Manche Geschichten, glaube ich, wollen einfach erzählt werden. Sollen. Müssen sogar.
Anders gesagt: Warum habe ich den Nelken- und nicht den Buchenweg genommen?
Warum so und nicht so?
Wäre ich, hätte ich nicht.
Wäre ich nicht, hätte ich.
Sie steht hinter ihrem kleinen quietschgrünen Kleinwagen und versucht mit der rechten Hand den Kofferraum zu öffnen. Mit der linken hält sie sich am Auto fest. Ihr Stand ist wackelig, dennoch zögere ich kurz, doch schon mache ich – fast reflexartig – ein paar Schritte auf sie zu. Ich spreche sie an, um sie nicht zu erschrecken, bevor ich ihr beim Öffnen des Kofferraums helfe. Ein Klapprollator liegt darin. Wir ziehen ihn gemeinsam heraus. Sie sagt mir, wie es am besten geht. An den Rädern, nämlich, sie lege ihn immer so hin, damit sie ihn gut einhändig herausziehen könne. Leichtes Teil. Was es nicht alles gibt!, denke ich und klappe das Teil vor ihr auf. Sie nimmt meine Handreichung dankbar an, obwohl sie alles selbst kann.
Den habe ich im Internet bestellt. Zuerst habe ich alle miteinander verglichen, sagt sie nun. Lächelt schelmisch. Ich habe alle Daten runtergeladen. Das war der leichteste und er ist mit diesen großen Rädern auch geländegängig.
Damit können Sie sogar über holprige Wege wandern, sage ich. Sie lacht weise und nickt. Ihr Wangen sind von der Anstrengung gerötet. Mit ihren weißen Locken und der roten Jacke wirkt sie wie eine liebe Großmutter aus dem Bilderbuch. Eine moderne Großmutter. Keine Spur von Senilität. Wach. Herzlich. Lebendig ist sie. Und lebensfroh. Ich frage, ob ich den Kofferraum schließen soll.
Ja gerne, und ich muss noch zur Beifahrerseite, die Einkäufe rausholen. Ich trete einen Schritt zurück, um sie an mir vorbei zu lassen, doch schließlich biete ich ihr an, die Einkäufe auf den Rollator zu stellen. Warum eigentlich nicht gleich hineintragen? Sie sucht den Schlüssel in der Jackentasche und sagt: Ja gerne. Es ist kein Bitten und keine Peinlichkeit in ihrer Stimme. Sie nimmt einfach ein Geschenk an, weil sie merkt, dass ich das gerne mache und weil sie weiß, dass sie es auch selbst kann. Mir gefällt das.
Ich trage die beiden Taschen ins Haus und stelle sie in den Flur. Als hätte ich das schon immer gemacht. Oder jedenfalls schon oft.
Sie haben eine Katze?, frage ich. Katzenfutter liegt oben auf dem Einkaufskorb. Zwei sogar. Und wie auf Stichwort kommt ein riesiger, rot-weißer Moudi, ein zehnjähriger Kater, aus dem Haus. Er kommt sofort auf mich zu, lässt sich liebkosen, umkreist mich eins ums andere Mal.
Wir plaudern über Katzen und über das Älterwerden. Ob sie eine Hüftoperation gehabt habe, frage ich. Gestürzt sei sie, im Garten. und die Ärzte hätten sie aufgegeben.
Ein riesiger Gehirntumor, sagt sie und zeigt auf ihre Stirne. Hier. Das kann man nicht operieren. Ich bekam also einfach nur Chemo und Bestrahlungen. Ein Arzt meinte, ich werde nie wieder gehen können und für immer ein Pflegefall bleiben, selbst wenn der Tumor nicht mehr wachsen werde. Aber mein Schwiegersohn der hatte Beziehungen. Er ist Dr. bio-chem und der hat dann einfach nicht aufgehört zu forschen und so habe ich ein Medikament zusätzlich zur Bestrahlung bekommen. Und auf einmal war der Tumor weg. Und nun trainiere ich. Ich kann alles wieder alleine machen. Ich gebe einfach nicht auf.
Kurz habe sie im Pflegeheim in unserm Dorf gelebt, das ich immer mal wieder von außen betrachte und über all die Geschichten nachdenke, die darin wohnen. Ein Heim und seine Menschen mit ihren Geschichten.
Wir verabschieden uns herzlich, nennen zuvor aber noch unsere Namen, sagen: Auf ein ander Mal! und mein Herz ist froh und dankbar, als ich heimwärts bummle.