Achtung, Spoilergefahr!

»Spoiler-Phobie. Die kurze Geschichte eines neuen Phänomens | Geschichten der Gegenwart | Nur wenige Dinge sind so verpönt wie das Spoilern eines Films oder einer Serie. Dabei ist der Spoiler ein junges Phänomen.«
So übertitelt Simon Spiegel einen spannenden Artikel, in welchem er unser Verhalten bei Filmen und Serien (und unser Leseverhalten) untersucht.

Während ich den Artikel lese, wird mir schnell klar, dass ich anders ticke, denn ich lasse gern spoilern. Nicht immer, aber jedenfalls definitiv nicht nicht. Ganz oft recherchiere ich bei Büchern oder Filmen, die ich gerade lese oder gucke parallel dazu die Geschichte und ihre Hintergründe. Nicht selten erfahre ich so absichtlich den Ausgang der Geschichte. Mich stört es nicht, wenn ich bei Krimis schon im Voraus weiß, ob X oder Y stirbt, überlebt und wer der Mörder oder die Schurkin ist. Dieses Wissen stört mich nicht, manchmal hilft mir das sogar, die zuweilen schier unerträgliche Spannung auszuhalten.

Ja, klar, ich mag Spannung, aber noch mehr mag ich gut erzählte Geschichten. Also die Geschichten an sich. Ich lausche. Ich bin lesend und Filme schauend unterwegs mit der Geschichtenerzähler:in, mit den Figuren. Und obwohl ich weiß, wie die Geschichte endet, bin ich während des Lesens oder Schauens dabei. Es kommt mir letztlich mehr auf die Geschichte, auf die Erzählung, auf den Weg an sich an als auf das Finale.

Am liebsten würde ich ja auch bei meinem Leben vorausgucken können – den Schluss lesen –, und vom Ende aus meinen aus heutiger Sicht zukünftigen Weg betrachten, und den unseres Planeten mit all den vielen Lebenwesen darauf. Werde ich, werden wir als Gesellschaft die Kurve noch schaffen– oder eher doch nicht? Wie es wohl weitergeht, mein Leben?

So und nicht anders. Jetzt.

Manche Geschichten, glaube ich, wollen einfach erzählt werden. Sollen. Müssen sogar.
Anders gesagt: Warum habe ich den Nelken- und nicht den Buchenweg genommen?
Warum so und nicht so?
Wäre ich, hätte ich nicht.
Wäre ich nicht, hätte ich.

Sie steht hinter ihrem kleinen quietschgrünen Kleinwagen und versucht mit der rechten Hand den Kofferraum zu öffnen. Mit der linken hält sie sich am Auto fest. Ihr Stand ist wackelig, dennoch zögere ich kurz, doch schon mache ich – fast reflexartig – ein paar Schritte auf sie zu. Ich spreche sie  an, um sie nicht zu erschrecken, bevor ich ihr beim Öffnen des Kofferraums helfe. Ein Klapprollator liegt darin. Wir ziehen ihn gemeinsam heraus. Sie sagt mir, wie es am besten geht. An den Rädern, nämlich, sie lege ihn immer so hin, damit sie ihn gut einhändig herausziehen könne. Leichtes Teil. Was es nicht alles gibt!, denke ich und klappe das Teil vor ihr auf. Sie nimmt meine Handreichung dankbar an, obwohl sie alles selbst kann.

Den habe ich im Internet bestellt. Zuerst habe ich alle miteinander verglichen, sagt sie nun. Lächelt schelmisch. Ich habe alle Daten runtergeladen. Das war der leichteste und er ist mit diesen großen Rädern auch geländegängig.

Damit können Sie sogar über holprige Wege wandern, sage ich. Sie lacht weise und nickt. Ihr Wangen sind von der Anstrengung gerötet. Mit ihren weißen Locken und der roten Jacke wirkt sie wie eine liebe Großmutter aus dem Bilderbuch. Eine moderne Großmutter. Keine Spur von Senilität. Wach. Herzlich. Lebendig ist sie. Und lebensfroh. Ich frage, ob ich den Kofferraum schließen soll.

Ja gerne, und ich muss noch zur Beifahrerseite, die Einkäufe rausholen. Ich trete einen Schritt zurück, um sie an mir vorbei zu lassen, doch schließlich biete ich ihr an, die Einkäufe auf den Rollator zu stellen. Warum eigentlich nicht gleich hineintragen? Sie sucht den Schlüssel in der Jackentasche und sagt: Ja gerne. Es ist kein Bitten und keine Peinlichkeit in ihrer Stimme. Sie nimmt einfach ein Geschenk an, weil sie merkt, dass ich das gerne mache und weil sie weiß, dass sie es auch selbst kann. Mir gefällt das.

Ich trage die beiden Taschen ins Haus und stelle sie in den Flur. Als hätte ich das schon immer gemacht. Oder jedenfalls schon oft.
Sie haben eine Katze?, frage ich. Katzenfutter liegt oben auf dem Einkaufskorb. Zwei sogar. Und wie auf Stichwort kommt ein riesiger, rot-weißer Moudi, ein zehnjähriger Kater, aus dem Haus. Er kommt sofort auf mich zu, lässt sich liebkosen, umkreist mich eins ums andere Mal.

Wir plaudern über Katzen und über das Älterwerden. Ob sie eine Hüftoperation gehabt habe, frage ich. Gestürzt sei sie, im Garten. und die Ärzte hätten sie aufgegeben.
Ein riesiger Gehirntumor, sagt sie und zeigt auf ihre Stirne. Hier. Das kann man nicht operieren. Ich bekam also einfach nur Chemo und Bestrahlungen. Ein Arzt meinte, ich werde nie wieder gehen können und für immer ein Pflegefall bleiben, selbst wenn der Tumor nicht mehr wachsen werde. Aber mein Schwiegersohn der hatte Beziehungen. Er ist Dr. bio-chem und der hat dann einfach nicht aufgehört zu forschen und so habe ich ein Medikament zusätzlich zur Bestrahlung bekommen. Und auf einmal war der Tumor weg. Und nun trainiere ich. Ich kann alles wieder alleine machen. Ich gebe einfach nicht auf.

Kurz habe sie im Pflegeheim in unserm Dorf gelebt, das ich immer mal wieder von außen betrachte und über all die Geschichten nachdenke, die darin wohnen. Ein Heim und seine Menschen mit ihren Geschichten.

Wir verabschieden uns herzlich, nennen zuvor aber noch unsere Namen, sagen: Auf ein ander Mal! und mein Herz ist froh und dankbar, als ich heimwärts bummle.

Ausgelesen II. #2

An alles gewöhnt sich der Mensch, Mutantin, die sie ist. Sogar ans Zugfahren. Zumal ich lesen kann. Dazu bin ich nämlich schon früh morgens um halb acht in der Lage.

furchtbarliebZufällig bin ich neulich beim Surfen auf das e-Book Furchtbar lieb von Helen FitzGerald gestoßen und lud es mir aus Neugier aufs iPhone. Fast in einem Zug habe ich es verschlungen. Sicher werde ich noch mehr von dieser schottischen Autorin lesen. Fitzgerald schreibt glasklar und ironisch, zugleich äußerst sensibel und verstörend. Ihre Geschichte verblüfft mich immer wieder neu und lässt mich kaum zu Atem kommen. Wer englische Bücher mag, muss das lesen. Das Buch gibt’s übrigens auch als – ähm – Buch.

die_welt_auf_dem_kopfWeil ich dank der App Onleihe kostenlos an die eBooks meiner Bibliothek komme, habe ich mir das Neue von Milena Agus ausgeliehen und – wie vor einiger Zeit ihre Frau im Mond – bis zur letzten Seite mit offenem Mund dieser wunderbaren sardischen Geschichtenerzählerin gelauscht. Ihrer poetischen Sprache, die authentisch und bezaubernd den Alltag in einem verrückten alten Mietshaus in Cagliari auf Sardinien schildert. Die Welt auf dem Kopf liest sich wunderbar schwerelos, obwohl die Menschen darin keineswegs alle auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Ein tolles Buchgeschenk für Menschen mit Phantasie.

scheintotAuf dem Heimweg von der Arbeit habe ich heute einen Thriller von Tess Gerritsen, ebenfalls als eBook ausgeliehen, angefangen: Scheintot. Eine Autorin, die ich bisher nur vom Namen her kannte. Sie liest sich ausgesprochen spannend. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.

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Wenn ich grad nicht Zug fahre oder im Büro sitze, bin ich am Laptop und lektoriere Irgendlinks Buch fertig: Schon wieder ein Jakobsweg soll Ende Woche als eBook bei neobooks erscheinen. Wenn alles klappt. Wenn wir fertig werden. Wenn nichts dazwischen kommt.

Und wenn ich nicht am Lektorieren bin, versuche ich meinen zurzeit überlasteten Geist irgendwie zur Ruhe zu bringen. Ich lasse alle Tippfehler sein, was sie sind. Sollen sie doch grad machen, was sie wollen. Miiir doch egal …

Wie gut, dass ich morgen frei habe … (Arbeit habe ich nämlich auch zu Hause genug.) Und, ja, auch viele Bücher, die darauf warten, von mir gelesen zu werden …

Meine Räder und ich

Seit Tagen steigen Erinnerungen hoch. Zum Beispiel an die Sache mit Ostern. Wie war das gleich gewesen, früher? Eier suchen gabs bei uns nicht. Meine Mutter hat uns ja auch nie Märchen erzählt. Das sind doch Märchen, ich erzähl euch doch keine Lügengeschichten. Ab und zu las sie eine Kindergeschichte aus einer Zeitschrift vor. Das wars schon. Gut, dass ich schon sehr früh lesen konnte. Und alles zu lesen begann, was mir in die Finger kam.
Karfreitag habe ich während meiner Ausbildungszeit gerne meditativ und auch gerne alleine verbracht. Ich fuhr zum Beispiel mit meinem bordeauxroten Rennrad an den Hallwylersee – hin und zurück dreißig Kilometer. Womit wir bei meinem Fahrrädern wären …
Hach, mein rotes Rad, mein erstes eigenes Rad! Meine Räder waren nicht einfach Fahrräder. Nicht einfach nützliche Dinge, mit denen man von A nach B fuhr. Nein, so wie auch meine Autos Persönlichkeiten sind und waren, waren und sind das auch meine Räder. Jedes schrieb mit mir ein Stück Lebensgeschichte.
Fahren lernte ich auf dem roten Kindervelo meiner Schwester. Ich war wohl sieben oder acht. Unsere Straße war dazu wie geschaffen, ein wahres Kinderparadies. Samt Wald. Ein Biotop für Kinder. Radfahren, Rollschuhlaufen, Federballspielen, im Wald Baumhütten bauen … ja, das war alles wirklich gut und schön. [Neben allem andern Scheiß.]
Mit zwölf kam ich in die Oberstufe. In die Bezirksschule im Nachbarort. Wohin ich mit dem alten Rad meiner Mutter fuhr. Als ich es zu benutzen begann, war das gute Teil schon über zwanzig Jahre alt. Es hatte eine Sturmey Archer-Dreigang-Schaltung, einen zweifarbigen Ledersattel und einen schweren, dunkelgrünen Rahmen. Altmodisch wie sonst was. Für eine Zwölfjährige war so ein Teil unglaublich peinlich. Andererseits (und wenn ich ganz ehrlich bin) habe ich das Teil geliebt. Ich trug es auf wie eins jener alten Kleidungsstücke, die wie angegossen sitzen und trotzdem längst von allen andern in die Kleidersammlung geworfen worden wären. Natürlich moserte ich rum und wünschte mir ein eigenes neues Fahrrad. Was aber nicht so einfach war, weil das Geld fehlte.
Schließlich begann meine Schwester nach ihrer Konfirmation mit der Lehre und kaufte sich vom ersten Lehrlingslohn und dem Konf-Geld ein Mofa. Ich besuchte nun bereits das zweite Jahr der Bezirksschule und durfte ab sofort ihr vier Jahre altes Fahrrad auftragen. Ein Durchschnittsmodell, wie auch meine Mitschülerinnen sie trugen fuhren. Goldmetallic der Rahmen. Warum sie damals nicht das alte Mutterrad hatte benutzen müssen, frage ich mich heute zum ersten Mal. Vermutlich hatte sie sich erfolgreicher als ich dagegen gewehrt? Das konnte sie nämlich viel besser als ich. Doch ich, ich träumte – trotz hübschem goldenem – noch immer vom eigenen neuen Fahrrad.
Ein Jahr später wurde mein Traum wahr, denn ich gewann bei einem Wettbewerb ein nigelnagelneues Velo. Dumm nur, dass ich inzwischen erfolgreich meine Mofaprüfung abgelegt und sich mein Traum vom eigenen neuen Fahrrad in den vom blauen Mofa gewandelt hatte. Längst hatte ich auch auf Mofas von Kollegen und Kolleginnen einschlägige Erfahrungen gesammelt. Mein Vater half mir, meinen Traum zu verwirklichen. Er verhandelte mit dem Zweirad-Händler im Nachbardorf, der schließlich mein gewonnenes Fahrrad in Zahlung nahm und mir gegen einen Aufpreis ein quietschblaues Mofa, ein Puch Maxi, verkaufte. Das gleiche wie meine Freundin U.. Fast alle aus meiner Klasse kamen inzwischen mit dem Mofa in die Schule. Nach der Schule fuhren wir ab und zu in die nahen Hügel und kurvten herum. Ein Mofa war für uns das Synonym für Freiheit.
Viele Jahre, auch als ich schon in A.und noch später in B. zur Schule ging, fuhr ich mit meinem Maxi durch die Welt. Treu und zuverlässig brachte es mich ans Ziel. Doch auf einmal erwachte der Traum vom Fahrrad wieder. Freundin D. hatte sich beim Fahrradhändler W. im Oberdorf einen pinken Renner spritzen lassen. Boah, so ein geiles Teil! Zwar nicht in pink, aber so ein Renner war doch genau das, was ich mir immer gewünscht hatte! Außerdem jobbte ich ja in den Schulferien immer und hatte mir inzwischen etwas zusammengespart. Für gute Noten kam auch immer was dazu und so konnte ich bald zum Velo-W. gehen und mir mein eigenes Traum-Velo zusammenstellen. Bordeauxrot musste er sein, der Rahmen meines „Halbrenners“ – damals meine Lieblingsfarbe. Dazu hatte er einen schwarz ummantelten Rennlenker, feine Spritzschutzbleche und einen feinen Gepäckträger, auf den ich einen ebenso feinen Gitterkorb – ein Geburtstagsgeschenk meines Bruders M. – klemmte. Okay, so ein Korb auf einem Renner mag ein Stilbruch sein, doch ich musste und wollte mit dem Rad ja zur Schule und hatte immer viel zu schleppen. Oder ich fuhr mit meinem Rad an Karfreitag an den Hallwylersee oder mit der Jugendgruppe an die Aare. Das Mofa stand nun hinten in der Garage, nicht mehr vorne, und wurde immer seltener gebraucht.
Als ich nach meinem ersten Arbeitsjahr – als sozialpädagogische Praktikantin – als Zweiundzwanzigjährige für ein weiteres Praktikum ein Jahr ins Tessin fuhr, nahm ich nur das rote Fahrrad mit. Auch später, als ich nach Bern zog, um Buchhändlerin zu werden, kam mein rotes Rad mit und erkundete mit mir diese Stadt, die mir viele Jahre später wieder Heimat wurde.
Irgendwann kam der Tag, da mein rotes Rad starb. Die genauen Umstände habe ich vergessen. Es war, so meine ich mich zu erinnern, geklaut und kaputtet worden und wurde später wiedergefunden. Die Reparaturen hätten mehr gekostet als ein neues Rad, doch weil ich als Buchhändlerin nur wenig verdiente und das Wenige für eine Reise sparte, konnte ich mir kein teures Markenrad kaufen. Also musste ein günstiges Stadtfahrrad her. Das Teil hielt nicht lange, ich erinnere mich kaum an seine Farbe und es war oft kaputt. Wenige Jahre später wurde es von einem schönen neuen türkisfarbenen Citybike mit breiten Reifen, die auch auf ungeteerten Wegen und im Wald etwas taugten, abgelöst. Inzwischen war ich das erste Mal verheiratet, lebte in der gleichen Gegend wie heute und arbeitete zuerst im Kinderheim und später in der örtlichen Buchhandlung. Das Bike war damals mein Alltags- und Freizeitmobil. K. und ich verbrachten unsere Freizeit oft auf den Sätteln unserer Stahlrosse. Daran hat sich bei mir bis heute nichts geändert. Nur dass auch mein türkisses Pferdchen eines Tages seinen Dienst aufgab. Ich vererbte es einer Organisation, die ausrangierte Räder reanimiert und nach Afrika schickt. Der Gedanke, dass mein altes Rad noch immer irgendwo lebt, macht mich noch heute froh.
Mein aktuelles (Marken-)Fahrrad habe ich vor elf oder zwölf Jahren in T. gekauft, als ich mit meinem zweiten Mann im Berner Oberland gewohnt hatte. Dieses silberfarbene Rad mit blauen Teilen da und dort hat längst seine Marke überlebt. Zugegeben, es ist in die Jahre gekommen und längst trägt und fährt es nicht mehr nur Originalteile. Noch nie war ein Rad so lange bei mir. Dem Liebsten-sei-Dank, der es immer wieder zum Laufen bringt.
Heute Nachmittag – nach einem regionalen GeocacherInnentreffen in der Nähe meiner Wohnung – radelten wir beide noch ein wenig an die nahe Reuss.
Einfach drauflos.
Über Stock und Stein. Waldwege.
Ab und zu schieben, wo der Weg zu schmal, der Wald zu dicht ist.
Bei jeder Verzweigung entscheiden, wo lang wir fahren wollen.
Wie im richtigen Leben.