Moment mal

Ist es egoistisch, besonders in Krisenzeiten gut zu sich zu schauen? Sich Gutes zu tun, sich kreativ zu betätigen, lesen, lachen, spielen und sich nicht ständig mit den neuesten Infos zur Krise auf dem Laufenden zu halten?

Zum einen ist da die zurzeit alle Kanäle erfüllende globale Krise, doch zum anderen sind da die ganz vielen, ganz persönlichen (und dennoch kollektiven) Krisenherde. Manche köcheln zum Glück nur auf kleiner Flamme, doch manche brodeln über. Die Isolation, die Quarantäne, die erzwungene Ruhe überfordert viele. Ruhe? Ja gern, aber dann lieber nicht mit solchen Vorzeichen und nicht unter diesen Umständen der Unfreiwilligkeit. Ich kenne niemanden, den oder die das alles kalt lässt, doch ich sehe je länger je mehr unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem Virus und dem, was es anrichtet, umzugehen.

Über die Trauerphasen, die wir kollektiv durchschreiten, schrieb ich neulich schon. Selbst switche ich zwischen Wut und Akzeptanz. Und manchmal stampfe ich innerlich mit dem Fuß auf und will, dass alles wieder ist, wie …

Nein, Halt, vor der Krise war ja auch schon große Krise. Klimakrise. Die ist auch. Die ist nicht einfach weg, auch wenn Corona dem Klima gut tut. Auch sind da noch ein paar andere Krisen am Brodeln. Also bitte, nein, so wie vorher will ich es auch nicht, ich will es ’wie nachher’, ich will es anders, ich will es besser – für alle, nicht nur für ein paar wenige.

Ich will, dass wir als Gesellschaft aus dem, was jetzt unbefriedigend oder schlecht funktioniert – allem voran das Gesundheitswesen –, Lehren ziehen und die dann auch wirklich umsetzen. Im Großen ebenso wie im Kleinen. Ich will, dass man nicht nur jetzt auf Fachleute hört, sondern auch bei anderen Themen. Besonders in Sachen Klima.

Dass man jetzt, mitten in der Corona-Krise auf wissenschaftliche Fachleute hört, ihnen glaubt und ihren Rat befolgt, obwohl zu diesem Wissensbereich viel mehr Unsicherheit besteht als bei der viel besser erforschten Klimathematik, ist eigentlich verrückt. Denn das hier ist – jedenfalls in dieser Dimension – für die meisten Menschen Neuland.

Ich habe vor etwa einer Woche praktisch aufgehört, mich mit Zahlen und Statistiken verrückt zu machen. Alle paar Tage mal, das muss reichen. Ich will nicht abstumpfen, vor allem aber will ich nicht in Zahlen, sondern an Menschen denken und fühlen. Und daran ändern kann ich nichts.

Ich versuche besonnen zu bleiben. Manchmal kann ich der Angst in meiner Brust mit bewusstem Atmen punktuell Raum geben, sie anschauen, ihr zuhören, wenn sie mir mal wieder die Kehle zudrücken will. Ja, ich will ihr ins Gesicht schauen, aber Wohnrecht bekommt sie nicht. Auch versuche ich, die Verantwortung für die ganze Welt nicht allein zu tragen. (Wer ähnlich tickt wie ich, weiß, was ich meine.) Und ich versuche, aufrecht stehen zu bleiben. Mit beiden Füßen. Wie auf einem Seil. Auf einem Grat.

Uns fehle es an Visionen und Utopien, lese ich, wir lebten inmitten von Dystopien. Ja, ist wohl so.

Andere Frage: Wann hatten wir je eine bessere Gelegenheit dazu die Gesellschaft neu erfinden, wenn nicht jetzt? Ob wir sie nützen?

Schon vor wenigen Wochen, als sich die Corona-Krise gerade erst wie eine kleine Regenwolke vor die Sonne zu schieben begonnen hatte, dachte ich: Wann, wenn nicht jetzt wäre der richtige Zeitpunkt gekommen, das Grundeinkommen einzuführen und – schwupp! –  sind fast über Nacht Initiativen dafür gestartet worden. Wie wunderbar das doch wäre, denn viele Menschen fallen zwischen die Stühle. Leider decken die Hilfspakete nicht alle Nischen ab. Grundeinkommen wäre also DIE Lösung.

Mir fällt auf, dass existentielle Themen auf einmal nicht mehr nur solche Menschen wie mich beschäftigen, die eh immer viel über das Leben und die Welt nachdenken.

Auf einmal wird deutlich, wie existentiell wichtig bildende Kunst, Kunsthandwerk, Handwerk, Literatur, Musik, Tanz, Sport und alles was wir für unsere Gemüter tun und um den Druck in uns zu regulieren. (Was bin ich froh über meine seit zwanzig Jahren (fast) tägliche Yogaroutine, die ich aktuell um einige physiotherapeutische Übungen ergänzt habe, damit mein Fersensporn sich erholt.) Existentiell ist all das, was mir beim Existieren hilft, beim Überleben, beim Leben. Und dazu gehört definitiv  auch die Radreise des liebsten Irgendlink, der aktuell vom Schreibtisch aus höchst velosophisch* von Zweibrücken nach Andorra radelt. Er hat übrigens noch Platz auf dem Gepäckträger, falls du mitradeln willst. Vor zwanzig Jahren das erste Mal, vor zehn Jahren das zweite Mal und heuer das dritte Mal betrachtet er den Weg, die Landschaft, die Orte, die Menschen vom Sattel – respektive vom Bürostuhl –  aus und schreibt sehr anschaulich über die Welt, wie er sie sieht.

Gerade hilft mir diese seine Reise, ihn nicht allzu sehr zu vermissen. Nicht zu wissen, wann wir uns wiedersehen können, ist diesmal allerdings deutlich schwerer auszuhalten als wenn er tatsächlich auf dem Radel unterwegs wäre. Natürlich ist da immer Ungewissheit, weil das Leben überall und immer lebensgefährlich ist, doch diesmal die Ungewissheit anders. Die Dauer des Nicht-Sehen-Könnens ist ungewiss und unfreiwillig, der Verlauf der ganzen Quarantäne ist ungewiss. Außerdem ist Irgendlink für mich systemrelevant und diese Geschlossene-Landesgrenzen-Ungewissheit bindet viel Energie (auch wenn ich das natürlich akzeptieren muss).

Ich weiß inzwischen, dass es aus mentalgesundheitlicher Sicht hilfreicher ist, mir solche Ängste, Unsicherheiten und Ungewissheiten einzugestehen und sie zuzulassen als sie zu unterdrücken. Und ich weiß auch, dass es normal und menschlich ist, an die eigenen Grenzen zu kommen, besonders unter solchen Umständen.

Zusammenreissen erzeugt Überdruck, der in Unterdruck münden kann – Depression und anderes –, und nein, das ist nicht nur ein lustiges Wortspiel. Ich weiß, wovon ich rede.

Was ich sagen wollte? Nein, im Gegenteil! Es ist überlebenswichtig, dass ihr alle gut zu euch schaut. Bitte-bitte tut es. Und ja, ich weiß, manche haben dafür keine Zeit. Vielleicht ist es darum gut, wenn die, die ein bisschen mehr Zeit haben, auch ein bisschen mehr für andere mitschauen. Oder so.

—-

*velosophisch = Ich bin Emil ewig dankbar für dieses wunderbar treffende Wort.

»Es ist halt jetzt nun mal so!«

Es ist wie fotografieren. Im Moment ist zoomen angesagt, heranziehen, vergrößern, genau hinschauen. Details, kleine Dinge des Alltags, die wir gar nicht beachteten, werden auf einmal wichtig und groß. Wie Kieselsteine im Schuh oder wie das Lied der Amsel auf dem noch immer kahlen Apfelbaum.

Und nein, ich spreche nicht vom ausverkauften Klopapier, eher denke ich an Dinge wie ein Lächeln da und dort oder die Erkenntnis, dass die liebe Freundin noch alleiner ist als ich. Die Kräfte haben sich verschoben. Niemand weiß wirklich, wie es weiter gehen wird. Und es zeigt sich jetzt auch, ob die von uns gewählten Volksvertreter*innen uns wirklich vertreten – oder eben nicht.

Improvisation ist gefragt. Gemeinschaftssinn. Zusammenstehen, miteinander … Worte, die zurzeit inflationär aus unseren Mündern purzeln. Dürfen sie, sollen sie – solange sie echt gemeint sind.

Krisen lassen sich jedenfalls gemeinsam besser ertragen und durchschreiten.

Nun ja, die wirklich schlimmen Krisen waren bisher immer weit genug weg von uns hier im satten Mitteleuropa. Im Mittelmeer zum Beispiel, oder im Osten irgendwo oder im Süden oder noch weiter weg.  Und wenn doch bei uns, dann irgendwo am Rand. Fast unsichtbar für alle Nicht-Betroffenen. Wir haben ja schließlich unsere Grenzen.

Dieser Tage denke ich wieder einmal viel über Grenzen nach und stelle fest, dass ich je länger je weniger an Landesgrenzen glaube.  Nicht nur, weil ich gern und oft der Liebe wegen im ’großen Nachbarkanton’ weile, wie wir hierzulande Deutschland gerne nennen, und weil mir diese Grenzen zu überschreiten aktuell verwehrt ist. Aber das soll heute nicht das Thema sein.

Es gibt aber auch Grenzen, die Fakten abbilden. So gibt es Grenzen die ein Vorher und ein Nachher definieren. Das Vorher, welches wir bis vor zwei, drei Monaten gelebt haben und zu kennen glauben, wird (wahrscheinlich) nie mehr sein. Nicht mehr so. Manches ist für immer vorbei und vergangen, manches wird sich neu formen. Wir stecken mitten in einem umwälzenden Prozess, der existentiell ist und schmerzhaft und der Chancen in sich trägt. Wir stecken mitten gemeinsam in einem ’Stirb und Werde’-Prozess.

Hannah C. Rosenblatt fragt in ihrem gestrigen Blogartikel zu Recht, was “der Kampf gegen COVID-19” mit kollektiver Trauer zu tun hat. Auch denkt sie über den Begriff Kampf nach. Ähnlich wie ich stört sie sich an manchen Wortkonstrukten, die zurzeit die Medien fluten. Mich zum Beispiel stören Begriffe wie ’Kontaktsperre’ oder ’soziale Distanz’. Nein, bitte nicht!

Wir brauchen soziale Nähe, immer, jetzt vielleicht noch mehr denn je. Zurzeit aber halt nicht physischen Kontakt, weil das im Moment nicht geht. (Es lebe das Internet!)

Trauer also. Ja, wir trauern. Kollektiv.

Wenn ich meine ganz persönlichen Erfahrungen der letzten zwei bis drei Wochen betrachte, erkenne ich, dass ich wirklich genau den Weg zurück gelegt habe, den ich zurücklege, wenn jemand stirbt, der mir nahe steht. (wenn auch in einem etwas anderen Tempo).

Ich zitiere Rosenblatt, die unsere kollektiven Trauerreaktionen wie folgt auf die Coronakrise übersetzt hat:

»Ich weiß, dass es jetzt darum geht zu trauern. Dass jetzt ein Prozess einsetzt, der alle bekannten 5 Stadien der Trauer beinhaltet.
+++ Leugnung – „Es wird mich nicht betreffen.“
+++ Wut – „Ich will mich nicht wegen so eines Virus einschränken!“
+++ Verhandeln – „Okay okay, also wir bleiben schön zu Hause und kaufen andern Leuten keine Nudeln weg und dann wird alles gut, ja?“
+++ Traurigkeit – „So viele Menschen sind krank und sterben – und niemand weiß, wann es enden wird.“
+++ Akzeptanz – „Es ist wie es ist, wir werden sehen, wie wir da durchkommen.“« (Zitat Ende)

+++

Ich war heute kurz einkaufen. Die gewünschten Paprikachips für jene mir unbekannte Frau, die mir eine Viertelstunde später ihre alte Zweitnähmaschine schenken würde. Ein symbolischer Tausch. (Hätte es Klopapier gehabt, hätte ich bestimmt noch eine Packung gekauft und ihr vor die Haustür gestellt.)

An der Ladenkasse saß eine freundliche ältere Dame. Diesmal waren deutlich mehr Leute im Laden als letztes Mal und diesmal war nach mir ein älteres Paar dran, das viel zu schnell aufschloß und weder zu ihr noch zu mir den geforderten Mindestabstand einhielt. Nicht aus bösem Willen, sondern aus – so vermute ich – fehlendem Gefahrenbewusstsein. Sie steckten – so vermute ich weiter – noch in der Leugnungsphase (siehe oben). Denn nicht alle haben wir das gleiche Tempo. (Was in dieser konkreten Situation nicht ganz ungefährlich ist.) Die Kassiererin bat sehr kompetent um mehr Abstand, zu ihrem und zu meinem Schutz und sagte dann lächelnd in die Runde:
»Es ist halt jetzt nun mal so!«

Vielleicht mit das Klügste, was ich heute gehört und gelesen habe.

Weil es jetzt halt nun mal so ist, werde ich morgen anfangen, Atemschutzmasken aus Stoff zu nähen. Ein paar bekommt die Frau, die mir ihre alte Nähmaschine geschenkt hat. Wer eine braucht, soll eine bekommen. Das ist, was ich tun kann. Nach einer Anleitung von Youtube. (In meinem PDF hier ist die Quelle genannt). Ich glaube nämlich, dass diese Dinger bald zu unserem Alltag gehören werden. Eine Frage der Gewohnheit. Und eine Frage des Respekts. Um andere zu schützen. Im Bewusstsein, dass es nicht alles ist, eine Maske zu tragen, dass es aber mehr ist als nichts.

Ja, es sind oft die kleinen Dinge, die in einer Krise helfen, sie zu ertragen.

Gemeinsam kunsten trotz Corona

Eine Grafik mit drei Icons. Eine Pinsel auf Leinwand, ein Fotoapparat und ein Briefsymbol.
Col-Art Info
  1. Male ein Bild auf ein Stück Leinwand (offenes Thema: Gemeinsam trotz Corona). Die Leinwand sollte 22×22 cm groß sein. Lasse bitte einen Rand von 1 cm ringsum unbemalt. Alle Bilder des gemeinsamen Kunstprojekts werden später zu einem großen Col-Art Gemälde zusammengenäht oder geklebt. Deshalb der Rand. Signiere dein Bild und schreibe auf die Rückseite: Name, Adresse, Telefonnummer und/oder Mailadresse, deine Webseitenadresse.
  2. Fotografiere Dein Kunstwerk und sende es an Jürgen und Marc per Mail. Die Bilder werden hier im Blog in einer Galerie gezeigt. Wenn Du Deine Webseite angibst, wird dahin verlinkt. Über das Fortschreiten des Projekts informieren wir in der Kategorie Col-Art.
  3. Sende die Leinwand ohne Rahmen per Brief an Marc (M. Kuhn | J. Sesslerstr. 7 | CH-2502 Biel-Bienne). Er wird die Einzelbilder zu einem Gesamtkunstwerk fügen.

In diesem GIF zeige ich, wie du dir eine Leinwand vorbereiten kannst. 

Das animierte Bild zeigt, wie man ein Stück Stoff über Pappe spannt, hinten verklebt und mit weißer Farbe grundiert.
Eine Leinwand auf Pappe kleben, um sie besser bemalen zu können.

Weitere Informationen über die Kunstrichtung Col-Art, die 1968 vom Schweizer Maler Marc Kuhn ins Leben gerufen wurde, findest Du auf dieser Seite. Wir freuen uns auf viele Teilnehmende, Laien wie Profis, Alt und Jung. Wenn mehr als Hundert Menschen mitmachen wird es das größte Col-Art Kunstwerk aller Zeiten.

Das hier ist eine Col-Art-Kunstaktion von Jürgen Rinck, Deutschland, Rossana Duran, Mexico und Marc Kuhn, Schweiz. (Ich teile es hier nur.)

Marc Kuhn schreibt in seinem gestern verschickten Rundbrief: »Unsere Idee: Jede und Jeder – von alt bis Jung – mit Lust mitzumachen malt auf ein kleines Stück Leinwand bei sich zu Hause ein Acrylbild, mit dem offenen Titel: Gemeinsam trotz Corona. […] Wir in Biel stellen dann auf einer Fläche von 100×100 cm die ersten 25 eingesandten Bilder zu einer ‘Col-lage’ so zusammen, dass die entstandene Komposition optimal stimmt.

Jürgen seinerseits in Zweibrücken stellt die neu entstehenden Col-Collagen ins Netz (https:irgendlink.de/col-art), wo auch Du und andere sie besichtigen können. […] Gerne kannst Du dieses Projekt auch weiteren Bekannten weitersagen, die womöglich Freude hätten, beim Projekt mit dabei zu sein.

Sollten über 100 Menschen bei dieser Riesencollage mitmachen – und wir wünschen es natürlich von Herzen – so wäre es in der über 50-jährigen Geschichte von Col-Art die Realisation mit den meisten Teilnehmern ever.

In der Hoffnung, bald von Dir Post mit Bild zu kriegen und zuvor am besten ein Foto Deines Werkes per Mail, grüssen wir Dich herzlich.«

Sei dabei!

Mein Klopapier ist Ingwer

Aber nicht so, wie ihr denkt. Nö, nicht Klopapier, das ist zu banal. Ingwer ist mein Kryptonit sozusagen. Oder mein Anti-Kryptonit. Egal, das eine kann eh nicht sein ohne das andere. Stark nicht ohne schwach.

Was ich sagen will: Ich brauche Ingwer. Ingwer ist mein Antidot. Er geht zur Neige, reicht vielleicht noch für zwei Tage.

Was ich eigentlich sagen will: Heute werde ich einkaufen gehen müssen.

Ich gestehe, ich trage mich mit der Absicht, heute Ingwer zu hamstern, Bio-Ingwer. Meine Herz- und Nervennahrung. Und – insbesondere bei Halsweh – mein Lieblingsgetränk.

Diesen Frühling will ich versuchen, ihn selbst anzupflanzen. Für schlimme Zeiten. Ich meine für noch schlimmere Zeiten natürlich. Weil es ja immer ‘noch schlimmer‘ werden kann, denn wir sind noch längst nicht am Ende der Fahnenstange angekommen. Jedenfalls was die äußeren Einschränkungen betrifft. Noch können wir unsere Wohnungen verlassen, noch wird von unseren Regierungen (D und CH zumindest) auf unsere Vernunft vertraut. Noch können wir in den Wald. (Bitte nehmt mir nie den Wald weg!)

Manchen, vielleicht sogar ganz vielen, ist das alles schon zu viel. Für manche ist das hier schon die Vorhölle. Für ‚normalen Menschen‘, die normalerweise einen Alltag mit vielen Menschen, vielen Begegnungen, viel Ablenkung – kurz: viel Input – haben, ist das hier gerade eine sehr grenzwertige Erfahrung. Für sie ist das jetzt, diese Entschleunigung, purer Horror. Sie wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen und drehen im Kreis. Viele halten es kaum aus.

Für Menschen, die – wie ich – gesundheitlich eh eingeschränkt sind und dieses Höhlenleben bereits Alltag nennen, ist die Übung im Eingeschränktleben auf einmal eine Ressource.

Für mich ist anderes schwierig: Ich leide am Wissen, dass es ganz vielen Menschen genau jetzt, gleichzeitig, ganz verdammt schlecht geht und ich – wie meistens – nicht wirklich viel dagegen tun kann. Oder nur in kleinen Häppchen.

Da ist gerade so viel Leid. Genau jetzt.

All die Menschen in den Flüchtlingslagern zum Beispiel, die neben ihres ganz individuellen persönlichen Leid politisch längst zu Instrumenten geworden sind.
Ja, und all die Klimaflüchtlinge überall.
All die Menschen, die in Ländern ohne unsere doch zweifellos trotz allen Spardrucks recht gute medizinische Versorgung leben.

Ich fühle dieses ganze Leid mal wieder so verdammt schwer, unerträglich schwer auf meinen Schultern. Ich ziehe es mir an wie ein Kleid, ein viel zu enges Kleid, das mir nicht gehört. Jedenfalls gehört es nicht mir allein. Es gehört uns allen und wenn wir es uns gemeinsam anziehen, dann wird es auf einmal groß und weit und passt sich an und wir können etwas tun. Vielleicht jedenfalls. Ich hoffe es.

Gehöre ich eigentlich eher zu denen, die Hilfe brauchen oder zu denen, die Hilfe geben können?, fragte ich mich gestern. Die Antwort ist in meinem Fall (jetzt und noch) ein Sowohl-als-Auch.

Auf jeden Fall täte ich mich schwerer damit, Hilfe zu erbitten, denn anzunehmen. Das war immer schon so. Und damit bin ich vermutlich nicht allein.

Seit über drei Wochen bin ich krank. Nichts Schlimmes. Immer Schluckweh. Zuweilen Fieber, aber immer nur ein wenig. Zuweilen Schnupfen, aber ohne Fließnase, die dafür oft ganz schön juckt. Hui, bin ich plötzlich pollenallergisch? Die Symptome klingen jedenfalls nicht nach Covid19, dennoch lebe ich ‚mit Abstand‘ und das schon seit über zwei Wochen, mit wenigen Ausnahmen. Termine habe ich längst alle abgesagt und ich verlagere Soziales auf Messengerdienste und Socialmedia. Videotelefonie wird schon bald die physischen Therapiegespräche ablösen.

Doch heute werde ich einkaufen gehen müssen. Wegen Ingwer. Und Bier. Und ich werde der Kassierin danken, dafür dass sie da ist. Und ich werde ihr wünschen, dass sie gesund bleiben möge.

Hoffentlich geht es meiner Lieblingskassiererin, die immer ein Lächeln auf den Lippen hat, gut, ihr und ihren Lieben auch.

Und gerade wünsche ich mir sehr, das Wünsche helfen.

Neue Wirklichkeiten

Über Sollbruchstellen nachgedacht. Denn:

»Es sind merkwürdige Zeiten, in denen alles unglaublich beschleunigt passiert aber gleichzeitig auch alles in einer unglaublichen Klarheit reduziert ist, alle Sterne brillieren, alle Sollbruchstellen brechen, es gibt sehr wenig ’dazwischen’ im Moment«,

schreibt Frau Novemberregen.

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Wo breche ich, wo brichst du?
Wo setzen wir uns neu zusammen, wenn der Sturm vorbei ist?

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Viele verhalten sich so normal, als könnten sie mit ihrem Ignorieren der Maßnahmen, die Veränderungen aufhalten.

Andererseits brauchen wir Normalität und Rituale. Nutzen wir doch die Chance, diese zu überdenken.

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Verhalte dich so, als hättest du das Virus.
Oder verhalte dich wenigstens so, als würdest du lieben. Als würdest du jemanden sehr lieben, dem das Virus voraussichtlich sehr schaden könnte.

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Fast fünf Jahre her. Irgendlink und ich hatten für eine Woche ein Häuschen in Falun gemietet. Ich flog nach Stockholm und traf ihn, der mitten in seiner Live-Kunst-Rad-Tour ans Nordkap unterwegs war, für eine kleine Auszeit in Örebro, von wo aus wir uns mit zwei Campingplatz-Zwischenstopps Richtung Falun durchschlugen, ich mit ÖV, er mit dem Radel.

Wir überlegten damals auf unseren kleinen und größeren Touren durch die schwedische Pampa, wie es wäre, wenn seine Reise statt mit Muskelkraft auf seinem Fahrrad nur in seinem Kopf stattfände. Wenn er sich mit dem Blick auf Karten und virtuellen Weltbetrachtungstools seine Reise zusammenfantasieren würde. Wenn er aus den tiefen seiner Erfahrungen schöpfen und eine Reise rein virtuell rein fiktiv erzählen würde. Täglich. Als wäre er unterwegs.

Diese Phantasie hat uns eingeholt. Diese Phantasie ist seit drei Tagen Wirklichkeit geworden. Andorra, das Irgendlink in diesen Tagen mit dem Rad hatte anpeilen wollen, ist weiter weg denn je. Die Grenzen sind geschlossen. Die äußeren Grenzen ja … vergessen wir nicht die inneren Grenzen. Kraft unserer Phantasie können wir um die Welt reisen. Oder nach Andorra. Mit Irgendlink. Täglich neu. Täglich ein bisschen weiter. Hier.

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Gestern war ich im Wald. Es waren mehr Menschen unterwegs als auch schon. Und alle in respektvollem Abstand.

Ich pflückte Bärlauch und begriff, wie alles zusammenhängt.
Obwohl es letztlich unbegreiflich ist.

(Über die Natur der Natur schrieb Ulli heute hier.)

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Leben, so gut es geht.
Es jeden Tag üben, dieses Leben.
Jeden Tag von neuem.

Rasante Verlangsamung

Hast du Angst vor dem Virus?, fragte ich vor einer Woche in meinem letzten Blogartikel. Und verneinte meine eigene Frage. Nun ja, vor einer Woche war das Virus ja auch noch viel weiter weg.

Was wird in einer Woche sein? Noch immer befinden wir uns alle in etwas ganz Neuem drin, da ist etwas, das wir so noch nie erlebt haben. Wir kennen uns nicht aus. Wir haben keine Kontrolle. Wir haben wenig Erfahrungswerte. So wie für jede*n von uns das Älterwerden immer wieder neue Wendungen bereithält – etwas geht unwiederbringlich zu Ende, während etwas Neues entsteht –, fordert uns alle dieses eine Virus heraus, unsere Gewohnheiten komplett auf den Kopf zu stellen.

Es ist näher gekommen. Es betrifft uns mehr denn je. Schulen schließen, soziale Kontakte sollen, um Kontaminierung zu reduzieren, auf ein Minimum heruntergefahren werden. Bei uns noch auf Basis von Vernunft, noch ohne Ausgangssperren, doch kulturelles Leben findet je länger je weniger auf Bühnen und immer mehr online statt. Das Gebot der Stunde lautet, die Ansteckungskurve flach zu halten. Die Rasanz zu verlangsamen.

Bevor Irgendlink heute Morgen losgefahren ist, um einem kranken Freund zu assistieren, haben wir einmal mehr über die Risiken gesprochen und über die Was-wenns. Sein Freund, der mindestens zweimal zur Conora-Risikogruppe gehört, könnte – so überlegen wir – das Virus längst wegen seiner häufigen Klinikaufenthalte mit sich herumtragen. Symptome gibt es ja nicht immer. Wir sind alle verletztlich, niemand weiß, wie unser Körper auf das Virus reagieren wird, wie stark unser Immunsystem ist, wie viel unsere Lungen verkraften. Apropos Lunge: Auch Irgendlink ist Teil der Risikogruppe. (Wie hatte ich so lange verdrängen, dass er vor einigen Jahren fast tödlich an einer ’systemischen Erkrankung mit einer verstärkten Immunantwort’ erkrankt war. Betroffen bei ihm waren vor allem die Lungen. Zwar waren alle Nachsorgeuntersuchungen seither ohne nennenswerten Befund gewesen, doch reagiert seine Lunge sehr sensibel, besonders auf Feinstaub.)

Seit dieser Erkenntnis heute Morgen bin ich doppelt froh um meine Vorsicht. Vielleicht ist es  mir jetzt sogar noch wichtiger als zuvor, dass ich mich nicht anstecke. Um ihn nicht anstecken zu können.

Was ich sagen will? Sobald die Risikogruppe ein Gesicht hat, wirds persönlich. Und oft beginnen wir erst zu handeln, wenn etwas persönlich wird. Nicht, dass wir nicht vorher schon ein wenig gehandelt hätten, doch wird das Handeln je persönlicher desto betroffener wir sind. Es wird zielgerichteter, es wird konkreter, schält sich aus der Abstraktion, die so ein Virus hat, heraus.

Inzwischen soll es (in der Schweiz) übrigens bereits Schnelltests geben, die innerhalb weniger Stunden erste Ergebnisse liefern können. So können Ansteckungsgefahren schneller gebannt werden. Und natürlich, wie gesagt, durch das konsequente Einhalten der behördlichen Empfehlung, soziale Kontakte, insbesondere Menschenansammlungen, möglichst zu vermeiden.

Ob ich immer noch keine Angst vor dem Virus habe? Hm. Doch. Vielleicht schon. Irgendwie. Großen Respekt auf jeden Fall. In Panik zu verfallen, vermeide ich.

Parallel zur wachsenden Angst und zum Ansteigen der Fallkurven sind in den letzten Tagen aber auch einige erfreuliche Dinge geschehen. Ich beobachte da etwas, das ich vorsichtig ein Aufkeimen von mehr Solidarität in der Gesellschaft nennen möchte.

Begrüßenswertes geschieht derzeit insbesondere in der kulturellen Szene und der Klimakrise-Bewegung. Hier entstehen in diesen Stunden wertvolle Online-Aktionen. Eine sehr wichtige Entwicklung! (Und wie schon so oft, wünschte ich mir, dass das Bedingungslose Grundeinkommen schon Realität wäre. Existenzsicherung!)

Wir haben mehr in der Hand als wir denken, geht es mir durch den Kopf.

Bei allem, was wir tun, sollten wir immer alle anderen mitdenken, die, die womöglich gerade jetzt mehr gefährdet sind als wir. Kollektiv vor Individuum.


Veranstaltungen

Musik (für Klassikfans)
Igor Levit spielte gestern online für sein virtuelles Publikum. Link
Heute geht es hier weiter: Link
Tägliche Konzerte, weiterhin täglich um 19:00 hier: Link

Lesung
Jasmin Schreiber liest heute Abend um 20:00 aus ihrem Bestseller Marianengraben, den ich neulich rezensiert habe, moderiert von Natascha Strobl: Link.
Allgemeine Infos hier: Link.
Zukünftige Lesungen von Jasmin Schreiber auf ihrem Twitchkanal: Link.

Klimademos
Wegen Corona wird ab sofort online demonstriert. Hier zum Beispiel: Link.

Notizen am Rande #5

Hast du Angst vor dem Virus?

Nun ja, vor dem Virus, respektive davor, die Viruserkrankung selbst zu bekommen, habe ich eigentlich noch immer keine Angst, auch wenn ich hoffe, sie nicht so bald zu bekommen. Weil ich – wie wir alle – eine potentielle Multiplikatorin bin und eine Person treffen könnte, die zur Risikogruppe gehört, versuche ich, so hygienisch wie möglich zu leben. Gesunder Menschenverstand und so.

Wovor ich aber wirklich in den letzten Tagen immer ein bisschen mehr Angst bekommen habe, ist vor der Menschheit.

Mir fiel ein Gespäch ein, dass ich vor etwa zehn Jahren mit dem Liebsten geführt hatte. Es war an einem Wochenende bei ihm, wir hockten am Ofen und philosophierten über die Welt. Ich hatte die These formuliert, dass die Menschen zu Tieren werden und nur an sich selbst und ans eigene Überleben denken würden, sollte es irgendwann hart auf hart kommen. Irgendlink hoffte, dass wir alle aus der Geschichte gelernt hätten und rechnete darum mit einem gewachsenen Solidaritätsbewusstsein. Gerne hätte ich damals seine Hoffnung geteilt, aber mit Hoffen tat ich mich ja schon immer eher schwer.

Dieses Gespräch haben wir wie gesagt vor etwa zehn Jahren geführt. Vor dem ’Erstarken der neuen Rechten’ in vielen westlichen Ländern, aber auch vor dem Erwachen der neuen Willkommenskultur und bevor dieselbe wieder wegpolitisiert wurde. Es war vor der weltweiten Klimakrise und es war vor allem vor dem flächendeckenden Smartphone-Zeitalter. Die Welt war, mit Verlaub, damals noch ein klein bisschen humaner. (Oder vielleicht waren wir auch einfach noch ein bisschen hoffnungsvoller?)

In unserm Gespräch überlegten wir uns verschiedene Krisen-Szenarien und wie wir damit umgehen könnten. Wir sprachen – so erinnere ich mich – vor allem über Kriege, Lebensmittelknappheit und darüber, selbst aus irgendwelchen Gründen flüchten zu müssen. Ich glaube, weder Klimakrise, Erderwärmung noch Pandemien kamen in unseren Überlegungen vor. Warum auch immer. Zwar war ich politisch immer klar positioniert – sprich: rot-grün –, aber damals dachte, las und verfolgte ich deutlich weniger mit, was auf der Welt so alles geschieht und geschehen könnte, als ich es heute tue. Und daran ist definitiv das Handy schuld. Socialmedia. (Ich gestehe, dass ich mir in besonders dünnhäutigen Momenten diese ’Unschuld’ zurückwünsche.)

Wir sprachen damals am Holzofen darüber, was wir tun würden, wenn. Wir sprachen über Humanität und Solidarität.

Heute geschieht das alles unmittelbar vor unser aller Augen. Kriege tobten immer schon, doch gab es noch nie so viele Kriegsherde weltweit wie aktuell. Und auch im Netz herrscht vielerorten Krieg. Im eigenen Land geht der Hass um, er ist alltäglich geworden. Dazu sind wir Zeuginnen und Zeugen einer schon bald nicht mehr aufhaltbaren Klimawandels, der menschliches Leben auf der Erde in wenigen Jahren unerträglich machen wird.

Mittenhinein nun diese Krankheit – ausgelöst durch ein neues Virus –, die aktuell ungefähr zehnmal so viele Todesopfer wie eine normale Grippe fordert. Ja, schlimm, sehr schlimm. Klar. Aber schlimmer, viel schlimmer ist für mich, wie wir mit alldem umgehen. Die Verhältnismäßigkeiten. Oder besser die Unverhältnismäßigkeiten. Wenn ich Richtung Lesbos blicke, wo EU-Beauftragte Menschen erschießen, deren einziges Verbrechen darin besteht, dass sie sich ein Leben in Sicherheit wünschen, wird mir schlecht.

Wie geht Liebe in Zeiten von Corona? Besteht (Selbst-)Liebe in Zeiten von Krisen aller Art darin, Desinkfektionsmittel zu klauen, Vorräte zu hamstern, sich mit dem Verkauf gehamsterter Schutzmasken eine goldene Nase zu verdienen? Ich könnte kotzen. Und schreien. Und um mich schlagen. Das alles macht mich so wütend.

Nein, ich habe keine Angst vor dem Coronavirus, ich habe Angst vor dem Virus Egoismus, gegen den es nie eine Impfung geben wird. Ich habe Angst vor dem Virus Mensch.

Doch wie sagt Irgendlink, der noch immer hofft? »Wenn wir dem leidenden Nächsten so viel Aufmerksamkeit schenkten wie einem Virus und noch ein Schuss Anteilnahme beigäben, könnte die Welt in Ordnung kommen.«


Herzliche Leseempfehlungen:

»Stellen Sie sich vor, Solidarität wäre der allerhöchste gesellschaftliche Wert, und wir wären statt auf Egoismus darauf trainiert, immer die Schwächsten zu schützen. Und – stellen Sie sich vor, das würde nicht alles so wahnsinnig naiv und utopisch klingen. Das wär was.«
-Margarete Stokowski
Quelle: www.spiegel.de

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»Die Geschwindigkeit, mit der es ein Virus vom einen Ende der Welt ans andere schafft, gehört zu unserer Zeit. Es gibt keine Mauern, die es aufhalten könnten. In früheren Jahrhunderten passierte das genauso, nur etwas langsamer. Allgemein ist das größte Risiko in solchen Situationen […] ist die Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen, die Barbarisierung des zivilen Umgangs.«
-Alessandro Volta
Schulleiter des Mailänder Liceo (übersetzt von Andrea Dernbach)
Quelle: christachorherr.wordpress.com

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»In Wahrheit leben wir immer noch wie die Maden auf dem Grabhügel des Verschweigens. Einen Schlussstrich kann man nur dort ziehen, wo Schluss ist. Hier ist aber kein Schluss, weder im Großen noch im Kleinen.«
-Andreas Maier
Quelle: www.zeit.de