten wir ein Interview geführt. Ich wollte ein paar Dinge über die Reise erfahren, die – so dachte ich mir – vielleicht auch andere interessieren.
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Wir hatten nach dem Abendessen einen Spaziergang in der nächsten Umgebung unternommen, im Quartier, am See, am Wald, der immer länger und länger wurde und einmal mehr merkte ich, was ich so sehr mag an Schweden, an Skandinavien. Und was ich eben manchmal in der Schweiz vermisse: Weite.

Mag sein, dass anderes das viel weniger brauchen als ich, doch für mich bedeutet Weite definitiv Lebensqualität.

Enge – im Denken ebenso wie in der konkreten Wirklichkeit des Raumes (wie wirklich diese auch immer ist) – bekommt mir schlecht.

Heute, im Büro, als wir kurzzeitig zu viert hin und her sprachen, Dinge klärten, hätte ich am liebsten gerufen: Seid doch alle mal still. Obwohl … da musste ich eben einfach durch.

Später hat meine Kollegin aus Versehen den Alarm ausgelöst, als sie die Nottüre entriegelt hatte. Was für ein schriller Ton, der doch glatt meinen Tinnitus übertönt hat. Gut, dass Kollege R. den Trick kannte und uns erlöste.

Wenn es so etwas wie Schreiasphalt gibt, über den Irgendlink heute getwittert hat, muss es wohl auch so etwas wie Kreischräume geben?

Schulhausflure zum Beispiel. Ich mag es, dass die Schule diese Woche noch fast leer ist. Nur wir zwei Verwalterinnen und die beiden Schulleiter waren am Morgen da, dazu ein paar Lehrpersonen, die im Laufe des Tages kamen und gingen. In einer Woche schon werden die Flure wieder Kreischflure sein. Nicht, dass ich mich nicht auf die Kids freue …
… aber Stille, Weite, Leerheit sind Qualitäten, die ich nie mehr missen möchte.

Apropos Schweden: Ich habe mit dem zweiten Buch der Knausgård-Biografie angefangen, Lieben,  das in Malmö, Schweden, geschieht. Nach einem zähen Einstieg bin ich nun wieder in diese wunderbar-bildreiche, berührende Sprache voll mit Knausgårds ehrlichen, selbstkritischen Beobachtungen eingetaucht. Und seiner Auseinandersetzung mit dem schwedischen Lebensstil, den er, als Norweger, seltsam findet.

Fremd und vertraut ist mir diese Welt hier. Die dort ebenfalls. Und manchmal frage ich mich, ob man wirklich je irgendwo, geografisch gesprochen, daheim sein kann. Oder ob das nicht eine der größten Illusionen überhaupt ist.

Mein Montagskontigent

Wenn Montag, der 13. Juli Tag eins ist, ist heute Tag minus 3? Oder so. Und so ähnlich fühle ich mich auch. Also irgendwie. Ich meine: Minus.

Eigentlich hätte ich ja heute Vormittag meinen letzten Bürohalbtag vor den Schwedenferien gehabt, doch kaum erwacht, ruft schon Scheffe an und meint, ich müsse nicht kommen, weil … was gemacht werden müsse, könne ich eigentlich auch von daheim aus machen.
Ich: Aber ich muss dir doch noch die Versicherungsdokumente, die du brauchst … Außerdem muss ich noch den letzten Kram verpacken. Für den internen Büroumzug.
Er: Oh, stimmt, die Doku hab ich voll vergessen. Treffen wir uns halb elf im Büro?

Wer aber die Dokus daheim vergisst, bin ich. *grmpf* – mein Glück ist, dass Scheffe eh in meine Richtung muss. Also kurzer Schlenker bei mir vorbei. Da hast du die Dinger. Und nun: Homeoffice. Mein letzter Vor-den-Ferientag passiert ganz passend daheim.

SchaumkrönchenUnd doch: Dieser Donnerstag tut schon von Anfang an so als wäre er ein Montag. Überhaupt: Das war eine Woche voller Montage! Außer am Dienstag. Da war Dienstag und ich hatte frei. Überzeit kompensieren. Wobei: Am Dienstag habe ich erfahren, dass mein Auto unheilbar krank ist. UnTÜVabel sozusagen. Kurz und schlecht: Auch Dienstag war ein Montag!

Nun denn, mein Tisch ist voll letzter To-dos und Mitsollkram. Packen tu ich aber erst am Schluss. Davor Waschen und Putzen. Endlich mal wieder. Und hoffen.

Hoffen, dass am nächsten Montag, wenn ich nach Stockholm fliege, mein Montagskontingent für diesen Monat aufgebraucht ist.

Sommer, jetzt!

Vor wenig mehr als zwei Wochen haben wir ihn gerufen, den Sommer. Here it is! Und ich gestehe es: Ich bin froh, dass er da ist. Nun ja, ganz so heiß müsste er nicht sein, und auch nicht so verherrend und dramatisch, das auch nicht, aber dass er da ist, mag ich. Ich mag die hellen Tage.

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Das hier ist ein GIF. Bei manchen Browsern braucht es einen Draufklick, um die Animation zu starten.

Und ich gestehe ebenfalls und sehr gerne, dass ich mich auf meine Reise nach und durch Schweden freue wie ein Kind. Tagezählend – noch sieben Mal schlafen bis – und ein bisschen ungeduldig seiend. Wohl auch wegen der Hitze, die sich Hierzulande nur ganz kurz ein bisschen abgekühlt hat. Heute Morgen waren es hier nur gnädig 25 Grad. Wunderbar kühl empfand ich es, als ich das Haus Richtung Büro verließ. Morgen schon wird es wieder 36 oder gar 37 Grad haben. In Stockholm, wo ich heute in einer Woche den Flieger verlassen werde, ist es jetzt 19 Grad. Ein bisschen bewölkt.

Alles habe ich mit eingepackt, ins Bild oben, das Ulli neulich auf mein Tablet skizziert hat, den Flieger, die Krone, die schwedische, das Licht, das dort auch nachts den Weg leuchtet, die Wolken ebenso wie den blauen Himmel, die Sonnenbrille … und über allem das romantische Glitzern meiner Vorfreude auf den Liebsten, der heute schon in Växjö angelangt ist (hier klicken für mehr).

Nein, das ist kein sehr geistreicher Artikel, kein hochphilosophischer, kein spirituell nährender, kein Was-auch-immer-für-einer, er ist bloß voller Dankbarkeit.

Ich danke, also bin ich.

Und ja, ich danke euch. Die lieben Kommentare zu meinem letzten Artikel (und natürlich auch die privaten Nachrichten darauf) haben mir sehr wohl getan. Ich fische hier nicht nach Mitgefühl, nach Mitleid schon gar nicht, ich will aber einfach teilen, was ist. Was ich fühle. Was ich denke. Weil ich euch mag, meine Leserinnen und Leser.

Danke, dass ihr mein Schreiben hier zu einem Dialog macht!

Alte Wege gehen

Die Arbeit an meinem Buch „Weiterleben“ mit Texten von Menschen mit Gewalterfahrungen bringt mich zuweilen an meine Grenzen. Gestern habe ich eine Frau besucht, die nur neun Monate vor mir sehr ähnliche Lebenserfahrungen gemacht hat. Auch sie hat an den Folgen eines erweiterten Suizids ihren Sohn verloren. Wir haben uns damals kennengelernt, über die Opferhilfe, und intensiv ausgetauscht. Mit meinem Wegzug in die Nordschweiz haben wir uns zwar ein bisschen aus den Augen verloren, niemals aber aus dem Herz. Ich habe sie gebeten, mir für mein Buch ihre Geschichte und ihren Weg zurück ins Leben nochmals zu erzählen. Aus heutiger Sicht.

Nach dem sehr intensiven Besuch bei ihr bin ich auf den altbekannten Straßen, die ich aus der Zeit, in der mein Sohn noch gelebt hat und in der er bereits tot war, bestens kenne. Straßen, die in eine andere Zeit und in ein anderes Leben gehören. Ich bin auf diesen altbekannten Straßen durch W., wo einst seine Patentante gewohnt hatte, gefahren, durch G. nach O..

Da der Wald, in dem ich damals, nach Lars’ Tod oft Trost gesucht habe. Dort das Schwimmbad, wo ich mit ihm manchmal – ein- oder zweimal, mehr war es wohl nicht – gebadet hatte. Hier dieser Weg nach Hause. Bachstraße wie viel? Nein, die Hausnummer weiß ich nicht mehr. Ich fahre die Hauptstraße entlang, am Coop vorbei, wo wir immer eingekauft haben. Und nachher vor allem ich. Ich hab Hunger, überlege, welchen Tankstellenshop ich ansteuern soll, will aber zuerst zum Friedhof. Ich biege links ab, ohne zu denken, den Weg kenne ich auswendig. Der Friedhof ist gleich an der Ortsgrenze, auf Stadt-Berner Boden. Er ist riesig und er ist, jetzt, kurz vor acht, still. Ein Biotop der Trauernden. Der Verkehr drumherum ist gering um diese Zeit. Das Nachtleben hat noch nicht begonnen, der Feierabendverkehr ist vorbei.

LavendelgärtchenUm acht Uhr stehe ich oben, beim Kinderfriedhof, an Lars’ Grab. Noch immer ist es sehr heiß, doch hier oben spendet der große Baum Schatten. Das Lavendelbäumchen, das wir vor einem Jahr gesetzt haben, der Liebste und ich, bevor wir losgepilgert sind. Es hat lange Äste, die sich zum Himmel ausstrecken. Die andern Lavendelstöcke feiern Hochzeit mit den Bienen, die hier ein Fest feiern.

Die Vergissmeinnicht sind schon verblüht. Etwas anderes gibt es nicht mehr. Der Hauswurz ist längt überwachsen, die große Schnecke aus Ton im Vergissmeinnichtfeld verschwunden.

Ich betrachte die neuen Gräber, das neue Grabfeld ist seit meinem letzten Besuch sehr gewachsen. Oder habe ich einfach keine Erinnerung mehr daran, wie es das letzte Mal ausgesehen hat? Auch auf den drei Plätzen für die ungeborenen Kinder hat sich vieles getan. Meine ich nur oder sind es mehr Gegenstände denn je, die hier abgelegt worden sind, um an ein ungeborenes Kind zu erinnern?

Hier weine ich kaum. Nicht hier.

Ob ich ihn hier spüre? Ich kann es nicht sagen. Hier ist der Ort, der mich an die vielen Menschen erinnert, die Lars mit mir zu Grabe getragen haben. Und hier ist der Ort, den ich auch immer wieder mit anderen, mir lieben, nahen Menschen aufgesucht habe. Hier ist ein Ort, an dem ich tiefes Mitgefühl erlebt habe. Und an dem ich tiefes Mitgefühl für all die anderen Menschen, deren Kinder hier begraben liegen, empfinde.

Ich habe ein paar Lavendelzweige gepflückt, wie immer, wenn ich zur Zeit der Blüte hier bin. Lars’ Gärtchen.

Nachdem ich an einer Tankstelle das letzte Käsesandwich erstanden habe, fahre ich Richtung Autobahn. Alles vertraute Straßen. Hier die Bibliothek, wo ich mit Lars Bücher geholt habe. Seinen Ausweis habe ich nach seinem Tod löschen lassen müssen. All diese Kleinigkeiten waren wie Peitschenschläge damals, Spießruten.

Ich verlasse das Dorf Richtung Klinik. Die Psychiatrie steht da, stark und mächtig, erinnert mich daran, dass ich es geschafft habe damals, ohne sie von innen zu sehen.

Auf der Autobahn Richtung Aargau, nach Hause, im Rücken die damalige Heimat, zerreißt es mich beinahe. Es ist mir als würde ich Lars verlassen, hinter mir lassen. Kein neues Gefühl. Ich hatte es schon damals, als ich das erste Mal in den Aargau umgezogen bin. Und ich hatte es, als ich nach Deutschland umgezogen bin. Und nun, heute, wieder. Obwohl ich weiß, dass es Lars’ Wunsch ist, dass es mir gut geht. Dass ich glücklich lebe. Das weiß ich.

Ich denke über N.s Sätze nach: Dass sie nie Schuldgefühle hatte, nie dachte, sie hätte das voraussehen und verhindern können. Sie hatte auch keine Wut, damals. Es war ihr klar: Y., der Vater ihres Sohnes, war krank, Y. hat wider die Natur gehandelt. Kein gesunder Vater bringt sein Kind um. Es ist in seiner Verantwortung nicht in ihrer gewesen, was er getan hat.

N. gibt mir ein Buch mit auf den Weg. Es hat ihr sehr geholfen.

Ich schlage es heute Morgen auf und möchte diesen Text hier mit euch teilen. Weil er mich sehr berührt hat.

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Ebbe und Flut

Seit Tagen tummelt sich dieser Gedanke durch mein Leben, dass ich oft vergesse, was uns die Natur vormacht. Dass ich oft so lebe, als wäre immer so, dabei ist es oft eben auch anders.

Die Arbeit hat mich in den letzten Wochen überflutet. Schuljahrabschluss ist, das weiß ich nun, ein tammi harter Zustand. Eine Flut, deren Ende noch nicht absehbar ist. Meine Liste ist zwar gestern und heute um einiges kürzer geworden, doch noch immer warten viele Dinge, die getan werden müssen, damit wir im neuen Schuljahr gut starten können. Wie viel es rund um die Organisation einer Schule zu tun gibt, glaubt man von außen nicht.

Dazu immer wieder Alltasszenen wie diese hier: Ein Kind aus einer nicht subventionierten Gemeinde will bei uns in den Gesangsunterricht, kann es sich aber – so befürchte ich – nicht leisten. Und so weiter. Momentaufnahmen. Dazwischen die Listen, die geführt werden müssen, damit jede Lehrperson weiß, welche Kinder nach Ferien zu ihr kommen werden. Und Kontakte knüpfen kann.

Running Gag zwischen Scheff und mir: “Wenn mir mal gaaanz viel Zeit haben, machen wir dies, machen wir das …”

Flut also, wie gesagt.

Ich wäre so langsam für Ebbe, doch es wird noch ein paar Tage so weiter gehen. Nächste Woche aber erst. Unsere Arbeitsplätze werden umgezogen in einen anderen, kleineren Raum, weil der Volksschule-Schulleiter unser Büro will. Ich befürchte, dass der Tausch nicht so toll sein wird, weil vorne mehr Lärm ist, direkt neben der Aula mit Musikunterricht. Nun denn … das haben andere entschieden.

Öresund

Flut. Kisten packen. Umziehen muss ich sie nicht selbst, zum Glück, und Scheffhimself wird beim Ausmisten helfen. Nächste Woche, wie gesagt.

Ebbe. Neumond. Pause. Ruhe. Wir lernen es, wenn wir hinschauen. Würden. Lernen ist den Konjunktiv überholen. Im die Zunge rausstrecken und sagen: Würdest du nicht immer dazwischenfunken, wäre alles einfacher, du Mistkerl.

Ebbe also. Entschleunigung. Mein Tempo finden. Ich erinnere mich dieser Tage gerne an die Pilgerwanderung genau vor einem Jahr. Als wir dem Lauf der Reuss folgten, ihrer Quelle entgegen wanderten. In unserem Tempo. Immer gerade dort unser Zelt aufschlugen, wo es uns gefallen hat.

Ebbe und Flut leben – könnte heißen, mal schlemmen, mal fasten, mal schuften, mal pausieren.

In der Natur ist gleich viel Ebbezeit wie Flutzeit, gleich lang Neumond wie Vollmond.