Es war etwa vier Jahre nach dem Tod meines Sohnes. Ich hatte wieder eine Arbeitsstelle gefunden, war Teil eines sehr engagierten Teams geworden, das einer Wohngruppe mit Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung einen anregenden und auf ihre persönlichen Bedürfnisse ausgerichteten Lebensraum ermöglichte. Wir begleiteten unsere Leute durch den Alltag. Wecken, Duschen, Frühstücken, in die Ateliers begleiten. Und auch am Nachmittag, wenn sie von der Arbeit zurück in die Wohngruppe kamen, waren wir für sie da. Spielen, Abendessen kochen, Lieblingsfilme gucken, Zähneputzen, Schlaflieder singen …
Mit der Nachtbetreuung wechselten wir uns ab. Kaum jemand mochte diese Nächte, die oft sehr unruhig waren. Eine Bewohnerin mussten wir jeweils nachts wecken und aufs Klo begleiten, damit sie nicht ins Bett pinkelte, während ein Bewohner nachts selbst auf Klo tappte. Doch zuweilen fand er den Rückweg in sein Zimmer nicht und landete bei einer der Bewohnerinnen, was diese eher nicht so toll fand. Kurz: An Tiefschlaf war nicht zu denken und die Tür des Betreuer*innenzimmers musste immer einen Spalt aufbleiben, damit wir nichts verpassten.
Alle hatten wir unsere Bezugsperson, für die wir innerhalb der Gruppe ein bisschen mehr als alle anderen verantwortlich waren. Das betraf neben Familienkontakten auch Gesundheitliches, Ärztinbesuche, Kleiderkauf uns so weiter. Meine Bezugsperson war Rosa, die in Wirklichkeit anders hieß. Rosa war eine kleine Frau um die sechzig mit Downsyndrom und schrägem Humor. Wenn sie lachte, blieb kein Auge trocken.
Sie war nicht mehr so gut zu Fuß, doch alle nahmen auf ihr Schneckentempo Rücksicht, wenn wir an Sonntagen Ausflüge machten. Überhaupt: Rosa war sehr beliebt. Als sie nach und nach immer vergesslicher, immer dementer wurde, fragten die anderen Bewohner*innen, auch jene aus anderen Wohngruppen, oft nach ihr und besuchten sie. Schließlich wurde es Zeit für den Rollstuhl und damit für uns als Betreuende höchste Zeit für einen Kurs in Kinästhetik. Wie schaffe ich es, einen Menschen mit wenig Muskeltonus ohne mir den Rücken kaputt zu machen, vom Bett in den Rollstuhl zu setzen und wieder zurück? Ein hausinterner Kurs, der uns allen viel mehr als nur technische Anleitungen bot.
Rosa baute nach und nach ab, sie redete weniger, lachte weniger und erzählte, wenn sie es denn tat, oft von ihrer Mutter, die auf sie warte. Mama, ich komme!, sagte sie dann oft und dann lachte sie über das ganze Gesicht.
Eines Tages, ich hatte frei, musste sie ins Krankenhaus, wo ich sie dann am nächsten Tag besuchte. Dort sagte Rosa mir, sie wolle nach Hause. Unklar war, ob dieses Zuhause unser Heim war, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte oder ihr Kindheitszuhause mit Mutter und Restfamilie – oder meinte sie sogar der Himmel, wo ihre Mutter auf sie wartete?
Ich besprach Rosas Anliegen mit meiner Chefin und schließlich auch mit dem Team. Waren wir in der Lage, Rosa palliativ zu begleiten – technisch ebenso wie emotional? Inzwischen war Rosa nämlich bettlägerig geworden, hatte einen Blasenkatheder und brauchte eine Dekubitusmatratze, um Liegeschäden entgegenzuwirken. Außerdem nahm sie nur noch flüssige Nahrung zu sich, alles andere verweigerte sie. Kurz: Es ging um ihre letzten Wochen. Waren wir als Team dazu bereit, als nicht ausgebildete Betreuer*innen solche intensive Körperpflege zu leisten? Ganzkörperwaschungen, Kathederwechseln, Umlagern, Füttern.
Chefin und Team waren sich einig: Ja, wir wollen das! Und so holten wir Rosa nach Hause. Da niemand von uns Erfahrung in dieser Art von Pflege hatte, brauchten wir Starthilfe. Ich meine mich zu erinnern, dass uns am Anfang eine Pflegefachfrau anleitete. Sie zeigte uns auch den Umgang mit Morphintropfen, die Rosa beim Loslassen helfen sollten – und ihre Schmerzen linderten. Irgendwann trauten wir uns diese Pflegearbeit selbst zu. Ich war hauptverantwortlich. Ich gestehe, dass ich mir im Voraus nie hätte vorstellen können, so eine körperlich nahe Betreuungs- und Pflegearbeit verrichten zu können. Und dabei keine Ekel zu empfinden. Im Gegenteil. Ich mochte diese ruhige Viertelstunde am Morgen und am Abend, die ich ausschließlich mit Rosa verbringen durfte.
Wieder lag also eins meiner ‚Kinder‘ im Sterben. Diesmal jedoch durfte ich es begleiten. Diesmal durfte ich langsam Abschied nehmen. Anders als bei meinem kleinen Sohn, der viel zu jung und viel zu krass aus dem Leben geschieden war, hatte ich hier Zeit, mich auf den nahenden Verlust einzustellen.
Es war ein Sonntagnachmittag und ich hatte frei, als mich meine Chefin anrief. Rosa sei gestorben. Sofort setzte ich mich aufs Rad und fuhr ins Heim. Meine Chefin hatte die ganze Nacht und den ganzen Tag bei Rosa verbracht. Ihr die Hand gehalten. Ihr die trockenen Lippen benetzt. Und als sie schließlich starb, das Fenster geöffnet, um ihre Seele freizulassen.
Wir weinten zusammen und ich nahm von Rosa Abschied. Auch die anderen Bewohner*innen und die anwesenden Teamleute betraten zum Abschiednehmen das Zimmer, wo Rosa leise lächelnd in ihrem Bett lag, so als würde sie schlafen.
Später kam die Bestatterin. Wir schauten uns an und sofort erinnerten wir uns. Es war die Bestatterin, die damals meinen Sohn beigesetzt hatte. Ich weiß nicht, wie viele Bestattungsunternehmen Bern damals hatte, aber es waren schon damals sehr viele. Was für ein krasser Zufall, dass meine Chefin genau diese Bestatterin ausgewählt hatte!
Die überaus sozialkompetente, freundliche Bestatterin und ich hatten damals einige Male telefoniert, uns dabei auch über Persönliches ausgetauscht und sie hatte mir nach der Beerdigung meines Sohnes versichert, noch nicht an einer schöneren dabei gewesen zu sein. Und nun standen wir uns also wieder persönlich gegenüber, denn wieder war eins meiner ‚Kinder‘ gestorben. Ein sehr berührendes Wiedersehen war das!
Ich sehe den Sarg vor mir und Rosa, wie sie hineingelegt wird. Nochmals nehme ich Abschied von ihr und ich weiß Rosa in guten Händen. Später ist fast das ganze Heim dabei, als wir sie beerdigen.
Alle, die wollen, dürfen sich in diesen Tagen etwas aus Rosas Zimmer auslesen. Die Schürze, die sie einst im Kunstatelier bedruckt hat, trage ich noch heute mit Dankbarkeit für diese kleine Frau mit dem großen Humor und der ansteckendsten Lache, die ich je gehört habe.
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Mit diesen geballten Erinnerungen bin ich heute Morgen aufgewacht. Keine Ahnung, was sie geweckt und ausgelöst hat. Es sind Erinnerungen, die mich jetzt, beim Aufschreiben, sehr berühren. Ein Kreis hatte sich geschlossen. Ein bisschen mehr Frieden war mir zugewachsen.