Erinnerungen

Es war etwa vier Jahre nach dem Tod meines Sohnes. Ich hatte wieder eine Arbeitsstelle gefunden, war Teil eines sehr engagierten Teams geworden, das einer Wohngruppe mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung einen anregenden und auf ihre persönlichen Bedürfnisse ausgerichteten Lebensraum ermöglichte. Wir begleiteten unsere Leute durch den Alltag. Wecken, Duschen, Frühstücken, in die Ateliers begleiten. Und auch am Nachmittag, wenn sie von der Arbeit zurück in die Wohngruppe kamen, waren wir für sie da. Spielen, Abendessen kochen, Lieblingsfilme gucken, Zähneputzen, Schlaflieder singen …

Mit der Nachtbetreuung wechselten wir uns ab. Kaum jemand mochte diese Nächte, die oft sehr unruhig waren. Eine Bewohnerin mussten wir jeweils nachts wecken und aufs Klo begleiten, damit sie nicht ins Bett pinkelte, während ein  Bewohner nachts selbst auf Klo tappte. Doch zuweilen fand er den Rückweg in sein Zimmer nicht und landete bei einer der Bewohnerinnen, was diese eher nicht so toll fand. Kurz: An Tiefschlaf war nicht zu denken und die Tür des Betreuer*innenzimmers musste immer einen Spalt aufbleiben, damit wir nichts verpassten.

Alle hatten wir unsere Bezugsperson, für die wir innerhalb der Gruppe ein bisschen mehr als alle anderen verantwortlich waren. Das betraf neben Familienkontakten auch Gesundheitliches, Ärztinbesuche, Kleiderkauf uns so weiter. Meine Bezugsperson war Rosa, die in Wirklichkeit anders hieß. Rosa war eine kleine Frau um die sechzig mit Downsyndrom und schrägem Humor. Wenn sie lachte, blieb kein Auge trocken.

Sie war nicht mehr so gut zu Fuß, doch alle nahmen auf ihr Schneckentempo Rücksicht, wenn wir an Sonntagen Ausflüge machten. Überhaupt: Rosa war sehr beliebt. Als sie nach und nach immer vergesslicher, immer dementer wurde, fragten die anderen Bewohner*innen, auch jene aus anderen Wohngruppen, oft nach ihr und besuchten sie. Schließlich wurde es Zeit für den Rollstuhl und damit für uns als Betreuende höchste Zeit für einen Kurs in Kinästhetik. Wie schaffe ich es, einen Menschen mit wenig Muskeltonus ohne mir den Rücken kaputt zu machen, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und wieder zurück? Ein hausinterner Kurs, der uns allen viel mehr als nur technische Anleitungen bot.

Rosa baute nach und nach ab, sie redete weniger, lachte weniger und erzählte, wenn sie es denn tat, oft von ihrer Mutter, die auf sie warte. Mama, ich komme!, sagte sie dann oft und dann lachte sie über das ganze Gesicht.

Eines Tages, ich hatte frei, musste sie ins Krankenhaus, wo ich sie dann am nächsten Tag besuchte. Dort sagte Rosa mir, sie wolle nach Hause. Unklar war, ob dieses Zuhause unser Heim war, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte oder ihr Kindheitszuhause mit Mutter und Restfamilie – oder meinte sie sogar der Himmel, wo ihre Mutter auf sie wartete?

Ich besprach Rosas Anliegen mit meiner Chefin und schließlich auch mit dem Team. Waren wir in der Lage, Rosa palliativ zu begleiten – technisch ebenso wie emotional? Inzwischen war Rosa nämlich bettlägerig geworden, hatte einen Blasenkatheder und brauchte eine Dekubitusmatratze, um Liegeschäden entgegenzuwirken. Außerdem nahm sie nur noch flüssige Nahrung zu sich, alles andere verweigerte sie. Kurz: Es ging um ihre letzten Wochen. Waren wir als Team dazu bereit, als nicht ausgebildete Betreuer*innen solche intensive Körperpflege zu leisten? Ganzkörperwaschungen, Kathederwechseln, Umlagern, Füttern.

Chefin und Team waren sich einig: Ja, wir wollen das! Und so holten wir Rosa nach Hause. Da niemand von uns Erfahrung in dieser Art von Pflege hatte, brauchten wir Starthilfe. Ich meine mich zu erinnern, dass uns am Anfang eine Pflegefachfrau anleitete. Sie zeigte uns auch den Umgang mit Morphintropfen, die Rosa beim Loslassen helfen sollten – und ihre Schmerzen linderten. Irgendwann trauten wir uns diese Pflegearbeit selbst zu. Ich war hauptverantwortlich. Ich gestehe, dass ich mir im Voraus nie hätte vorstellen können, so eine körperlich nahe Betreuungs- und Pflegearbeit verrichten zu können. Und dabei keine Ekel zu empfinden. Im Gegenteil. Ich mochte diese ruhige Viertelstunde am Morgen und am Abend, die ich ausschließlich mit Rosa verbringen durfte.

Wieder lag also eins meiner ‚Kinder‘ im Sterben. Diesmal jedoch durfte ich es begleiten. Diesmal durfte ich langsam Abschied nehmen. Anders als bei meinem kleinen Sohn, der viel zu jung und viel zu krass aus dem Leben geschieden war, hatte ich hier Zeit, mich auf den nahenden Verlust einzustellen.

Es war ein Sonntagnachmittag und ich hatte frei, als mich meine Chefin anrief. Rosa sei gestorben. Sofort setzte ich mich aufs Rad und fuhr ins Heim. Meine Chefin hatte die ganze Nacht und den ganzen Tag bei Rosa verbracht. Ihr die Hand gehalten. Ihr die trockenen Lippen benetzt. Und als sie schließlich starb, das Fenster geöffnet, um ihre Seele freizulassen.

Wir weinten zusammen und ich nahm von Rosa Abschied. Auch die anderen Bewohner*innen und die anwesenden Teamleute betraten zum Abschiednehmen das Zimmer, wo Rosa leise lächelnd in ihrem Bett lag, so als würde sie schlafen.

Später kam die Bestatterin. Wir schauten uns an und sofort erinnerten wir uns. Es war die Bestatterin, die damals meinen Sohn beigesetzt hatte. Ich weiß nicht, wie viele Bestattungsunternehmen Bern damals hatte, aber es waren schon damals sehr viele. Was für ein krasser Zufall, dass meine Chefin genau diese Bestatterin ausgewählt hatte!

Die überaus sozialkompetente, freundliche Bestatterin und ich hatten damals einige Male telefoniert, uns dabei auch über Persönliches ausgetauscht und sie hatte mir nach der Beerdigung meines Sohnes versichert, noch nicht an einer schöneren dabei gewesen zu sein. Und nun standen wir uns also wieder persönlich gegenüber, denn wieder war eins meiner ‚Kinder‘ gestorben. Ein sehr berührendes Wiedersehen war das!

Ich sehe den Sarg vor mir und Rosa, wie sie hineingelegt wird. Nochmals nehme ich Abschied von ihr und ich weiß Rosa in guten Händen. Später ist fast das ganze Heim dabei, als wir sie beerdigen.

Alle, die wollen, dürfen sich in diesen Tagen etwas aus Rosas Zimmer auslesen. Die Schürze, die sie einst im Kunstatelier bedruckt hat, trage ich noch heute mit Dankbarkeit für diese kleine Frau mit dem großen Humor und der ansteckendsten Lache, die ich je gehört habe.

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Mit diesen geballten Erinnerungen bin ich heute Morgen aufgewacht. Keine Ahnung, was sie geweckt und ausgelöst hat. Es sind Erinnerungen, die mich jetzt, beim Aufschreiben, sehr berühren. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Ein bisschen mehr Frieden war mir zugewachsen.

Auswahl

Frau Rebis radelt zurzeit durch Tschechien. Sie bloggt und twittert von unterwegs. Gestern hatte sie ein Dilemma, das ich gut kenne. Auf der großen Zeltwiese galt es auszuwählen, wo sie ihr Zelt auf bauen soll.

»Ist nur ein wenig schwierig, auf der riesigen freien Wiese einen Platz für das Zelt auszusuchen. Wirklich jetzt: wenn so gar nichts dasteht, wenn ich riesige freie Wahl habe, woran orientiere ich mich dann?«

Quelle: fraurebis.wordpress.com

Könnte ich tun, was ich wollte, ohne Gedanken an den Verdienst, weil ich Bedingungsloses Grundeinkommen erhalte zum Beispiel, wie würde ich dann leben? Wo würde ich leben und wie würde ich meine Lebenszeit verbringen?

Wie viel Sinnhaftigkeit beziehen wir dadurch, dass da Vorgaben sind – ob nun andere Zelte oder Menschen, die etwas so und so tun.

Hängt das Recht auf ein gutes Leben davon ab, wie viel wert mein Leben hat? Wie viel wert ist und hat ein Leben? Deins, meins, irgendeins. Müssten sie nicht theoretisch alle gleich viel wert sein? Und wer misst das und woran? Und was ist die Währung?

Hängt mein, dein, unser Wert womöglich davon ab, welche Spuren wir hinterlassen, was wir tun, was wir unterlassen, wie sehr wir der Gesellschaft dienen und wenn ja, womit? Ist es dieser Wert der meinem Leben das Recht auf ein gutes Leben gibt? Ist es womöglich dieser Wert, der einem Leben seinen Sinn gibt?

Und wie steht es mit jenen Dingen, die ich tue, weil sie mir Freude machen und mir gut tun, aber letztlich niemandem dienen? Damit meine ich nicht erholungsbedingtes Abhängen, Lesen, Lachen, Einfachsein, sondern jene Dinge, die ich Kunstschaffen nenne. Die Arbeit an meinen Texten zum Beispiel oder das absichtslose Appen von Bildern, Bloggen auch; alles also, was mit dem Ausdruck meiner ganz persönlichen Perspektive zu tun hat?

Fazit? Ich tue etwas, weil ich etwas verändern will – innen und außen. Weil ich die Welt zu einem besseren, schöneren Ort machen will. Ob es mir gelingt, weiß ich nicht, aber ich will es. Und so ähnlich sehe ich es übrigens auch mit der Arbeit. Nur um des Geldverdienens willen zu arbeiten, liegt mir nämlich gar nicht.

Könnte ich auswählen, was würde ich tun?
Und du?

Die Sache mit den Träumen

Frau Samtmut hat mich angesteckt. Obwohl … Ich habe ja schon immer gerne geträumt und das im Traum Erlebte aufgeschrieben, aber dass ich mir vorgenommen hätte, zu einem bestimmtes Thema oder Wort zu träumen, ist mir vorher nie eingefallen. Seit Frau Samtmut Wörter gesammelt hat, um sie in der Traumwelt zu beackern, stelle ich mir am Abend zuweilen vor, worüber ich träumen könnte.

Nun ja, zuweilen ist bisher nicht mehr als ein Vorsatz. Gemacht habe ich es ja erst einmal. Gestern. Im Fieberdelirium. Nach der Arbeit hätte ich eigentlich mit Freundin L. (1) thermalbaden gehen wollen − mein diesjähriges Geburstagsgeschenk von ihr, schon mehrmals verschoben − doch aus mir unerfindlichen Gründen konnte ich mein Auto − oder wohl mein “Selbst”, wenn wir das Wort wortwörtlich nehmen − nicht starten. Für Rad oder Zug war ich zu müde, zumal ich im Grunde total den sozialen Overflow hatte; und kalt war mir auch. Und heiß. Fieber ein wenig. Der Tag war intensiv gewesen. Neben etwa vierzig bis fünfzig Mails klingelte dauernd das Telefon (ich müsste mal zählen!) und ständig klopfe es an der Tür und alle mussten kurz, wollten schnell, möchten was … und nebenher hätte ich ja auch noch ein paar andere Dinge bearbeiten sollen. Eigentlich.

An so Tagen wie gestern, an so Abenden vor allem, bin ich davon überzeut, dass ich doch nicht zur fähigen Dienstleisterin tauge, für die ich mich bisher gehalten habe. Oder schon, aber anders. Weil ich immer alles gebe. Und danach bin ich leer. So leer, dass ich gestern, als das Auto nicht anspringen wollte, meiner Freundin absagte und mir ein heißes Bad einlaufen ließ. Traurig zwar das eine, herrlich dafür das andere.

Später, im Bett, Tatort “Vebrannt” gucken (empfehlenswert!). Früh das Licht löschen und als letztes an Samtmuts Traumexperimente denken. An Hallimasch, Emils Wortwunschbeitrag, und an den Knoten im Schlauch, den ich vorgeschlagen habe.

Dass ich danach einen so wunderbaren Traum träumen konnte, der mit einer alten, noch immer oft blutenden Wunde zu tun hat, überraschte mich. Im Traum war die Wunde, das Trauma, jedoch ungeschehen. Ich träumte, als wäre alles gut. Als wäre da nie ein Knoten gewesen. Im Schlauch. Auf dem ich noch immer viel zu oft stehe. Seltsam das.

Seltsam auch, dass das Auto heute wieder lief als wäre nichts gewesen. Eine Erweiterung meines Körpers, auf den ich gestern nicht hatte hören wollen?

[Und mein Scheff im Büro meinte sogar, er hätte mich abgeholt, wenn das Auto nicht gegangen wäre. Damit ich bei diesem Ekelwetter nicht hätte radeln müssen. Flott das!]

Frisch geschüttelt irgendwie

Das hab ich gestern Abend getwittert, nachdem ich schon etwa den fünften Abend in Folge inklusive Wochenende an der sehr schlecht geschriebenen hundertzwanzigseitigen Diplomarbeit eines Kunden als Lektorin gearbeitet habe. Normalerweise etwas, das ich gerne mache. Diesmal war es aber ziemlich schwierig. Es gab echt kaum einen Satz, den ich nicht irgendwie verbessern musste. Und waren es nicht einzelne Satzzeichen, die fehlten, oder Rechtschreibefehler, dann war es ein falsch eingesetztes Wort oder eine Redewendung, die weder hinten noch vorn in den Satz passte. Fast fühlte ich mich hinterher von all den Fehlern verwirrt und beschmutzt, so wie ein Hund, bevor er ein Seebad nimmt. Darum dieser Wunsch danach, mich schütteln zu wollen. Und nach Ruhe.

Mein Kunde ist ein Fachmann für ein Handwerk, ein Kunsthandwerk sogar, das ich nicht wirklich beherrsche. Und er hat diesen Text geschrieben, um im Leben weiterzukommen − wie man das halt so macht. Und er hat sich bestimmt extrem angestrengt für diesen Text. Und doch ist es ihm nicht wirklich gelungen, einen guten Text zu schreiben.

Nein, ich lästere hier nicht über schlechte Texte, keine Angst. Eher ist es inzwischen eine Art Staunen darüber, wie unterschiedlich begabt wir alle doch sind.

Was er kann, kann ich nicht.
Was ich kann, kann er nicht.
Und ich träume mal wieder von Tauschhandel.

Und doch bin ich froh, dass ich von ihm Bares bekomme. Fürs neue Auto brauche ich das. Und damit ich wieder mal ein paar tolle Fundraising-Projekte sponsern kann. Und den Bloggern für Flüchtlinge noch eine Batzen rüberschieben. Dies und das halt.

Ja doch, ich tue mich schwer mit Haben. Mein Reichtum ist meist immateriell.

Im Moment bin ich zum Beispiel reich an Vorfreude. Ab morgen habe ich Ferien. Zwei Wochen plus das kommende Wochenende.

Am Samstag und am Sonntag feiern wir ein kleines Fest auf Irgendlinks einsamem Gehöft − ein paar treue Followerinnen und Follower, die mit Irgendlink und mir virtuell mit geradelt sind. Mit Feuer, Wein und Bier, mit Geschichten und Bildern, mit Lachen und Schweigen. Menschen, die ich zur Hälfte erst virtuell kenne. Wie ich mich freue!

Diese Art Reichtum meine ich. Sie ist immer wieder ein Geschenk.
Danke, Leben!

Brücken finden

Gestern in der Schule, ich musste, obwohl es Samstag war, arbeiten, stellten unsere Musiklehrpersonen ihre Instrumente vor, die an unserer Schule unterrichtet werden. Vor allem Eltern mit Kindern waren unserer Einladung gefolgt, doch es kamen auch Menschen ohne Kinder. Alle schauten sie sich um und probierten in den verschiedenen Schulzimmern die Instrumente aus. Ich war zwar meistens am Tresen und schenkte Kaffee ein und aus, sagte den Leuten, wo sie was finden können und beantwortete Fragen, doch zwischendurch machte ich eine Photografierrunde für die Webseite. Dabei packte ich die Gelegenheit beim Schopf und probierte selbst das eine oder andere Instrument aus. Nein, falsch. Nicht das eine oder andere, sondern genau diese drei: Violine und Cello. Und Oboe. Die ersten beiden, weil ich als Kind immer davon geträumt hatte, Geige spielen zu können. Eine Schulkameradin war eine begnadete Violinistin und bezauberte uns, als Klasse, einmal mit ihrem herrlichen Vortrag. Genau so spielen, so virtuos und leidenschaftlich, ja, das wünschte ich mir – damals wie heute. Klavier war mein zweites Wunschinstrument gewesen, doch dafür – ebenso für Violine – hätte das Geld nie gereicht. Beim Klavier dazu auch der Platz nicht. Zwar bin ich in einem Einfamilienhaus groß geworden, doch die einzelnen Zimmer wären alle nicht groß genug gewesen für ein Klavier.

Violine also. Die Musiklehrerin nötigte mir liebevoll eine Violine auf, damit ich meinem Kindertraum endlich ein klein wenig näher kommen könne. Ich gehorchte gerne, wenn auch vorsichtig. Mit dem Bogen über die Saiten streichend erschrak ich zuerst über den hässlichen Ton, der dabei entstand. Ich hielt den Bogen noch zu zaghaft, strich noch mit zu wenig Druck über die Saiten, traute mir noch nicht zu, zu tönen. Doch als die Lehrerin meine Hand führte, klang es auf einmal schon sehr schön. Sie ließ mich den richtigen Druck spüren, erleben, kennenlernen. Ein echt tolles Gefühl war das, als nun wohltuende Töne in mein linkes Ohr flossen. Ja, Fließen ist das richtige Wort, das die Farbe, das Gefühl und die Bewegung dieser Töne beschreibt. Ich stellte bald fest, dass ich von der Körperhaltung her wohl eher nicht so die Violinespielerin sein würde, denn bald hatte ich den Krampf im linken Arm. Mein linkes Ohr, das Tinnitus-Ohr, war auch ein bisschen überfordert und sirrte gleich ein bisschen lauter als sonst vor sich hin.

Weil im gleichen Schulzimmer auch die Cellolehrerin untergebracht und ich nun ein klein bisschen mutiger geworden war – und ja nichts zu verlieren hatte –, wagte ich mich nun auch an dieses Instrument. Ich war begeistert, denn – vom Klang, von der Handhabung und vom Spielgefühl her – gefiel mir das Cello noch viel besser als mein Kindertrauminstrument Geige. Nun ja, spielen lernen könnte ich wohl auch Cello nicht wirklich, da ich meinem Musikgehör das nicht so recht zutraue. Wie wenig es nämlich braucht, um von einem Ton zum nächsten zu gelangen, stellte ich sehr bald fest, als ich auf den Saiten mit meinen Fingern die verschiedenen Töne zu finden versuchte. Mein zu wenig gutes Musikgehör war damals ja auch einer meiner Gründe, dass ich den Wunsch, Geige spielen zu lernen, aufgegeben hatte. Die Sicherheit, die Tasten, Klappen und Löcher, wie sie Klaviere und Blasinstrumente zur Definition von Tönen haben, geben, ist da schon eher meins. Auch die Bünde, wie bei der Gitarre, die ich ein bisschen klimpern kann, sind mir lieb. Die Freiheit eines Cellostegs würde mich überfordern. Vermutlich. Noch zumindest.

Später, zurück am Tresen, fragte ich ein kleines Mädchen, es war vielleicht sechs Jahre alt, welches Instrument es denn am liebsten spielen möchte. Es zögerte keine Sekunde und sagte: Klavier. Aber, dass ich es schon kann.

Seine Mutter und ich lächelten über diesen weisen Satz, in welchem wir uns selbst erkannten. Die Mutter selbst will Gesangsstunden nehmen, sich ihren alten Kindheitswunsch erfüllen. Gut so. Und ich, ich werde eine Probestunde auf der Oboe nehmen. Einfach mal schauen, wie das zu mir passt. Und weil mir der Gedanken, etwas angefangenes, obwohl es damals ja die Flöte gewesen ist, weiterzubringen, gefällt mir. Etwas zu lernen, etwas neues zu lernen, es weiterzuentwickeln, meine Grenzen auszuweiten – ja, das reizt mich. Und eben: zu üben; einen Weg zu gehen; mich auf einen Prozess einzulassen. Schülerin zu sein.

Den Weg des Übens scheuen wir ja oft. Wir wollen etwas, das uns gefällt, schon können, wie es das kleine Mädchen so wahr gesagt hat. Etwas nicht gut zu können, war wir gut können wollen, ist uns peinlich. Da kommen wieder diese alten Schamgefühle aus der Schule hoch, die die meisten von uns bestimmt auf die eine oder andere Weise kennen.

Rückschläge gehören zum Lernen dazu, ja, klar, das wissen wir, aber wir mögen sie trotzdem nicht. Und natürlich gibt es Talent. Wir haben Begabungen, wir haben Begabungen erworben, entwickelt, per Geburt vielleicht  mitbekommen. Dennoch lernen wir immer auch ein Handwerk, wenn wir eine Kunst erlernen. Und das heißt eben auch üben. Ob nun beim Spielen eines Instrumentes, beim Schreiben, beim Malen, beim Bauen von Mauern, beim Schneiden von Bäumen, beim Pflegen alter Menschen, beim Unterrichten von Kindern, beim Mehren von PC-Wissen: immer ist lernen üben. Fehler machen und scheitern inklusive. Weitergehen.

Vielleicht mag ich meine neue Arbeitsstelle deshalb so gerne, weil ich hier etwas aus meiner Kindheit wiederfinde? Diese Freude am Lernen nämlich. Unsere Schülerinnen und Schüler haben die Möglichkeit, sich mit Musik ausdrücken zu lernen. Wir geben ihnen die Möglichkeit, ein Werkzeug kennenzulernen, mit dem sie sich ausdrücken können.

Die Möglichkeit, uns mit jenem Medium, das uns entspricht, auszudrücken, ist etwas vom heilsamsten, was es für uns Menschen gibt. Wir können uns so, beim Anwenden unseres Mittels, nahe kommen, nahe sein. Auch schon, während wir unser Medium kennen und anwenden lernen. Wir ermöglichen uns so ein zufriedeneres Leben als ohne dieses Medium.

Sinn im Leben finden heißt womöglich also auch, mein Medium zu finden, meine Brücke, meinen Schlüssel, der mir hilft, das Leben aufzunehmen, zu verstehen versuchen und es auf meine Weise auszudrücken?

Ich wundere mich

Kurz vor neun Uhr betrete ich das Schulhaus, das jetzt meins ist (mein Arbeitsplatz zumindest, mein neuer) und fühle mich wohl. Vertraut. Auf die Art, die nicht klemmt und leiert.

Das Lächeln jener Raumpflegerin, der ich mich am ersten Einarbeitungstag mit Vornamen vorgestellt habe, umfängt und empfängt mich warm. Ihr eher kantiges, abgehärmtes Gesicht, wird weich und leuchtet, als sie mich sieht. Ihr Lächeln erreicht nicht nur ihre Mundwinkel, es erreicht auch meine Zehenspitzen. Auch die andern vom Schulhaus-Putzteam, das die Schulferien für einen Grundputz nutzt, grüßen mich lächelnd. Zwei jobbende Schülerinnen, der junge Schulhausabwart, ein zweiter Angestellter und zwei Raumpflegerinnen kann ich ausmachen. Sie hören laut Musik. Mir egal, denn ich kann einfach die Türe zumachen und habe Ruhe.

Wie eine Königin setze ich mich auf meinen bequemen Bürostuhl und starte den Rechner.

Ich wundere mich, wie leicht mir das frühe Aufstehen in dieser neuen Lebensphase fällt. Nun ja, halb acht ist human.
Ich wundere mich, dass ich so fit bin. Und gut schlafen kann. Und keine Panikattacken mehr habe.
Ich wundere mich, wie wohl ich mich fühle, so wohl wie bei meiner letzten Arbeitsstelle weder am Anfang, noch mittendrin noch am Schluss, und ich bin einfach nur froh, dass ich dort gekündigt habe. Kein Vergleich dazu wie gut es mir jetzt geht.

Ich öffne das Mailprogramm und stelle fest, dass ich mich erst mal wieder an Outlook gewöhnen muss, ich Opensourcerin ich. Alles auf dem Rechner, außer das Betriebssystem, ist auf dem Mist meiner Vorgängerin gewachsen. Es ist, als würde ich in ihren, als würde ich in einen fremden Kopf hineingucken. Die Dateienstruktur ist zwar im Großen und Ganzen nachvollziehbar, aber die Ablage wenig konsequent und längst nicht so logisch wie die Idee, die ich dahinter ahne. Die Herausforderung an mich besteht nun darin, dass ich parallel die einzelnen Arbeitsabläufe meiner neuen Aufgaben kennenlernen sollte, aber, bevor ich mich an die verqueren von ihr gelegten Spuren allzu sehr gewöhne, neue Strukturen einführe. Nicht altes übernehmen, sondern erneuern, ist unser erklärtes Ziel. Vom Scheff und von mir.

Zumal ich – sagen wir es offen – ein wirklich exorbitantes Chaos erben durfte (siehe auch hier). Die Entflechtung zweier Sekretariate – welche meine Vorgängerin hätte bewerkstelligen sollen, um meiner Kollegin und mir die Einarbeitung möchlichst leicht zu machen – findet erst jetzt statt. In den Schubladen, in den Schränken und auf der Festplatte ist noch alles beim Alten. Alles, was ich in die Hand nehme, um mir einen besseren Überblick zu verschaffen und Dinge zu finden, zieht einen Rattenschwanz von vorher zu lösenden Aufgaben nach sich. Wie im Märchen muss ich drei Rätsel lösen und so fange ich einfach mal irgendwo an. Ich reinige auch den Raum energetisch, mache ihn bereit für mich und für eine neue Zeit.

Für eine zweistündige Sitzung fahre ich um zehn Uhr ins Nachbardorf, wo unsere Musikschule ebenfalls Unterricht anbietet. Und wo der Scheff sein Büro hat. Wir besprechen die wichtigsten ToDos von heute und morgen und später holen wir auf der Gemeinde meinen neuen Büroschlüssel für das Schulhaus hier. Bei dieser Gelegenheit lerne ich gleich ein paar neue Ansprechpersonen kennen. Alle total nett.

Später kommt noch ein Kommissionsmitglied, der meine Ansprechperson in Bezug auf die Webseite der Schule sein wird. Ich frage ihn nach dem verwendeten Web-Programm und er sagt, dass die Seite zurzeit auf WordPress umgebaut werde. Ich bekomme große Augen.
Das kenne ich, sage ich, das unterrichte ich sogar. Nun bekommt er große Augen.
Was für ein Glück, sagt er, dann brauchst du ja kaum Einführung.

Noch so ein Zufall ist, dass meine private und meine neue geschäftliche Telefonnummer bis auf die drei Ziffern mittendrin, die für den Ort stehen, identisch sind. Das hatte ich wirklich noch nie.

Ich fahre ins Büro zurück, esse mein Picknick und räume weiter auf. Schritt für Schritt.

Auf meiner Mausmatte steht, dass wir dem Zufall vieles verdanken. Ob es wirklich Zufälle gibt? Mich dünkt fast, als hätte ich diese neue Arbeitsstelle selbst erfunden. Oder mir erzaubert? Oder erschrieben?

Wer weiß, vielleicht bin ich ja nur eine Romanfigur. Und nun endlich im richtigen Buch gelandet? In einem mit lächelnden Raumpflegerinnen und glücklichen Menschen.

Das echte Leben. Und du so?

Wäre sie die Figur in einem Film, würde ihre Rolle von jeder Filmkritikerin in der Luft zerrissen. Zu klischeehaft. Zu vorhersehbar. Zu … Schreibt jedoch das Leben selbst das Drehbuch, kommen dabei Figuren heraus, die man sich so nicht auszudenken trauen würde. Nicht als Drehbuchautorin, nicht als Plotlieferantin. Nie und nicht. Wie sich Herrchen und Frauchen im Laufe eines Lebens einander angleichen, ähm an ihre Hundchen meinte ich natürlich, so gleichen sich wohl auch Menschen im Laufe der Zeit an ihre Berufe, an ihre Arbeitsstellen an.* Und nun wird also ihre große Stelle entflochten und auf zwei Menschen verteilt. Und sie wird nach dreizehn Jahren eine neue Arbeitsstelle antreten.

Fakt ist, dass meine Stellenvorgängerin – hm, nun ja … nein, ich frage andersrum: Wie stellt ihr euch eine klassische, alle gängige Klischees bedienende Sekretärin an einer Schule vor? Ja, genau so ist sie. Nein, sie ist mir nicht wirklich unsympathisch, aber ich glaube, ich bin einfach froh, dass ich nicht mir ihr zusammenarbeiten muss. Nicht nur aber auch, weil wir ziemlich diametrale Ansichten zu so ziemlich allem haben.

Schicker, vermutlich auf Schlankmachung angelegter Schlabberschichtenlook, angetan mit lauten Klapperschuhen an den Füßen, die den hellhörigen Schulfluren noch genau das fehlende Etwas verleihen, das ich so was von überhaupt nicht ab kann (mit Klapperschuhen könnte man mich foltern: ich würde alles zugeben, sogar meine Unschuld). Außerdem ist sie unschlagbar genial organisiert (aus ihrer Perspektive), respektive ziemlich chaotisch im Vorgehen (aus meiner Perspektive), dazu sprunghaft, sehr leicht ablenkbar … Nun ja (bin ich ja selbst auch …).

Die einen reden über jene, der hat das, und die dies gesagt …

Ja, zugegeben, der neue Scheff hat mich vor ihr gewarnt. Doch halt, müsste mich dann nicht – genau genommen – auch jemand vor ihm warnen?

Wem soll ich vertrauen, zumal es deutlich zu fühlen ist, dass er die andere neue Sekretärin, die mir sehr sympathisch ist, ein bisschen zu tough findet? Und verdammt, wie kann ich mich vor Tratsch fernhalten, vor Tratsch und Klatsch, der nun wirklich niemandem dient? Sag es laut: NIEMANDEM!

Morgen um acht geht’s weiter mit der Stellenübergabe. Gut, dass ich bei so frühem Arbeitsbeginn nur eine knappe Viertelstunde Arbeitsweg habe. Und zum Glück ist so früh die Ausnahme.
Und nein, eingearbeitet bin ich morgen Abend natürlich noch lange nicht, doch vieles wird ja eh neu angedacht. Und wir haben Zeit. Stress ist vorläufig keiner zu erwarten. Dennoch jammern bereits die ersten Lehrpersonen, weil nachher alles anders wird. Alles. Anders.

Nein, ich nehme das nicht persönlich. Ich kenne uns Menschen. Wie wir es lieben, wenn das Frauchen zum Herrchen passt. Und zum Hundchen. Und zum Schreibtisch und zu den Vorhängen; und zu den Vorgängen auch noch. Niemand mag Wechsel. Alles soll einfach immer rund laufen. Funktionieren.

Das war mein Tag, Liebling. Danke gut, und du so? 😉

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(* Notiz an mich: Wie müsste ich dann sein, aussehen, mich verhalten, als pädagogisch ausgebildete Buchhändlerin-Betreuerin-kauffrauisch Angestellte? Oder ist das womöglich zu viel des Guten und ich darum unpassend für gängige Schubladen?)

Die lange Bank

Vor drei Jahren war ich zum ersten Mal in Rendsburg. Auf dem Weg nach Skandinavien hatten wir dort zwei Nächte in einem kleinen Bed & Pizza gebucht, wie uns Freunde sehr ans Herz gelegt hatte. Die längste Bank der Welt: ich hätte nicht geglaubt, dass sie sooo lang ist.

Schweden11_langeBankIm letzten Jahr wurde meine eigene lange Bank vielleicht noch länger als jene in Rendsburg. Vieles blieb unfertig, stapelte sich, dehnte sich aus …
Das mach ich später irgendwann!, ist wohl jener Satz, den ich im letzten Jahr am häufigsten gedacht und gemurmelt habe, wenn mir die Energie fehlte, Dinge, die nicht wirklich dringend waren, zu erledigen. Herzanliegen zum Teil, für die mir einfach die Kraft nicht zur Verfügung stand.

Meine Arbeitsstelle mit dem langen Arbeitsweg wurde zuweilen so belastend, dass ich am Abend halbtot war. Knapp reichte es zum Filme gucken. Bücher lesen. Schlecht schlafen war die Regel.

Gestern nun hatte ich meinen „Letzten“ und feierte ihn mit meinen Arbeitskolleginnen und -kollegen bei einem ausgiebigen Znüni. Unsere Chefin hielt eine kleine Ansprache, lobte meinen Einsatz, dankte mir und überreichte mir einen echt wunderbaren Blumenstrauß. 20140619-164005-60005536.jpgUnd als wäre das nicht genug, bekam ich ein Taschenbuch, von dem mir eine Arbeitskollegin mal vorgeschwärmt und mich sehr interessiert hatte und ein wunderschönes von allen gemeinsam gestaltetes Album mit persönlichen Lieblingsbüchern und Buchtipps – inklusive großzügigem Büchergutschein. Auf dass ich noch viele schöne Lesestunden genießen darf.

Nun fühle ich mich ein klein bisschen wie auferstanden, aus einer langen Haftstrafe entlassen; so, als wäre eine Tür aufgegangen, die ein Jahr lang geklemmt hatte …

Der Rest meines Lebens fängt jetzt an. Jetzt. Und jetzt endlich will ich meine lange Bank kürzer sägen. In dem ich aufräume zum Beispiel. Ich fange mit den Textleichen an. Fasse Notizen zusammen. Sichte, archiviere, lösche, teile, blogge …

Hier mal paar erste kleine Puzzleteilchen.

Darf man die Baustelle sehen, das Making-of, den Prozess, bevor etwas veröffentlicht wird? Muss etwas, das veröffentlicht ist, perfekt sein? Ist es eine Abwertung der eigenen Kunst, wenn man hin und wieder den Vorhang öffnet? Fluxus – sag ich nur. Kunst leben. Schwach-sein-dürfen. Mut zeigen zum Unperfekten. Fehler machen dürfen. (4.14) 

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Es gab Pizza, als sie begriff, dass alle jemanden brauchen, der sie liebt und an sie glaubt. Zumindest so lange, bis wir es selbst können. Denn das ist eins von ein paar Notwendigkeiten des Lebens. Dass wir uns selbst lieben, ganz und gar. Auf dass es der Welt ein bisschen besser gehe, als wenn wir es nicht tun. (21.5.11)

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Wunde Wunder, die wir sind, wissen wir um die Verwundbarkeit. Von den dünnen Stellen, aus denen ein Mensch gemacht ist und die ihn lebenslang anfällig sein lassen für dauerhafte Beschädigungen aller Art; berührbar, zugleich empfindlich, empfänglich für wie auch immer geartetes Glück. Doch wir hüten unser Geheimnis gut. (4.14)

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Heute bin ich eine Scherbe …(28.9.11)

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Lebst du das Leben, das du leben willst?
Nein, noch nicht, sage ich, noch nicht. Erst ansatzweise.
Der Vogel fragt weiter:
Wann lebst du denn endlich das Leben, das du leben willst? Ich zucke mit den Schultern, so fest, dass er fast herunterpurzelt, der Piepmatz. Aber nur fast, zum Glück, denn er soll nicht aufhören mit seinen Fragen. (20.12.11)

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Lob des Kleingeistigen – Wie gerne hätte ich manchmal ein einfacheres Gemüt … (12. 12.11)

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Gestern im Auto zurück in die Schweiz und heute im Zug zur Arbeit über Wichtiges nachgedacht. Heißt, über die Dinge, die im Leben wichtig sind. Dass jeder Mensch geliebt und wertgeschätzt zu werden braucht, sonst serbelt er dahin und verdorrt wie eine Topfpflanze ohne Wasser. Ein Mensch, der geliebt wird, lebt und handelt anders als einer, der nicht geliebt wird. Wenn wir niemandem haben, der uns liebt, fällt uns die Selbstliebe schwerer als wenn uns andere Menschen lieben. Doch ist es letztlich die Liebe zu uns selbst, die uns Frieden mit uns und mit unserer Mitwelt gibt. Nur, wenn wir uns selbst möglichst umfassend lieben, sind wir frei vom Denken und Urteilen anderer über uns. (11.6.14)

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Sauber machen
kann sie
gut, sie putzt
als ginge es um ihr Leben.
Die ganze Welt
möchte sie putzen. Damit
sie sauber wäre.
Endlich. Ein Ort
zum Leben.
(24.11.13)

Tagesstruktur

Eieiei
Eieiei – klick mich an und mach mich groß

Bei mir drehen sich die meisten Reizwörter (wer keine hat, werfe den ersten Satz!), die mit Reizwäsche so viel gemeinsam haben wie ein Elefant mit Tanzschuhen, um die Themen Erfolg im Beruf, Karriere und gesellschaftskonforme oder -kompatible Lebenszeitgestaltung.

Denn sagen wir es mal so: die meisten westlich formatierten Menschen würden wohl das Leben, das ich lebe, als gescheitert betrachten. Zum Beispiel habe ich damals keinen akademischen Weg Laufbahn eingeschlagen, obwohl ich gekonnt hätte. Ich habe stattdessen mehrere unterschiedliche Berufe gelernt und je ein paar Jahre auf ihnen und in verwandten Gefilden gearbeitet, aber irgendwann hatte ich in allen Jobs – so gut sie auch waren – genug gesehen und zog weiter, statt mich auf etwas zu spezialisieren, mich weiterzubilden und höher zu klettern. Getrieben einzig und immer wieder von der Sehnsucht nach so etwas wie Berufung im Beruf.

Seit fünfundzwanzig Jahren bringe ich mich mit Teilzeitjobs oder als Selbständige durch, wenn auch manchmal eher schlecht als recht, doch war mir Zeit von jeher wichtiger als viel Geld auf dem Konto. Grüne Zweige sehe ich vor allem im Wald. Ich brauche meine Lebenszeit für meine kreativen Projekte, für andere Menschen, für mich, fürs Lesen, fürs Nichtstun und um aufzutanken.

Okay, fragst du dich, schön und gut, aber was hat das alles mit Reizwörtern zu tun? Tja, ich habe es wirklich nicht so mit den allgemein verbreiteten Werten unserer Gesellschaft, viele dieser Wörter wie Erfolg und Tagesstruktur jucken auf meiner Haut, reizen mich. Ich bewerte gewisse Wörter, ihre Inhalte, ihre Bedeutung, wohl einfach anders. Erfolg zum Beispiel ist für mich etwas anderes als für meine Arbeitskolleginnen. Für sie ist Erfolg, wenn ein Stellenloser, der bei uns zur Beratung kommt, einen Praktikumsplatz und später eine neue Arbeitsstelle findet und so wieder eine Tagesstruktur erhält. Fakt ist, dass Leute, die lange arbeitslos sind, es schwerer haben, wieder eine Stelle zu finden. Sie werden weniger gerne angestellt, weil sie oft über längere Zeit keine (staatlich nachvollziehbare) Tagesstruktur mehr gehabt haben. [Sie sind nicht mehr so einfach handzuhaben vielleicht. Verwildert?]

Tagesstruktur. Das ist eins dieser vielen Wörter, die sich einfach so in den deutschen Sprachgebrauch geschlichen haben. Wird jemand arbeitslos, bedauert man ihn nicht in erster Linie für den Lohnausfall, sondern für den Verlust seiner Tagesstruktur. Las ich heute in der Tageszeitung. Und ich glaube, es stimmt, denn viele Stellenlose, die ich am Telefon hatte, jammern darüber, dass ihnen das Dach auf den Kopf falle, wenn sie immer nur zu Hause sitzen müssen. Sie wollen arbeiten gehen, sie fühlen sich wertlos so ganz ohne Arbeit.

Und da, genau da, stößt es mir auf: Kann es denn sein, dass wir Menschen uns a.) derart ausschließlich über unsere Arbeit definieren, die wir außer Haus und gegen Bezahlung verrichten, und b.) nichts mit unserer Zeit anfangen können außer panisch Daumen zu drehen, sobald man uns keine Arbeit in die Hände drückt und dann dieses Tätigkeit als unsere Tagesstruktur definiert?

Gut, als wir noch alle Jägerinnen, Bauern, Schreinerinnen und Bäcker waren, sah es diesbezüglich anders aus. Da wurde das verkauft, getauscht oder gegessen, was unsere Hände kreiert hatten. Unsere Arbeit war unmittelbar nachvollziehbar. Ursache und Wirkung.

Heute ist Arbeit ganz oft eine abstrakte Größe, die in erster Linie unsern Tag strukturiert, in Felder unterteilt, die im Kalender als ganztägige Beschäftigung aufgeführt werden. In zweiter Linie hält die Arbeit unsern Kontostand über Null. Abstrakt, wie gesagt.

Reizwort Tagesstruktur. Besser noch Reizinhalt Tagesstruktur. Es fängt ja schon im Kindergarten an. Die Kinder brauchen Tagesstruktur, später die Angestellten und die Stellensuchenden und im Altersheim gibt’s um vier Uhr Tee und um fünf wird gesungen, nachdem morgens um zehn Gymnastik war und um elf Stricken im Gemeinschaftsraum. Jede Minute wird gefüllt. Bloß keine Lücken!

Ich brauche keine vorgegebene Tagesstruktur!, sagte ich vor Jahren zu meinem Berater auf dem Arbeitsamt, als er mich in ein Programm packen wollte, wo ich eine solche bekommen würde. Noch heute bin ich stolz auf meine Schlagfertigkeit. Obwohl – es war nicht eigentlich eine schlagfertige Antwort, sondern die Wahrheit. Meine Wahrheit.

Ja, ich schaffe mir meine Struktur gerne selbst: Wenn ich kann, wie ich will, schlafe ich viel und arbeite vor allem nachmittags, abends und nachts. Ja, ich arbeite gerne an meinen Projekten, künstlerische oder handwerkliche. Ich arbeite auch gerne an KundInnenaufträgen. Und ich nehme mir Zeit für Pausen. Sie sind die not-wendigen Lücken zwischen den Worten.

Ohnelückewärediesertextziemlichschwerzulesen, darum mache ich jetzt sofort wieder Leerschläge.

[Und jetzt?
Jetzt ist es 17 Uhr.
Feierabend im Büro.
Mittwochabend.
Der Auftakt meines Pfingst-Wochenendes.
Ich Glückspilzin.
Tschüss Büro.]

© für Text und Bild: Sofasophia | 4. Juni 2014

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Appspressionismus: Bild von A-Z auf dem iPhone kreiert.

Hinterher

Endlich habe ich mal wieder einige unformatierte und unverplante Tage mit mir vor mir. Ja, ich bin mir wieder hinterher. Bin mir wieder auf der Spur. Finde langsam wieder zu meinem Rhythmus und meiner Ordnung zurück. Die Dinge fallen auf ihren Platz. Da, wo ich sie finde (meistens jedenfalls). Nicht dass die beiden letzten Wochenenden auf dem einsamen Gehöft irgendwie formatiert, unordentlich oder ohne Rhythmus gewesen wären, nein, dennoch sind sie voller gemeinsamer Unternehmungen, voller gemeinsamer Pausen, voller gemeinsamer Bewegungen und Entscheidungen. Es sind die Wellen des Wir, nicht des Ich, die diese Tage formen. Doch unsere gemeinsamen Tage und Stunden sind mir zu kostbar, um sie mit Bürokram, Wäschewaschen oder Putzen anzufüllen. Segen und Fluch von Fernbeziehungen. Geteilte Zeit schmeckt und riecht anders als persönliche. Die gemeinsame Farbe ist anders als die eigene, anders als seine. Es ist unsere Farbe.

Und nun habe ich also vier Tage für mich. Für Dinge, die ja doch eines Tages getan werden müssen. Für Dinge, die im westlichen Alltag normal sind. Zahlungen. Bürokram. Steuererklärung. Normaler Alltag also.

Normal? Du? Du bist doch nicht normal!, sagte unser Freund S. aus Paris am Ostersamstag, als wir zu sechst nach einem Waldspaziergang in einer Wanderhütte rasteten. Sonst wärst du nicht mit dem da zusammen, lacht er und deutet auf Irgendlink, der mir gegenüber sitzt. Und er nicht mit dir! Wir lachten, doch eigentlich war es kein Scherz, nein.

Es war und ist für mich nur eine weitere Bestätigung dafür, warum ich mich in meiner aktuellen beruflichen Umgebung so unwohl fühle. Und das hat noch nicht mal ausschließlich damit zu tun, dass ich mit den Leuten – selbst nach zehn Monaten – nicht wirklich warm geworden bin (eine fast neue Erfahrung für mich). Es hängt, wie ich erst vor kurzem begriffen habe, vor allem mit dem Inhalt und Ziel unserer Arbeit zusammen. Wir vermitteln Stellensuchenden temporäre Arbeitseinsätze oder Praktika und bieten ihnen Bewerbungsschulung an. Ziel ist, dass die Programmteilnehmenden nach unserer Arbeitsmarktlichen Maßnahme wieder fit für den Arbeitsmarkt sind. Fakt aber ist, dass unser Klientel in den letzten Jahren „komplizierter“ und zeitaufwändiger geworden ist. Es gibt, so sagen die BeraterInnen, immer mehr Menschen, die nicht mehr irgendwo hineinpassen, die aus dem Netz herausgefallen und die psychisch am Limit sind. Oder zu alt, zu ungebildet, zu ausländisch getauft, zu wenig sprachgewandt …

Zwei Dinge stoßen mir dabei immer wieder auf. Das eine ist eher eine globale oder westliche Entwicklung, die mir je länger je mehr missfällt: Die Standards für Berufe und Berufsausbildungen sind anspruchsvoller geworden. Kaum ein Berufsbild, das sich nicht gewaltig verändert hätte und früher Ausgebildete alt aussehen lässt. Diplome, Zeugnisse, Weiterbildungen und Titel sind alles. Dazu können die Vorgesetzten auswählen und nehmen natürlich Junge mit dreißig Jahren Erfahrung, die noch formbar sind. Und ja, trotz Mindestlöhnen gibt es auch in der Schweiz die Schere von billigen und teuren Arbeitskräften. Der Druck ist enorm. Das halten nicht alle aus. Human geht anders. Und ich bin Teil dieser Maschinerie … Und da wären wir auch schon beim zweiten Ding, das mich rülpsen lässt. Ich stelle fest, dass ich nicht in eine Umgebung passe, die einer Norm huldigt, die da sagt, dass ein Mensch nur wertvoll sei, wenn er arbeite. Soll heißen, wenn er eine feste Stelle hat. Wenn er ein geregeltes Einkommen hat. Wenn er angepasst, normal (!), kompatibel und nett ist.

Ich weiß wovon ich rede, denn ich war schon ein paar Mal als Stellensuchende unterwegs.  Ich war eine von ihnen sozusagen. Nicht lustig. Ich fühlte mich oft als Mensch zweiter Klasse. Obwohl, das ist natürlich auch meins: Es sitzt im Kopf, dieses Bild, dass Arbeit eine Art Synonym für Lebenssinn ist.

Bin ich also ein fauler Mensch? [Wohl schon. Ja gerne. Warum auch nicht?] Bin ich faul, weil ich Erholung und Regeneration mindestens so wichtig wie Arbeit finde? Und weil ich am liebsten jene Arbeiten tue, die ich am liebsten mache und am besten kann? Ja, ich arbeite gerne. Ich arbeite gerne an Projekten und mit Dingen, die das Leben lebenswerter machen. Schreiben. Garten. Putzen. Lektorieren. Dabei geht es mir um Werte. Um meine persönlichem Werte. Ich ahne eine Art Lebensrecht, das wohl nirgends definiert oder beschrieben ist … ein Lebensrecht auf jene Arbeit, die mir am meisten entspricht. Die jedem und jeder entspricht. Dir und dir auch.

Doch unsere Realität sieht anders aus. Viele von uns arbeiten primär für das Geld, das sie als Gegenwert für die investierte Zeit erhalten. Wir arbeiten nicht für die Befriedigung eines Tagwerks nach unserm Geschmack. Da stimmt doch was nicht in unsern Köpfen? Mit unserer Welt. Mit unsern Motivationen. (Und was ist das eigentlich für eine Welt, in der Gutmensch ein Böswort ist?)

Schnitt.

Wie es wohl sein wird, wenn ich ab Mitte Juni wieder frei bin? Gekündigt habe ich schon vor Wochen. Seither geht es mir viel besser. Die mühsame Zugfahrt zur Arbeit stresst mich ein bisschen weniger, denn ich weiß, dass meine Tage dort gezählt sind (nur noch etwa zwölf!).

Und dann? Ja, natürlich habe ich ein wenig Angst, denn meine Selbständigkeit ist noch nicht wirklich soo selbständig, dass ich davon leben könnte. Aber das kann ja noch werden, oder?

Was ich wirklich will? Von meinem Schreiben und Lektorieren und den andern Dingen, die ich anbiete, leben können. Ja. Das will ich.

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Appspressionismus: Bilder auf dem iPhone kreiert und mit Gimp verkleinert und wassergezeichnet.